Was ist Gerechtigkeit?

Menschen sollten nicht nach ihrer Gruppenzugehörigkeit, sondern nach ihren individuellen Voraussetzungen beurteilt werden.

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Die Frage, was Gerechtigkeit ist, beschäftigt kluge Köpfe seit Jahrtausenden. In der Gegenwart konkurrieren kollektivistische Auffassungen, denen gemäß die Gruppenzugehörigkeit für die Beurteilung eines Menschen maßgebend ist, mit individualistischen Auffassungen, für die die Einzigartigkeit (Individualität) des Menschen den höchsten Wert darstellt. Die kollektivistischen gehen davon aus, dass Menschen qua Gruppenzugehörigkeit benachteiligt, andere Menschen ebenfalls qua Gruppenzugehörigkeit bevorteilt sind. Daraus entsteht bei den Kollektivisten die Forderung, dass Angehörige der angeblich benachteiligten Gruppen mittels unterschiedlicher Maßnahmen besonders behandelt, gefördert oder gar bevorzugt werden sollen. Für solche Maßnahmen kann der Staat viele Millionen Euro ausgeben.

Diese Auffassung widerspricht dem individualistischen Gerechtigkeitssinn, wonach es auf den Einzelfall ankommen sollte, denn es gibt Menschen aus den angeblich bevorzugten Gruppen, die mehr benachteiligt sind als Menschen aus der angeblich benachteiligten Gruppe. Mir hat es nie eingeleuchtet, dass eine ganze Gruppe (ich meine hier eine große Gruppe wie soziale Schicht, Geschlecht oder Nation); dass also alle Angehörigen einer Gruppe benachteiligt sind. In meinem Leben sind mir nur einzelne Menschen (Individuen) begegnet, die in einer bestimmten Hinsicht gegenüber anderen Menschen benachteiligt waren. Einige Beispiele, die sich auf die Bundesrepublik beziehen, mögen das demonstrieren:

1) Die Sozialisten aller politischen Richtungen behaupten, dass Menschen aus der Unterschicht gegenüber Menschen aus der Mittel- und Oberschicht benachteiligt sind. Ihre Chancen im Berufsleben sind demnach geringer als die Chancen von Menschen aus den genannten bevorteilten Schichten. Also sollten sie bevorzugt behandelt werden.

Denkt man nicht in Gruppenidentitäten, sondern betrachtet die Einzelfälle, so lassen sich genügend Menschen aus der Mittel- und Oberschicht finden, die besonders schlechte Voraussetzungen haben. Einige von ihnen wurden zum Beispiel in der Familie schlecht behandelt, geschlagen oder mißbraucht, was bei ihnen dauerhafte psychische Störungen hinterließ. Andere wurden beispielsweise in Internate gesteckt, in denen sie zu psychischen Krüppeln wurden, usw.

Auf der anderen Seite lassen sich viele Menschen aus der Unterschicht finden, die in sehr guten Verhältnissen groß geworden sind. Sie wuchsen in stabilen Familien auf, die ihnen positive Werte und Selbstvertrauen vermittelt haben. Sie hatten Vertrauenspersonen und Freunde, die einen positiven Einfluß auf ihre Entwicklung hatten. Sie sind besser für Leben und Beruf vorbereitet als viele Angehörige der Mittel- oder Oberschicht. Daher stimmt es nicht, dass Menschen aus der Unterschicht qua Zugehörigkeit zu dieser Schicht benachteiligt sind. Es lässt sich höchstens behaupten, dass Menschen aus der Mittel- oder Oberschicht in der Regel oder in einer bestimmten Hinsicht (zum Beispiel bezüglich der materiellen Verhältnisse) bessere Voraussetzungen haben als Menschen aus der Unterschicht.

