Verloren geboren

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An Annegret liegt es nicht, wenn in Deutschland durch den demographischen Wandel bald nur noch der virtuelle Wind durch restlos entvölkerte Geisterstädte weht. Annegret hat jetzt 17 Kinder, was gar nicht einmal so viele sind, wenn man bedenkt, dass sie sich dafür 65 Jahre Zeit gelassen hat. Annegret hat sowieso keine Schuld an der Misere, denn der Kinderwunsch kam von ihrer jetzt neunjährigen Tochter Lelia, „die doch unbedingt noch ein Geschwisterchen wollte“. Nun sind es gleich vier geworden, knapp über 30 cm groß, rund 800 Gramm schwer (noch bis 1500 Gramm spricht man von Frühchen) und kaum überlebensfähig. Ihnen droht schon in den nächsten Wochen der Tod oder ersatzweise lebenslange Behinderung. Schon jetzt sind vier mehrköpfige Operationsteams rund um die Uhr beschäftigt. Und das ist nur die aktuelle Problemlage, denn wer sorgt für die Kinder, wenn die partnerlose und siebenfache Oma sich zeitnah zu ihrem Vater im Himmel begeben wird? Doch der Fall der nach der Regie von RTL medienwirksam geborenen Kinder ist nicht nur individuell tragisch, sondern symptomatisch für ein übersteigertes Ich-Gefühl der Niedergangsgesellschaft.

„Man soll ja offensichtlich immer irgendwelchen Klischees entsprechen. Was ich ziemlich anstrengend finde. Ich finde, das muss man für sich selbst entscheiden. Und man sollte sich auch nicht zu viel von anderen Leuten reinreden lassen." Was unsere Annegret damit meint: Die Entscheidung trifft sie selbstbewusst und großmäulig für sich alleine, die Folgen tragen die Kinder und trägt die Allgemeinheit - aber für letzteres scheint ja der Nanny-Staat auch gedacht zu sein, dazu später mehr. Der Allgemeinheit jedenfalls entstehen schon bei „normalen“ Frühgeburten pro Brutkasten unmittelbare zusätzliche medizinische Kosten im fünfstelligen Bereich. Angesichts steigender Frühgeburten kostet das die Bürger inzwischen mehr als eine halbe Milliarde Euro im Jahr.

Auch der Kurpfuscher in der Ukraine, der der rüstigen Beinahe-Rentnerin gleich mindestens vier mit fremdem Samen befruchtete fremde Eizellen eingesetzt hat, hat es sicherlich nicht nur, aber auch mit seinem Kontostand gut gemeint. Für alle diese Verursacher ist natürlich alles in Ordnung, während die Mediziner gerade verzweifelt versuchen, die Frühgeburten irgendwie am Leben zu halten.

Direkt nach der Geburt wurden die Kinder in eine Plastikhülle mit warmer Flüssigkeit zum Schutz der noch nicht fertigen Haut gesteckt. Dem Mädchen, wohl dem gesündesten der vier, mussten in einer Notoperation Löcher im Darm geflickt werden. In den nächsten Tagen und Wochen drohen erfahrungsgemäß Lungenversagen, Kreislaufversagen, Hirnblutungen, Hirninfarkt, Infektionen und Nierenversagen. Für noch schlimmer halten Ärzte die langfristigen Folgen, nämlich chronische Schäden von Lunge, Darm, Augen und Gehirn.

Was auch immer von Neeta, Dries, Bence und Fjonn übrigbleibt, und wir hoffen inständig sie werden wenigstens in der Lage sein, ihre merkwürdigen Namen zu buchstabieren, wird in das einsame Haus der dann ehemaligen Russischlehrerin kommen, die anscheinend nicht nur ihren anstehenden altersgemäßen Verfall ausgeblendet hat: Ihre inzwischen erwachsenen 13 Kinder hatte sie mit fünf Männern, diese vier nun gänzlich ohne Mann, jedenfalls ohne miterziehenden. Mit im Haus des Schreckens wird nur eine überforderte Neunjährige wohnen, und spätestens wenn die Vierlinge älter werden, werden die kleinen Ukrainer merken, dass diese Frau gar nicht ihre Mutter ist, und sie werden sie für ihre Leiden verantwortlich machen.

Wie konnte es soweit kommen? Natürlich geht es um individuelle Leere im Leben der Annegret, es geht um Geld aus den Sozialkassen, und es geht um den zweifelhaften Ruhm, Weltrekordhalterin im späten Gebären von Vierlingen zu sein. Schon mit noch nur 13 Kindern war sie sich der Aufmerksamkeit der Medien bewusst, beispielsweise Gast bei Günther Jauch. Und nun, als Partnerin des Katastrophensenders RTL, der sich die Exklusivrechte an dieser humanen Katastrophe gesichert hat, kommt sie aus den Medien gar nicht mehr heraus.

Vor allem aber, und hier beginnt die gesellschaftliche Dimension, ist Annegrets Gebärverhalten ein Ausdruck nicht mehr verantwortbarer individueller Freiheiten in einer Welt entfesselter Möglichkeiten. Was hier geschieht, ist eine perfide Variante des klassischen „Mein Bauch gehört mir“. Doch während es da um die Verhinderung von möglicher Unbill für Mutter und Kind ging, ist es hier die Schaffung desselben.

Von gesellschaftlicher Dimension ist auch das Geschäft mit dem Kinderkriegen. Zwar behauptet der nun ebenfalls prestigeträchtig im Rampenlicht stehende Professor Christoph Bührer von der Charité-Geburtsmedizin „Für uns steht das Wohl der Kinder im Mittelpunkt", doch dürfte es ihm mindestens ebenso um das Geschäft gehen. Jedes neunte in Deutschland geborene Kind ist mittlerweile ein Frühchen und angesichts der gewaltigen dadurch erzeugten Kosten steht dahinter auch ein gewaltiges Geschäft.

