Was ist das Beste, das es gibt auf der Welt?

Fehlt es etwa den Piraten und den jungen Eltern? Was haben der Streit um das Urheberrecht und der Streit um das Betreuungsgeld gemeinsam? Und was hat das alles mit facebook zu tun?

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Bei der Diskussion um das Copyright wird - im ‚Spiegel’ - ein bekennender Urheber gefragt, ob er nicht Verständnis für einen jungen Literaturfreund aufbringt, der unbedingt das neue Buch von Martin Walser lesen will, es sich aber nicht leisten kann. Warum soll er sich das Objekt der Begierde nicht kostenlos, wenn auch illegal runterladen? Kaufen oder Klauen? Das ist hier die Frage.

Keine gute Frage. Haben wir da nicht was vergessen? Es ist sowieso ein erstaunlich schlechtes Beispiel: Das Herunterladen von einem Buch ergibt nicht die Qualität einer Kopie – und gerade das ist neuerdings bei Filmen und Musikdateien zum Problem geworden. Doch die Antwort auf die Frage, ob wir nicht was vergessen haben - etwas Wichtiges -, bleibt dieselbe.

Als wir 1970 als junge Musikfreunde auf Klassenfahrt in London waren, konnten wir uns ‚Let It Be’, das noch teurer war als eine normale LP, nicht leisten. Klauen ging auch nicht. Was tun? Einer hat sie schließlich gekauft, wir haben sie zusammen angehört, manche haben sie sogar überspielt – kurz: wir haben sie geteilt. Aber nicht mit jedem aus der Klasse. Wir waren keine File-Sharer, wir waren Freunde. Nicht unbedingt Freunde fürs Leben, aber unsere Gemeinsamkeit war uns etwas wert.

Das gilt auch für Bücher. Jean Paul bezeichnete ein Buch als „langen Brief an Freunde“. Von Freunden möchte man nicht bestohlen werden. Aber natürlich sollen die Freunde ein Buch mit anderen Freunden teilen. Der junge Literaturfreund, der anfangs als Beispiel herhalten musste, ist womöglich wirklich zu bedauern. Nicht etwa, weil er sich darauf versteift hat, ausgerechnet das neue Buch von Martin Walser lesen zu wollen, sondern weil er keinen Freund hat, der ihm das zum Geburtstag schenkt, und keinen, der seine Vorliebe teilt, das Buch bereits hat und ihm nur allzu gerne gibt. 

Als Rousseau zehn oder zwölf war, konnte er sich auch keine Bücher kaufen, er konnte sie aber von wohlhabenden Bürgern oder aus Klosterbibliotheken leihen. Die Bücher las er dann seinem Vater vor. In Finnland (wir machen nun einen großen Sprung durch Zeit und Raum) war ‚Kreuze in Karelien’ so beliebt, dass ein Leser, der das Glück hatte, auf der Warteliste der Bücherei so weit aufgerückt zu sein, dass er das Buch immerhin für wenige Tage haben durfte, es auch auf diese Art teilte: als Hörbuch mit menschlichem Lautsprecher. Er las es der ganzen Familie vor. Da konnten sogar Kinder lauschen, die das eigentlich nicht durften. Es wurde also geteilt.

Das Teilen ist ganz im Sinne der Autoren. Ein einzelnes Buch, das nur einen einzigen Leser findet, ist in gewisser Weise ein Misserfolg. Allerdings sollte ein einzelnes Buch auch mindestens einen Freund gefunden haben, der es so sehr schätzt, dass er bereit ist, etwas dafür zu geben. Die Freunde brauchen sich gegenseitig. Der Schriftsteller den Leser – und umgekehrt. Die Liebe des Lesers zum Buch ist ebenso eine treibende Kraft wie der Wunsch des Autors, sich mitzuteilen; diese Kräfte schaffen neue Freundschaften.

Das ist ja auch das Schöne am Buch. Das Buch als Massenmedium des Individuums erlaubt zwar den Rückzug ins Alleinsein, schafft aber auch immer wieder neue Geselligkeiten, die sich aufgrund von Wohlwollen und von Freundschaften bilden. Jawohl, von Freundschaften!

Freundschaft wurde (jetzt sind wieder im 18. Jahrhundert) geradezu Kult, wie wir es heute nennen würden. Die Freundschaft galt als die „Tugend aller Tugenden“, ohne die wir kein anderes erstrebenswertes Gut erlangen können, wie Cicero gesagt hatte. Aristoteles sprach von der Freundschaft als „Mitte der gesamten Moral“ – diese alten Ideale blühten nun wieder auf im Zuge der Begeisterung, mit der Rousseaus Werke gelesen wurden.