2) Die Feministinnen behauptet, dass Frauen qua Zugehörigkeit zu ihrem Geschlecht benachteiligt sind. Deshalb sollten sie besonders gefördert und bevorzugt behandelt werden. Auch hier kann leicht nachgewiesen werden, dass eine große Anzahl von Frauen unter viel besseren Bedingungen, sei es familiärer, schulischer oder beruflicher Art, aufgewachsen ist als die meisten Männer.

Beziehen man die These von der schichtenspezifischen Benachteiligung auf Männer und Frauen, so kann leicht nachgewiesen werden, dass Männer aus der Unterschicht in der Regel wesentlich mehr benachteiligt sind als Frauen aus der Mittel- und Oberschicht – ein Sachverhalt, der von Feministinnen nicht wahrgenommen wird. Doch oben wurde bereits aufgezeigt, dass auch die These von der schichtenspezifischen Benachteiligung leicht widerlegt werden kann. Das bedeutet, dass einzelne Männer aus der Unterschicht weniger benachteilgt sind als Frauen aus der Mittel- oder Oberschicht.

3) Eine weitere kollektivistische Auffassung besagt, dass Migranten gegenüber den Einheimischen benachteiligt sind. Dies stimmt nur in einer Hinsicht: Migranten haben in der Regel schlechtere Deutschkenntnisse als Einheimische, was auch Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt mit sich ziehen kann. Doch dieses Defizit kann durch den Erwerb der deutschen Sprache ausgeglichen werden.

Dass die meisten Migranten der Unterschicht angehören, macht sie nicht per se zu Benachteiligten, wie oben aufgezeigt wurde. Viele Migranten haben bessere individuelle Voraussetzungen als die meisten Einheimischen. Als Migrant und Freund vieler Migranten kann ich das bestätigen.

Die Beispiele veranschaulichen, dass in der Bundesrepublik Menschen nicht qua Gruppenzugehörigkeit benachteiligt sind. Benachteiligungen können nur einzelne Menschen betreffen. Es kann höchstens behauptet werden, dass Angehörige einer Gruppe „in der Regel“ oder „in einer bestimmten Hinsicht“ gegenüber Angehörigen anderer Gruppen benachteiligt sind. Doch dieses „in der Regel“ oder „in einer Hinsicht“ reicht nicht aus, um die bevorzugte Behandlung ganzer Gruppen zu rechtfertigen. Es wäre daher viel gerechter, nicht auf angebliche Benachteiligungen von Gruppen, sondern auf Benachteiligungen von Einzelpersonen zu achten.

Welche Konsequenzen haben diese Erkenntnisse für die Praxis der Vergabe von Arbeitsstellen? Ich vertrete mit Nachdruck die Auffassung, dass bei der Vergabe von Arbeitsstellen einzig und alleine die Qualifikationen der Bewerber zählen sollten. Qualifikationen sind gegenüber individuellen Lebensgeschichten und -situationen sowie gegenüber Gruppenzugehörigkeiten verselbständigte Fähigkeiten beziehungsweise Bündel von Fähigkeiten. Das bedeutet, dass in Einstellungsverfahren individuelle Lebensgeschichte und -situation, also auch die oben genannten individuellen Benachteiligungen, sowie die Gruppenzugehörigkeit keine Rolle spielen sollten. Wenn aber – aus welchen Gründen auch immer – qualifikationsferne Kriterien herangezogen werden müssen, dann sollte es aus den oben genannten Gründen die individuelle Lebensgeschichte und -situation, nicht die Gruppenzugehörigkeit sein.

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Kokospalme

Ich vertrete mit Nachdruck die Auffassung, dass private Arbeitgeber bei der Stellenvergabe nach beliebigen Kriterien verfahren dürfen, dass sie also insbesondere auch die Gruppenzugehörigkeit berücksichtigen dürfen, wenn sie das wollen. Es ist jegliche staatliche Einmischung in Arbeitgeberentscheidungen abzulehnen, egal welche.

Gravatar: Meier

Danke für Ihren klugen Beitrag, Herr Dr. Ulfig.

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