Schon vor einigen Jahren schrieb die dpa einen hochrangigen Vertreter der Ärzteschaft zitierend: „Neben dem Renommee für die Klinik und den Chefarzt persönlich geht es auch ums Geld. Die Kliniken geben die meist planbaren Frühgeburten ungern ab, weil sie jeweils einige 10.000 bis 150.000 Euro bringen. Sie haben zwar viel investiert und auch hohe Kosten, aber einige räumen inzwischen offen ein, auf die Einnahmen zur Querfinanzierung von weniger erlösträchtigen Abteilungen angewiesen zu sein.“

Immerhin ist die Embryonenzeugung in Deutschland (noch) strikt verboten, doch wirkliche Grenzen und politische Kontrolle durch nationale Vernunft gibt es schon lange nicht mehr in unserer aufgeklärten, fortschrittlichen, globalisierten Welt. In Italien immerhin hatten die regionalen Behörden in einem ähnlichen Fall bei einer - wesentlich jüngeren - Mutter kurzen Prozess gemacht, und das Kind in staatliche Fürsorge übernommen. Eine verlässliche Aufzucht schien ihnen nicht mehr gegeben.

Wie so oft gibt es auch hier also durchaus konkrete individuelle und gesellschaftliche Gründe für die Vorgänge, aber wie genauso oft gibt es auch die kybernetische Metaebene. Der ganze Fall passt nämlich wie gemalt in die Politik der wundersamen Menschenmehrung. All die Propaganda vom aussterbenden Deutschland, der Unfinanzierbarkeit der Renten und den nur auf neue Arbeitende wartenden Arbeitsplätzen zeitigt Erfolge: Frauen setzen am Ende ihrer Fruchtbarkeit und eben auch danach trotz Karriere und Feierlust schnell noch Kinder in die Welt. Einerseits geben sie so ihrem biologischen Imperativ nach, andererseits den Einflüsterungen des Postkapitalismus, dem es nur um neue Konsumenten und lohndrückende Arbeitslosigkeit geht, was er euphemistisch „Wirtschaftswachstum“ nennt.

Die These klingt zuerst abstrakt, doch flugs kommt ihr der Direktor für Geburtsmedizin der Charité zur Hilfe, der einfach ausspricht, was wohl gar nicht so deutlich ausgesprochen werden sollte. Nachdem er über die Problematik des Vierlingsfalls gesprochen hat, sagt er tatsächlich: „Andererseits werden in Deutschland viel zu wenig Babys geboren, und diese Frau hat viel dazu beigetragen, die Quote zu erhöhen." Vier leidende Kinder haben also diese ominöse Quote erhöht - man wundert sich nur noch, wer alles in leitende Positionen aufsteigen kann und darf.

Wie wir es aus der Kultur der Umverteilung kennen, werden in Annegrets Frucht-, äh, Fahrwasser die bürgerfinanzierten Krankenkassen diese Produktionskosten neuer Arbeitskräfte zu übernehmen haben. Die Frühgeburten nehmen bei uns jedenfalls schon seit Jahren dramatisch zu, und Deutschland liegt in der Spitzengruppe der europäischen Statistik.

Da musste das personifizierte Unheil der aktuellen Bundesregierung, Familienministerin Manuela Schwesig, kürzlich gleich noch einen draufsetzen, indem sie versprach, sich dafür einzusetzen, dass auch Unverheiratete einen Teil der Kosten künstlicher Befruchtungen, die Früh- und Mehrfachgeburten erheblich forcieren, erstattet bekommen sollen. Sie wolle sogar erreichen, dass die Kassen künstliche Befruchtungen wieder voll finanzierten. Willkommen in der Gesellschaft der vaterlosen Laborkinder.

Der Fall Annegret ist ein Beispiel für den gelebten Individualismus, der uns überall begegnet. Moralische Zwänge und naturgegebene Beschränkungen entfallen in einer Welt, die zunehmend mehr kann als ihr gut tut. Wir lernen von Annegret: Der Niedergang kommt inzwischen auch mit dem Niederkommen. Ein Leser kommentierte im Spiegel dazu: „Hätte die gute Frau 17 Katzen, hätten schon längst die Tierschützer bei ihr eingebrochen, die armen Tiere gerettet und die gute Frau einweisen lassen. Bei 17 Kindern ist es aber normal.“ Nun leiden zwar sicher auch Katzen unter enthemmter Selbstbefriedigung von Individuen, doch die Botschaft ist klar: Die Normen wackeln, drehen ins Absurde und werden zunehmend verschwinden.

An ihre Stelle tritt das selbstherrliche Individuum, das sich seine eigenen Normen zusammenbastelt, wie es sie braucht. Die Evolution hatte für das Kinderkriegen aus gutem Grund einen beschränkten Zeitraum eingerichtet. Die Eltern sollten sich um Überleben und Aufzucht des Nachwuchses in körperlich und geistig noch leistungsfähiger Verfassung kümmern können. Heute erhebt man sich über solche natürliche Weisheit, einfach, weil man es kann.

Mehr von Konrad Kustos gibt es hier: chaosmitsystem.blogspot.de

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Marlies Wildberg

Vielen Dank für Ihren wieder einmal wunderbar treffenden Kommentar, der mir direkt aus dem Herzen spricht (wie schon so viele Beiträge von Ihnen zuvor). Es ist für mich ein Genuss, Ihre mit glasklarer Analyse und genialer Formulierung geschriebenen zeitkritischen Kolumnen zu lesen.

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