Nicht nur seine. Die Freundschaftsdichtung wurde modern. Der Briefroman erlaubte die direkte, intime Ansprache; der Autor bot sich Fremden als Freund an. Freundschaft war nicht nur ein großes Thema - denken wir an die ‚Bürgschaft’ von Friedrich Schiller -, Freundschaft war auch die Grundlage für ein Netzwerk zur Verbreitung von Literatur: Salons entstanden, zahlreiche literarische Gesellschaften. Vor 1760 gab es nur 5 solcher Vereinigungen, dann waren es 50, dann 200, schließlich wurden Lesegesellschaften so bedeutend und zahlenmäßig so stark wie die Logen der Freimaurer. 

Die Freunde wollten nicht, dass sich der Staat einmischt. Für Wilhelm von Humboldt war das sowieso klar: „Der Staat hat an den höheren Seelenkräften des Menschen keinen Anteil.“ Solche Worte klingen uns heute fremd: „höheren Seelenkräfte“ - so reden wir nicht mehr. Immerhin finden wir noch „Liebhaber“ unter den Bücherfreunden, aber die kommen uns wie Sonderlinge vor, die bereit sind, überteuerte Preise zu zahlen für etwas, das wir pejorativ „Liebhaberei“ nennen.

Wenn ich heute durch Hugendubel irre, komme ich mir manchmal vor wie der letzte Mohikaner – nein, nicht wie der „letzte“, das war übertrieben, aber wie einer der wenigen, die noch übrig sind aus einer Zeit, als ein Buch noch ein langer Brief an Freunde war. Doch ich will nicht lamentieren. Es gibt immer noch Freunde, gibt noch private Treffen rund um ein Buch, auch ich habe schon so manches Lieblingsbuch „erfolgreich verliehen“, wie ich es mit einem wehmütigen Lächeln nenne.

Nun die nächste Frage. Eine Frage, die mit erstaunlicher Leidenschaft diskutiert wird: Von wem sollen die süßen Kleinkinder, von denen wir in Deutschland zu wenige haben, bereut werden? Von der Mutter oder von der professionellen Kindergärtnerin? Das ist auch keine gute Frage. Haben wir da nicht auch was vergessen?

Kinder leiht man nicht so leichtfertig aus wie Bücher. Ich kann mich noch erinnern, dass ich mich am liebsten gar nicht von dem Kind getrennt hätte. Aber, aber ... Da gibt sich schon eine Liebe zu erkennen, die mit egoistischen und ängstlichen Zusatzstoffen gemischt ist. Für eine alleinerziehende Mutter mag das ein vorübergehendes Hochgefühl erzeugen, für ein Kind ist es nachhaltig schlecht. Das Kind braucht eine zweite Instanz, die nicht identisch ist mit der ersten, die aber genauso einen hohen Wert hat.

Doch die Kita (früher Kindergarten) kann auch nicht das ein und alles sein und nicht als Alternative herhalten. Gelegentlich mache ich an solchen Orten Kinderprogramme und habe oft den Eindruck, dass sich die Kleinen da nicht in idealer Gesellschaft befinden: Es sind einfach zu viele von ihnen – und zu viele desselben Jahrgangs. Es ist ein künstliches unter ökonomischen Gesichtspunkten gebildetes Gemeinsames, das kein Gemeinsames ist.

Also: Wohin mit der kleinen Jennifer und dem kleinen Oliver, wenn man nicht ständig neben ihnen herlaufen soll, wenn Oma und Opa nicht vor Ort sind und der Rest der Familie nur noch aus „Böhsen Onkelz“ besteht? Auch hier lautet die Antwort: „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.“

Es ist mir nur in Ansätzen gelungen. Aber gemeinsame Urlaube mit Freunden und deren Kindern waren schon drin. Wie schön für die Kinder, wenn sie merken, dass sie nicht nur Eltern haben, die sich verstehen, sondern obendrein Eltern, die interessante Freunde haben, die ebenfalls Kindern haben. Nun können die nicht nur Bücher, Kinderkassetten und Kalorientabellen (gab es früher noch); Schaukelpferde und Meerschweinchen tauschen, sondern sich auch die Kinder gegenseitig zur Betreuung überlassen - am besten zusammen mit älteren Geschwistern. Falls vorhanden. Freunde kann ich mir aussuchen. Einen Babysitter kann ich mir auch aussuchen und ich kann mich sogar mit ihm anfreunden. Aber ist die professionelle Kindergärtnerin auch meine Freundin?

Freunde standen auch am Anfang der Erziehung. In der Hauslehrerliteratur ist stets vom „Freund der Kinder, Freund der Familie oder des Hausherrn“ die Rede. Und da ist sie auch schon wieder, diese merkwürdige Sprache: „So wie das Vatersein in der Liebe gründete, so auch das Freundsein“. Liebe Leser, beachten Sie bitte: Es folgen nun Ausdrücken, die uns fast wie Fremdworte vorkommen: „Freundschaftsverbindung ist eine Quelle jener allumfassenden Liebe“. So schrieb August Hermann Niemeyer, der zu seiner Zeit einflussreichste Pädagoge und hatte dabei die „Grundsätze der Erziehung“ im Blick. Das ist lange her. Das war ‚All You Need Is Love’ in der 1799-Edition.

