Verkehrte Kinderwagen, verkehrte Welt

Seit einigen Jahren fallen unterwegs Kinderwagen auf, die in Fahrtrichtung geöffnet sind. Während früher nur ältere Kinder in den nach vorne gerichteten Buggys geschoben wurden, werden heute Babys von Müttern und Vätern wie in Schubkarren vor sich herstoßen. Erwachsener und Kleinkind schauen in Gehrichtung anstatt einander ins Gesicht. Ist den Eltern der Anblick ihrer Kinder so unangenehm, daß sie lieber das Kinderwagendach anschauen?

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Die verkehrt aufgesetzten Kinderwagen sind mehr als bloß eine Modetorheit. Sie dokumentieren das Versiegen des mütterlichen Instinkts. In dieser neuen Art, Kinder zu transportieren, zeigt sich auf augenfällige Weise eine gesellschaftliche Entwicklung, die zu denken gibt: es ist das Zerreißen des Bandes zwischen Mutter und Kind. Sie schauen einander nicht mehr an. Zum Kommunizieren gehört nun einmal auch der Blickkontakt. Erzeugt die Verweigerung des letzteren nicht eine Art Sprachlosigkeit, die sich später in Form von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten zeigt?

Wozu sollte ein Kind sprechen lernen, dessen Mutter es wenig anschaut? Das erste, was dem Säugling in den Wochen nach der Geburt vertraut wird, ist das das Gesicht der Mutter. Dieses Gesicht ist Ankerplatz, von dem aus die Augen des Babys allmählich die Welt erkunden. Augen und Mund sind wichtig. Während die Mutter spricht, schaut sie das Kind an. Während das Kind seine ersten Worte formt, schaut es die Mutter an. Wenn die Mutter das Kind stillt oder füttert, schaut sie es intensiv an. Der Blickkontakt ist unendlich wichtig für Wohlbefinden und geistig-körperliche Entwicklung des kleinen Wesens. Aber schon bald geht diese Mutter hin und dreht das Kind abrupt von sich weg, schnallt es auf einem Sitz fest und raubt damit dem Kind nicht nur die Bewegungsfreiheit (was nicht nötig wäre, wenn das Kind zu ihr gerichtet säße!); sondern unterbricht auch den Blickkontakt zum Kind – diese wichtigste aller Brücken des geistigen und gefühlsbetonten Austauschs. Die ohnehin spärliche Zeitspanne, die für kommunikative Zweisamkeit von Mutter und Kind heute noch übrig ist, wird durch diese eigenartige Kinderwagenkonstruktion noch weiter beschnitten.

Gut meinen ist nicht immer gut machen

Sicher geschieht das alles in bester Absicht. Das Kind soll doch etwas sehen! Es soll doch etwas lernen! Es soll einen freien Blick haben auf die Welt! Nun sitzt oder liegt es da und läßt diese unerklärlich fremde Welt wie auf dem Fernsehbildschirm an sich vorüberziehen. Und wie ein fernsehendes Kind nimmt es einen entrückten Gesichtsausdruck an, der typisch ist: verschlossen, verdrossen, mürrisch, ängstlich. Bemerken die Mütter das denn nicht? Haben sie das Gespür für die Bedürfnisse des Kleinkindes denn ganz verloren? Die pseudowissenschaftlich verbrämten Ratschläger der Erziehungsindustrie und ihrer institutionalisierten Sprachrohre fallen bei ihnen auf fruchtbaren Boden. Welche Mutter möchte schon rückständig sein und ein dummes Kind haben! Eines, das mit seinem Blick an der Mutter hängt, anstatt lernend in die Welt hineinzuschauen! Sie meinen es nicht böse. Aber gut meinen bedeutet nicht immer auch, es gut zu machen.

Ach, liebe Mütter, diese Welt ist nicht selbsterklärend! Sie vermittelt sich dem Kind nicht durch bloßes Hineingestoßenwerden und Betrachten! Was zum Lernen befähigt, ist allein die Vermittlung der Welt durch den liebevoll sich zuwendenden Erwachsenen. Dieser ist es, der aus der verwirrenden Fülle der Entitäten Einzelheiten herausgreift und die sorgfältig ausgewählten Gegenstände dem Kind aus der Nähe zeigt, deren Funktion erklärt und damit zu Aktivität und Eroberung der Welt ermuntert. Das Kind, stumm und auf seinem Sitz festgeschnallt, wird frontal hineingerollt in die verwirrende Welt der Bilder, während die Mutter hinter seinem Rücken ihren eigenen Gedanken nachhängt, telefoniert oder einkauft. So verlieren sie beide den Kontakt, der für das Kind so notwendig ist, um sich in dieser Welt zurechtzufinden.

Alles auf einmal, und alles zu früh

Das Gesicht der Mutter, ihr Blick und ihre Worte, sie sind es, wodurch das Kind die Welt erfährt und kennenlernt. Die meisten von uns machen einen zwar verständlichen, aber dennoch gravierenden Fehler: bei allem, was sie Kindern zumuten, gehen sie zu sehr von sich selber aus; sie denken an ihre eigene Befindlichkeit, setzen beim Kind zuviel Wissen und Einsicht voraus, bedenken nicht dessen Unerfahrenheit und Unsicherheit. Sie wollen nicht mehr darauf warten, bis das Kind reif ist für gewisse pädagogische Entscheidungen. Sie tun so, als ob die geistige Reifung beschleunigt werden könne, indem einschlägige Maßnahmen zu immer früheren Zeitpunkten erfolgen. Sie sehen nicht das Bedürfnis des Kindes nach Ruhe, nach Bindung und Zuwendung. Sie glauben, durch die Konfrontation mit abstrakten Informationen könne der kindliche Intellekt einem beschleunigten Bildungs- und Wissensprozeß unterzogen werden.

