Über den Politikerspruch: „Die Menschen haben diffuse Ängste!“

„Diffuse Ängste“ sind, im Gegensatz zur Diagnose vieler Politiker eher selten; sie werden zur Diskreditierung verwendet. Damit schleicht sich heute die Psychopathologisierung einzelner Bürger oder ganzer Gruppen in die politische Diskussion in Deutschland.

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Dieser Satz wurde der letzten Zeit vielfach bemüht, von regierenden Politikern, von solchen der Opposition, von prominenten Politikern und von Hinterbänklern. Der Satz klingt nach Besorgtheit, nach Kümmern um Anliegen der Bevölkerung. Tatsächlich ist er nicht so harmlos, wie er klingt.

Wenn sich ein Politiker an die Bevölkerung wendet, so sind seine Adressaten in einem demokratischen SystemBürger, oder besser, Staatsbürger. Spricht er sie als Menschen an, so reduzierter sie damit auf ihre individuellen und subjektiven Befindlichkeiten und spricht ihnen gleichzeitig die politische Kompetenz ab.

Und im Zusammenhang mit der Zuordnung „diffuse Angst“ verrät der Politikersatz erst wirklich, warum er vom Menschen und nicht vom Staatsbürger spricht.

Wem diffuse Ängste zugeordnet werden, der wird auf Befindlichkeiten reduziert, der denkt nicht mehr rational. Kritik an Politikern durch Menschen mit diffusen Ängsten wird damit diskreditiert und zu irrationaler Beliebigkeit erklärt. Gegenüber Menschen mit diffusen Ängsten muß ein Politiker auch keine Rechenschaft ablegen.

Aber es ist noch etwas bedeutsamer. „Diffuse Angst“ ist in der Psychologie ein Symptom einer Krankheit, der Angststörung. Ob dies denjenigen Politikern klar ist, die Bürgern eine diffuse Angst unterstellen?

Und sind es tatsächlich diffuse Ängste um die es geht?

Anlässlich der großen TTIP-Demonstration in Berlin vor wenigen Wochen schaltete das Bundeswirtschaftsministerium unter Minister Gabriel (SPD) ganzseitige Anzeigen in großen Tageszeitungen.

Die Anzeigenrichteten sich im ersten Absatz an Menschen, die Furcht vor TTIP hätten. Auch hier wieder die doppelte Diskriminierung des Staatsbürgers. Von Bürgern ließ Gabriel dann im zweiten Absatz seiner Anzeige schreiben, aber nur im Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, z.B. Gewerkschaften und Umweltverbänden. Erst im Kontext von Organisationen, die auch Wirtschaftsminister Gabriel akzeptieren kann, wird für ihn der Mensch zum Bürger. Was für ein Demokratieverständnis! Und geht es um Furcht vor TTIP?

Ein zentraler Punkt der Kritiker ist die Intransparenz der Verhandlungen. Und für diese Kritik gibt es konkreten Anhalt. In derselben Ausgabe der Süddeutschen Zeitung (SZ), in der Gabriel die ganzseitige Anzeige zu TTIP schaltete, kritisiert ein redaktioneller Beitrag, daß selbst Bundestagsabgeordnete die Verhandlungsunterlagen in der Berliner US- Botschaft nicht einsehen dürften. Das Anliegen der Demonstranten zu Transparenz der TTIP-Verhandlungen ist vollständig berechtigt. Allerdings verwundert die Stoßrichtung des Artikels der SZ. Die EU ist Verhandlungspartnerin und die Bundesregierung ist doch sicher als wichtiges EU-Mitglied und Auftraggeberin für die Verhandlungen in der Lage, die Verhandlungsunterlagen aus Brüssel für die Bundestagsabgeordneten anzufordern. Hier ist also nicht die US-Botschaft zu kritisieren, sondern die EU-Kommission und die Bundesregierung. Vielleicht muß man diese Art der TTIP- Berichterstattung in der SZ, die die Rolle der Bundesregierung und die der EU für die Transparenz der Verhandlungen ausklammert,  als eine Unterwerfungsgeste der SZ gegenüber der Bundesregierung ansehen.

„Diffuse Ängste“ sind, im Gegensatz zur Diagnose vieler Politiker eher selten; sie werden zur Diskreditierung verwendet.

Diese Diskreditierung spielt besonders in denjenigen Politikfeldern eine Rolle, in denen eine große Mehrheit der Bevölkerung gegen Projekte der Machtelite in Berlin Vorbehalte hat.  Das gilt neben TTIP auch für den Einsatz der Agro-Gentechnik, bei der die Ablehnung in Deutschland seit 20 Jahren fast konstant um 70- 75% liegt.

Mit dem Diskreditierungsbegriff der diffusen Angst schleicht sich heute die Psychopathologisierung einzelner Bürger oder ganzer Gruppen in die politische Diskussion in Deutschland.

Und wer den Begriff der „diffusen Angst“ in Zusammenhang mit dessen politischer Verwendung bei Google nachschaut, wird sehen, wie viele Medien diese Diskreditierung entsprechend dem Vorbild der politischen Machtelite anwenden. 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Rüdiger Braun

Im Gegensatz zu Coyote38 kenne ich diese Argumentation schon seit Jahren und verweise in der politischen Diskussion darauf.
Es hat mich schon immer verwundert das in öffentlichen Beiträgen so selten Bezug darauf genommen wird.

Gravatar: Chakravartin Serapis

Ein mehr als einfach nur lesenswerter Artikel eines scharfsinnigen Beobachters unlauterer rhetorischer Methoden der Angehörigen der politischen Klasse und Analytikers der Sprache der Macht.
Die Belegung mit dem Etikett von "diffusen Ängsten getrieben" ist ein äußerst effektvolles und probates Mittel zur Delegitimierung berechtigter und begründeter Kritik.

Gravatar: Coyote38

SO hatte ich das noch GAR NICHT gesehen ...^^ Vielen Dank für den interessanten Perspektivwechsel, Herr Dr. Gerke.

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