Die Freundeskreise, die sich in Lesegesellschaften um das Buch scharrten und die „Freunde der Kinder“ hatten ein gemeinsames Ziel: „Bildung, Mitgefühl, Achtung, freundliche Aufgeschlossenheit und Hilfsbereitschaft verbunden mit der Absicht, des anderen Glück zu befördern.“ Das klingt gut, das hätten wir auch gerne, bei den Stichworten „Tugend“ und „Sittlichkeit“ hätten wir vermutlich Verständnisfragen.

Keinesfalls sollten die Kinder in die Obhut des Staates gegeben werden (besser gesagt: in die Obhut der Gesellschaft; einen Staat, wie wir uns heute vorstellen, gab es sowieso nicht). Rousseau, der Vorleser und Bücherfreund, der nun seinen dreihundertsten Geburtstag feiert, war ebenfalls ein - wenn auch umstrittener - Kinderfreund und schlug vor, Kinder auf einer „Insel“ zu erziehen - so entstand die Vorstellung vom Kindergarten. Die Kinder sind gut, die Gesellschaft ist jedoch schlecht, und deshalb muss ein Kind von schädlichen Einflüssen möglichst frei gehalten werden. Im Landschaftspark Wörlitz gibt es die Rousseau-Insel (eine künstlich angelegte, unscheinbare Aufschüttung im Wasser); die diese Vorstellung versinnbildlichen soll.

Die jungen Eltern sind noch schlechter dran als der zitierte Literaturfreund, der unbedingt den neuen Walser lesen will. So wie heute über das Betreuungsgeld diskutiert wird, muss ihnen seltsam zu Mute werden, wenn sie sich fragen, was die Politiker heute überhaupt für ein Bild von jungen Eltern haben, wie sie von ihnen gesehen werden. Nämlich wie?

Sie werden als Untertanen gesehen, als Abhängige vom Staat, als Einzelwesen, die isoliert sind vom letzten Rest einer ehemaligen Großfamilie. Und - was genauso schlimm ist, wenn nicht gar schlimmer - : Sie haben keine Freunde. Nur noch den, den sie anrufen können, wenn sie bei ‚Wer wird Millionär’ nicht mehr weiterwissen. Aber nur einmal. Freundschaften kommen in der Welt, wie sie uns die Politiker beschreiben, nicht mehr vor. Das ist die Wunde, auf die der Streit um das Urheberrecht und der Streit um das Betreuungsgeld verweist.

Doch der „Mensch, der glücklich sein soll, braucht wertvolle Freunde“. Wenn das so ist, können wir uns ernsthaft fragen, wie weit wir entfernt sind von diesem Glück, das sich auch Goethe vorstellte, als er schrieb: „Glücklich, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt, einen Freund am Busen hält und mit ihm genießt.“

Dafür haben wir facebook – und die Illusion, dass wir Freunde haben. Dazu kommt der Zauber der großen Zahl. Denn wirft nicht der übergroße Wert an der Börse und die unglaubliche Menge der User, denen facebook gefällt, seinen Glanz auch auf unsere Freunde, die wir links oben in der Ecke haben?

Man kann leicht glauben, dass die Beliebtheit von facebook nur deshalb so groß ist, weil andererseits der Mangel an Freunden groß ist. Es ist eine beliebte Vorstellung – es ist die Vorstellung von kommunizierenden Röhren (wenn ich irgendwo mehr habe, habe ich an anderer Stelle weniger). Es ist eine Vorstellung, die von bloßer Umverteilung ausgeht und nicht von einem möglichen Wachstum.

Doch vielleicht ist facebook heute das, was früher der Freundschaftskult war. Damals war sicherlich auch viel Schmus dabei und vieles an Freundschaften, was bestenfalls so lala war. Wir wissen doch, dass es auf facebook keine wirklich „wertvollen Freunde“ sind im Sinne von Aristoteles. Aber es sind viele. Wie viele sollen es denn sein? Was rät uns der alte Grieche? „So ist es wohl das Richtige, nicht so viele Freunde wie nur irgend möglich zu wollen, sondern nur so viele, als für das gemeinsame Leben ausreichen.“

Kurt Tucholsky schlägt eine Zahl vor: „Von Stund an, wo sie dich pudern, bis zum gemieteten Grab spielt sich alles und alles und alles unter zweihundert Menschen ab.“ Aber Achtung: Das ist die Gesamtzahl, nicht die Zahl der Freunde. Auf facebook habe ich die kritische Grenze von zweihundert erreicht, allein mit Freunden; Puderer und Grabvermieter sind nicht dabei. Ich möchte nach Möglichkeit allen treu bleiben.

Und Freunde im richtigen Leben habe ich auch noch. Obendrein.

beitrag erschien zuerst auf achgut.com

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