Über Richard Millets "Der erschöpfte Sinn" ("Fatigue du sens")

Der französische Schriftsteller Richard Millet analysiert die Gegenwart auf brillante Weise. Eine Auswahl seiner Essays sind deutsch im Sammelband "Verlorene Posten. Schriftsteller, Waldgänger, Partisan" 2013 erschienen, darunter die Gedanken zum "erschöpften Sinn", unter dem Europa leidet.

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"Wir sind in eine postdemokratische Welt eingetreten, die ich auch als horizontale Welt bezeichne und die durch die Absage an alle Werte der Vertikalität gekennzeichnet ist. Die Sinnerschöpfung zählt zu den Merkmalen des Horizontalen: Sie betrifft die Gesamtheit der westlichen Werte, zumeist indem sie den Unwert in den Rang eines neuen und definitiven Werts erhebt inmitten einer allgemeinen Ermattung, die eine kollektive Blindheit und der Triumph des Narzißmus ist. In seiner globalisierten Ausdehnung trifft diese Selbstgefälligkeit unaufhörlich auf die Figur des Anderen, des Ausländers, des Einwanderers, die wiederum zum Inbegriff der Unschuld geworden ist."

Knapp zusammengefasst diagnostiziert Millet hier das linke Projekt der forcierten Aufhebung aller Hierarchien (Vertikalität) wie z. B. gewisser qualitativer Unterschiede sowie die parallele zwanghafte Gleichmacherei (Horizontalität) von allem und jedem, sei es das Geschlecht oder eine Kultur. Es ist sofort klar, dass unter diesen Umständen keinerlei "Sinn" mehr existiert, der ja nur aus der Differenz entstehen kann. Diese "neue Moralordnung", wie Millet sie nennt, wird durch das "Recht" durchgesetzt. "Der Andere" dient als Mittel zur Durchsetzung des "Rechts" und kann der Homosexuelle sein oder der Migrant, dem gegenüber sich die Mehrheit ("Wir") schuldig und infolgedessen in einer Bringschuld fühlen soll, weil "der Andere" für die "neue Moralordnung" immer unschuldig ist.

"Die wirtschaftliche Globalisierung ist eine entpolitisierte Allgemeingültigkeit: eine Oberfläche, auf der miteinander inkompatible Partikularismen sich austoben, ideologisches Ergebnis des Untergangs des Politischen in der Menschheitsreligion. Diese Entpolitisierung (Entdialektisierung, Entvertikalisierung) wird als »Recht« bezeichnet und steht in einem janusköpfigen Zusammenhang mit dem Markt."

Hier kommt Millet auf die merkwürdige Allianz zu sprechen, die zwischen dem globalen Kapitalismus und der "neuen Moralordnung" besteht. Die Auflösung aller traditionellen Bindungen und Identitäten, nämlich Volk oder Nation zugunsten der gesichtslosen "Menschheit", Ehe und Familie zugunsten einer beliebig austauschbaren "Verantwortung", Religion und Kultur zugunsten eines hedonistisch infantilisierenden "Glücks" dient der globalen Verfügbarmachung des Humankapitals. Weil in Wirklichkeit natürlich niemand z. B. für die "Menschheit" eintreten kann, sondern immer Gruppen angehört wie z. B. einer Nation, schafft der Staat autoritär "Recht" und ersetzt die negativ konnotierte Nation "durch juristische Räume", die sperrangelweit offen sind, um die ersehnte Mischung der Ethnien und Rassen zu einer uniformen "Menschheit" zu erreichen. Der Staat ist also das Organ zur Durchsetzung der "neuen Moralordnung".

"Die Globalisierung, die mal als wirtschaftlicher Sachzwang, mal als unwiderstehliche Entwicklung in Richtung einer Idealvorstellung der Menschheit dargestellt wird, ist im Wirklichkeit lediglich ein neuer Aufguß des philanthropischen Programms, dem zufolge das Glück des Menschen seine Unterwerfung unter die ideologischen Apparaturen des Staats voraussetzt: Menschenrechte, Antirassismus, Multikulturalismus, Protestantismus, Islamismus, Konsumismus..."

Millet ist meilenweit davon entfernt, Rassist zu sein, nur weil er den offiziellen Antirassismus verlacht, der bei jeder Strafverfolgung wegen Rassismus die Existenz von genau den Unterschieden anerkennt, die er so vehement leugnet. Viele Leser wird auch überraschen, dass Millet Protestantismus und Islamismus nebeneinanderstellt. Doch für ihn ist "aus symbolischer ebenso wie aus ökonomischer Sicht [...] der Islamismus lediglich eine spektakuläre Variante des protestantischen Kapitalismus." Das mag die Freundschaft zwischen kapitalistisch-islamistischen Ölstaaten und den USA ebenso erklären wie die kürzliche Meldung, dass Russland von den USA als eine weit größere Bedrohung eingeschätzt wird als der IS.