Der Verzicht auf Augenkontakt liefert das Baby im Kinderwagen einer ungefilterten Flut von Eindrücken aus. Wir muten ihm zuviel zu, und das auch noch viel zu früh. Wenn einem Durstigen der voll aufgedrehte Feuerwehrschlauch an den geöffneten Mund gehalten wird, kann dieser keinen Tropfen trinken, sondern er wird sich in Panik vor dem gewaltigen Wasserschwall schützen. Neugierde und Aufnahmefähigkeit entwickeln sich beim Kind nur in der Geborgenheit des Gehalten- und Angeschautwerdens. Dadurch werden Eindrücke gefiltert und reduziert auf ein dem Alter des Kindes bekömmliches Maß. Der Blick der Mutter (oder des Vaters) bildet den Stütz- und Ruhepunkt.

Vorbereitung auf ein Leben ohne Kommunikation?

Wenn ein Kind von klein auf daran gewöhnt ist, daß Bild und Wort auseinanderfallen, wird es unter Umständen ein gestörtes Verhältnis zum Mitmenschen und zur natürlichen Autorität entwickeln. Wörter gehören dann nicht zu Gesichtern oder zu Dingen, die Sprache verliert ihre Funktion für Kommunikation, Wörter kommen aus dem Off und sind nichts weiter als ein akustischer Reiz ohne Sinn. Das Kind, das schon im Babyalter daran gewöhnt worden ist, mit dem Rücken zur Mutter zu sitzen, hockt später vor dem Bildschirm – wiederum mit dem Rücken zur Mutter; während die Mutter zu ihrem Kind spricht, bleibt diesem ihr Gesicht verborgen. Die mütterliche Stimme konkurriert mit Zisch- und Pänglauten aus dem Lautsprecher. Sie erscheint dem Kinde als eine Art Fliegensummen, lästig zwar, aber doch von zeitlich begrenzter Dauer. Denn irgendwann wird die Mutter schon aufhören zu sprechen.

Eine Stimme ohne Gesicht ist eine anonyme Stimme. Das Kind gewöhnt sich an anonyme Stimmen, zu Hause, in der Schule, unterwegs mit Freunden. Immerzu ist irgend etwas zu hören, was keinen Bezug zur Welt hat. Ein solches Kind kann nicht mehr zuhören. Damit verschließt es sich der Kommunikation, denn Sprechen und Zuhören bilden eine untrennbare Einheit. Zuhören kann dieses Kind schon deshalb nicht, weil die Augen der Mutter aus seiner Erinnerung geschwunden sind.

Unsere erste Sprache wird nicht zufällig Muttersprache genannt. Sprechen lernen Kinder nur deshalb, weil sie Zuwendung bekommen, die sie zum Leben benötigen, von Angesicht zu Angesicht. Wir müssen uns wieder Zeit dazu nehmen, unsere Kinder anzuschauen, wenn wir mit ihnen sprechen. Sollten wir damit fortfahren, unsere Kinder nur mit Bildern zu konfrontieren, die wir ihnen nicht erklären und die sie deshalb nicht verstehen, werden wir uns eines Tages verzweifelt fragen, weshalb die dann Heranwachsenden weder sprechen noch des Lesens und Schreibens kundig sein werden.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Kmitta Margrit

Ich bin froh, daß Sie so außführlich über eine "Binsenweisheit" geschrieben haben. Unerfahrene junge Mütter hören zu wenig darüber was den Kindern gut tut und zuviel Unqualiviziertes. Ich wünsche mir mehr Stimmen, die über die Bedürfnisse der Kinder reden.

Gravatar: Hedwig v. Beverfoerde

Erinnere mich noch haargenau, wie mein Großer (jetzt 17) als Baby in seinem großen Kinderwagen lag, mich mit riesengroßen Augen sehr aufmerksam anschaute während ich beim Spazierengehen mit ihm sprach und schäkerte. Unvergeßlich schön!

Gravatar: Marie-Ella Hottenbacher

Ich bin für diesen Artikel sehr dankbar, weil auch ich fassungslos bin, wie oft Mütter und Väter die Chance nicht nutzen, während des Spazierganges mit ihrem Kind im Kinderwagen zu kommunizieren. Welch kostbare Zeit geht da verloren, intensiven Kontakt zum Kind zu haben. Zeit, in der Väter und Mütter mit ihrem Kind sprechen, singen, lachen und gemeinsam die Welt entdecken könnten. Denn nur, wenn ich es anschaue, weiß ich, wie es ihm geht, woran es sich freut und worüber es staunt! Das ist wichtig für die seelisch gesunde Entwicklung von Kindern im "Kinderwagenalter" und zugleich auch eine große Bereicherung für die Eltern!

Gravatar: Manfred Schreiber

Hinn und wieder habe ich als Vater vor über 30 Jahren auch meine kleine Tochter nach vorne geschoben. Das hat sie gern getan, nachdem sie den Kopf sicher heben konnte. Daneben gab es noch genug Gelegenheit sie von Gesicht zu Gesicht anzuschauen. Ich verstehe nicht recht, warum junge Mütter ihre Babys nicht ansehen wollen?

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