Was lehrt Sitzenbleiben?

Der erneuten Diskussion um das Sitzenbleiben, die sich an der Ankündigung Niedersachsens, künftig ohne Klassenwiederholung auszukommen, entzündet, sollen einige Überlegungen entgegengehalten werden. Eine sachliche, am Wohl der Schüler orientierte Auseinandersetzung sollte von den Fakten, nicht von ideologischen Schönfärbereien ohne Realitätsbezug ausgehen. Derzeit wiederholen bundesweit ca. 2% der Schüler eine Klasse, davon signifikant mehr Jungen.

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Die Aufgabe der Schule

Schule hat in erster Linie die Aufgabe, den Schülern ein Wissensfundament für ihren späteren Beruf zu vermitteln und ihre Persönlichkeit so auszubilden, dass sie zu selbständig denkenden und handelnden Menschen in ihrem Leben werden können. In den Landesverfassungen ist dies unter den Bildungs- und Erziehungszielen zusammengefasst. Um festzustellen, ob man ein Ziel erreicht hat, muss man die Möglichkeit haben, die eigene Leistung an den Zielvorgaben zu messen, und bei Noch-Nicht-Erreichen des Zieles muss die Möglichkeit eines erneuten Versuchs gegeben sein. Das Sitzenbleiben, d.h. das Wiederholen des Stoffes einer Klassenstufe, in der man das Ziel nicht erreicht hat, ist eine Möglichkeit dazu. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Sitzenbleiben für viele Schüler in diesem Sinne hilfreich ist.

Was uns der gesunde Menschenverstand lehrt

Jeder hat es in der eigenen Kindheit erlebt und kann es vielleicht auch an eigenen Kindern erneut feststellen: Für Kinder ist der Anreiz, etwas zu leisten, gefordert zu werden, sich zu verbessern, etwas dazu zu lernen, etwas ganz Entscheidendes. Jeder Wettkampf lebt davon und macht Kindern auch deshalb Freude: sich mit den eigenen, früheren Leistungen und denen der anderen zu messen. Die meisten kindlichen Spiele enthalten diese Spannung, die offensichtlich der natürlichen Neigung des Menschen entspricht. Nimmt man diesen Anreiz weg, fehlt die Motivation sich anzustrengen. Es geht daher an der Wirklichkeit des Menschen vorbei, wenn man glaubt, Schüler alleine von der Sache her motivieren zu können.
Selbst uns Erwachsenen fällt das oft schwer. Machen wir doch oft die Erfahrung, dass wir leistungsstärker sind, wenn wir unter Zeit- oder anderem Druck stehen. Offensichtlich gehört es zu unserem Menschsein, dass wir nicht immer gemäß unserer Erkenntnis handeln, sondern von Bequemlichkeit, Lust etc. beeinflusst werden. Das ist aber bei Schülern nicht anders. Daher kann ihnen die Motivation helfen: Wenn du dich nicht anstrengst, bleibst du sitzen.