"Wir dürfen nicht vergessen, daß die politische Korrektheit ein Projekt der amerikanischen Linken ist, das der europäische Sozialismus gerne übernommen hat. Im Multikulturalismus [, einer anderen Bezeichnung für Horizontalität,] vollendet sich gewissermaßen das egalitäre Ideal: Die ethnisch-rassische Balkanisierung [...]."

Starker Tobak. Millet sieht Europa längst am Vorabend eines Bürgerkriegs, im Vergleich zu dem der Jugoslawienkrieg nur ein kleines Vorspiel gewesen sei. Da er in den 70er Jahren an der Seite der bedrohten Christen im Libanon gekämpft hat, nennt er den künftigen Zustand Europas aus dieser Erfahrung heraus "Libanisierung". Die konsekutive Schwächung Europas kann dabei nur im Interesse der USA sein, denn dass massenhafte Einwanderung eine "Chance" für Europa sei, ist für Millet ein Ammenmärchen. Die USA haben zudem schon mit ihrer billigen "Subkultur", wie Millet sie nennt, auf Sprache, Alltag und Kultur Europas einen immer verderblicheren Einfluss genommen, dem alle, angestammte Europäer und Zuwanderer, ausgesetzt sind, die so beide zu immer uniformeren Marionetten des globalen Kapitalismus werden. 

"Es ist weniger Europa, das erschöpft ist oder alt (so will es eine amerikanische Wahnvorstellung), als vielmehr wir freien Geister, die wir dessen müde sind, was Europa durch seine Amerikanisierung geworden ist: nicht etwa eine ethnische Mülltonne, wie gewisse Menschen bis zum Überdruß behaupten, sondern im Gegenteil ein Raum der ethnischen Disneylandisierung, ist Disneyland doch weit mehr als ein bloßer Vergnügungspark, nämlich das Vorbild für den »Menschenpark« der Zukunft, wo der Geist durch Unterhaltung und Spektakel zunichte gemacht wird. [...] Dieser unerbittliche Führungsstil der dominanten Subkultur sagt uns mehr darüber, was aus uns werden soll, als alle ideologischen Traktate."

"Wofür kämpfen die Zeitschriften der französischen Ultralinken (also letztlich die gesamte Presse, die sich Schuldgefühle von der Ultralinken einreden läßt, die wiederum nur eine vermeintlich »rebellische« Version der kapitalistischen Propaganda ist)? Für Abtreibung, Schwulenehe, Wahlrecht für Einwanderer, Legalisierung von Illegalen, Entkriminalisierung sämtlicher Drogen, Abschaffung von Grenzen, aller Formen von Autorität, nationaler Identität, für die Universalität der amerikanischen Subkultur usw., kurz gesagt: für das Programm des internationalen Kapitalismus in seiner härtesten und zynischsten Form, der ebendiese Systeme der Unterdrückung produziert, die diese Presse kritisiert - welche ihrerseits zu den unterdrückerischen Systemen gehört und journalistische Schreiberlinge zu den beflissenen Bediensteten der Neuen Moralordnung macht und aus diesen Zeitschriften eine Schlange, die sich ständig in den Schwanz beißt."

Obwohl Millet logischerweise über Frankreich schreibt, kann man das meiste auf die Zustände in Deutschland übertragen. Millet wählt als Antwort auf die Erschöpfung des Sinns den Rückzug, um in der Einsamkeit wieder zu klarem Kopf und Kräften zu kommen. Keineswegs ist er resigniert. Freilich muss jetzt schon gekämpft werden gegen die weitere Ruinierung des Bildungssystems, das immer ungebildetere und damit willfährigere Untertanen produziert, wie auch gegen die mit der Entchristlichung einhergehende "Verleugnung des Selbst". "Schreiben bedeutet, den gesunden Menschenverstand um einen Abstand zu ergänzen. Dieser Abstand ist meine Weigerung, das literarische, politische, ästhetische Spiel mitzuspielen. Der Schriftsteller wäre damit der Inbegriff des Partisanen oder Waldgängers, der Einzelgänger par excellence, wohlwissend, daß eine freiwillige Einsamkeit der Propaganda ungeheuer suspekt ist."

 

 

 

 

 

 

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