Von der Schillergruft zum Schillerpreis

Jürgen K. Hultenreich ist einer der bemerkenswertesten Schriftsteller der ehemaligen DDR, leider bislang nicht mehr als ein Geheimtipp.

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Dabei ist der 1948 in Erfurt geborene Autor ein wahres Multitalent: in der DDR war er Musiker und Lyriker. Nach seiner Ausweisung in den Westen 1985 veröffentlichte er in schneller Folge Gedichtbände, Romane, Erzählungen. Im Jahr 1990 erhielt er den Marburger Literaturpreis, dann wurde es still um den Autor. Seine Veröffentlichungen wurden hauptsächlich von Kennern goutiert.

Vor ein paar Jahren entdeckte Hultenreich seine Neigung zur Malerei wieder und hat seitdem als „Tuschör“ eine erstaunliche Palette von Tuschezeichnungen geschaffen, die bald Beachtung fanden und schon in mehreren Ausstellungen zu sehen waren.
Dankenswerterweise hat die Deutsche Schillerstiftung Hultenreichs Roman „Die Schillergruft“ wieder entdeckt und gestern in Marbach mit der „Kester- Haeusler-Ehrengabe 2013 prämiert. 
Eine wohlverdiente Auszeichnung. Zu vermuten ist, dass Dr. Jens Kirsten den Vorschlag gemacht hat, denn er kommt aus Weimar, das Erfurt benachbart ist und wo Hultenreich immer noch eine Art Legende ist, obwohl der Autor schon fast dreißig Jahre im Wedding lebt.

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Die „Schillergruft“, die in diesem Jahr in einer erweiterten Fassung neu aufgelegt wurde (Edition A.B.Fischer), ist einer der eindrücklichsten Romane über die untergegangene DDR. Georg Hull, der Held der Geschichte, wird als 18-jähriger wegen versuchter „Republikflucht“ verhaftet und vor Gericht gestellt. Weil er auf die Frage der Staatsanwältin, was er denn lese, vier mal antwortet: „Schiller“, beantragt die, ihn in eine Psychiatrische Klinik zu überwiesen.
Dort wird Hull auf seine Zurechnungsfähigkeit untersucht. Vor allem prüft sein Arzt sehr ausführlich, ob Hull beliebige Schillerzitate ergänzen kann. Er kann. Nicht nur das. Hultenreich schildert die Erlebnisse seines Helden in der Klapsmühle mit so viel Humor und philosophischer Reflexion, dass man bald merkt: nicht Hull ist krank, sondern die Gesellschaft, in der er zu leben gezwungen ist und mit ihr alle, die ihr aus Überzeugung oder Opportunismus dienen.
Hull ist eine Art Eulenspiegel, der hinter dem sozialistischen Antlitz immer wieder die Fratze einer totalitären Gesellschaft bloß legt, die alle individuellen Regungen zu ersticken sucht.
Seine Staatsanwältin, die ihm nicht viel mehr vorwerfen kann, als dass er die Grenze zur befreundeten CSSR unbefugt überschritten hat, denn für einen Fluchtversuch in den Westen fehlen sämtliche Beweise, klagt ihn dann an, weil er die Rolle des Kollektivs missachte und nicht verstanden hätte, dass nicht individuelle, sondern nur kollektive Leistungen zählten.
Hultenreich verliert nicht nur nie seinen Humor, seine Schilderungen sind auch fern von jeder Schwarz-Weiß-Malerei. Er berichtet, wie der Vertreter seiner Brigade versucht, vor Gericht durch eine günstige Schilderung von Hulls Persönlichkeit, ihm zu helfen. Selbst sein Gefängniswärter lobt sein Verhalten in der Untersuchungshaftanstalt. In der Psychiatrie hört der junge Nachtwächter den Saarländischen Rundfunk und Hull darf neben ihm mithören. Ruby Tuesday von den Stones wird in seinem Kerker das Symbol für ein Leben in Freiheit.
In die Handlung verwoben ist eine der zartesten Liebesgeschichten der deutschen Literatur. Das Nachbarmädchen Marion, das er kennt, seit sie als Baby in ihrem Kinderwagen im Hof rum stand, wird seine erste Liebe. Der Gedanke an sie hält ihn aufrecht, wenn ihn seine Umgebung zu erdrücken droht. Sie holt ihn ab, als er nach einer zweiten Verhandlung eine Bewährungsstrafe bekam. Das es dennoch keine Happy- End- Geschichte wird, ist schon vorher klar. Für Liebespaare kann sich Hull nur ein Ende vorstellen, wie es Gottfried Keller in „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ beschreibt.
Während das Schiff seine Fahrt fortsetzt, treibt es die Liebenden in den dunklen Fluten davon.
Hultenreichs Buch ist aber trotzdem eine Ermutigung. Für alle, die von der Macht und ihren Inhabern nicht beeindruckt sind, die wissen dass Freiheit ein Gefühl von innen und keine milde Gabe von außen ist. Für alle, die wissen, oder ahnen, dass es ein Wert an sich ist, sich jenseits von Anpassung und Opportunismus bewegen zu können so wie Hull/ Hultenreich.

Beitrag erschien zuerst auf: achgut.com 

 

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