Vorbereitung auf die Lebenswirklichkeit

Den Kindern vorzugaukeln, dass das eigene Verhalten keine Konsequenzen hat, bedeutet, sie für das Leben untauglich zu machen, weil unsere Lebenswirklichkeit nun einmal anders aussieht. Das Leben muss sie dann lehren, dass man nicht immer in Watte eingepackt wird, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, in der sich nur diejenigen bewähren werden, die bereit sind, ihr bestes zu geben. Warum sollen den Kindern diese Einsichten vorenthalten werden?
Wenn für das Nicht-Erreichen des Klassenziels ausschließlich den Lehrern die Schuld gegeben wird, werden diese Jugendlichen in ihrem späteren Leben für Misserfolge die Schuld auch immer bei anderen, bei den Umständen etc. suchen. Natürlich werden gute Lehrer immer versuchen, alle Fähigkeiten der Schüler optimal zu fördern. Aber der Schulalltag lehrt, dass die Schüler auch bereit sein müssen, dabei mitzuwirken. Und manche Schüler sind eben nicht oder nicht immer dazu bereit. Dann müssen sie erfahren, dass das für sie Konsequenzen hat, z.B. dadurch dass sie Sitzenbleiben.
In den Diskussionen wird das von den Gegnern des Sitzenbleibens als Bestrafung angesehen. Es geht aber nicht um Bestrafung sondern um Einübung in die Wirklichkeit: Wenn ich nicht lerne, kann ich nicht weiterkommen. Wenn ich mich nicht anstrenge, werde ich sitzen bleiben. So ist es im wirklichen Leben. Und darauf soll die Schule vorbereiten, sonst verfehlt sie ihr Ziel.
Das Argument der Gegner, dass die 2% Wiederholer einer Klasse alle einen psychischen Schaden davontragen, entbehrt jeder Sachlichkeit, wie aus den Biographien sitzengebliebener Politiker, Wissenschaftler, Showmaster etc. hervorgeht. Leider gibt es keine Statistik darüber, wie viele Schüler ihre Leistung verbessert haben, um einem Sitzenbleiben zu entgehen. „Blaue Briefe“, früher als Warnung verschickt, haben viele Schülern zu einem Leistungsschub motiviert. Die Erkenntnis, dass man ohne Anstrengung kein Ziel erreichen kann, gehört zu den wichtigen Lebenserfahrungen. Und die sollte man Schülern nicht vorenthalten.

www.Erziehungstrends.de

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Geretrud Ribbers

Ich kann der Erörterung des Herrn Hennert und auch den anderen Kommentatoren hier nur zustimmen. Auch ich habe eine Klasse wiederholen dürfen und fühlte mich danach sowohl alters- als auch lernstandsmäßig viel besser untergebracht, nachdem ich lange eine der Jüngsten des Jahrganges war. Abitur halt ein Jahr später als andere, so what?
Eine meiner Töchter hatte ebenfalls Lücken, wurde aber zur Nachprüfung angehalten. Durch die Anstrengung in der Vorbereitung und die bestandene Prüfung sprang der Funke über und danach lief es rund. Hätte das Sitzenbleiben als Option nicht bestanden, wäre sie sehr wahrscheinlich über Jahre den Mitschülern leistungsmäßig hinterhergehechelt. So hat sie ein gutes Abitur gemacht und studiert inzwischen erfolgreich.

Gravatar: Lars

@E. Joergensen
Toll, nun darf der Steuerzahler auch noch die Nachhilfe bezahlen. Dass der "Staat" das tut, hört sich natürlich besser an.
Pervers finde ich das alles, nur noch pervers.
Welch eine traurige Kindheit, in der am Nachmittag weitergepaukt werden muss, weil man eine Klasse nicht wiederholen darf.
Nachträglich noch Dank an meine Eltern, die für mich sogar den Antrag auf freiwillige Wiederholung des Schuljahrs gestellt haben. Mit Mühe und Not wäre ich damals in der 5. Klasse wahrscheinlich noch versetzt worden. So blieb mir die ewige Lernerei erspart und ich durfte auch noch genügend spielen.

Gravatar: E. Joergensen

Hier wird mangels Wissen, oder wider besseres Wissen nur die halbe Wahrheit geschrieben und stark vereinfacht, um zu polarisieren.
Nicht mehr sitzenbleiben heißt z.B. in Hamburg Zwangsnachilfe am Nachmittag (vom Staat bezahlt), auch ist die Wiederholung eines Jahres in Ausnahmefällen, wie Entwicklungsverzögerung, Krankheit usw. durchaus noch möglich.

Gravatar: Christian B.

@Gerd L.
Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung nur uneingeschränkt zustimmen.
Das Sitzenbleinben hat mir vor vielen Jahren enorm geholfen und die Qual vieler Tage beendet. Es ist furchtbar demütigend, täglich als Klassendepp dazustehen.

Gravatar: Gerd L.

Sehr gut dargelegt, Herr Hennert!
Mir ist schleierhaft, wie man das Sitzenbleiben so verteufeln kann, wie das in rot-grün regierten Bundesländern geschieht.
Für ein Kind bedeutet es endlose Qual, jahrelang Schlusslicht in einer Klasse zu sein ohne Chance auf Änderung der Lage.

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