Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse. Zu Iwan Iljins christlicher Rechtfertigung von Gewalt

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Das Böse ist ein schillernder Begriff, von Philosophen fast schon ironisch bestimmt als der „Gegensatz zum Guten, nach dessen jeweiliger Auffassung sich die des Bösen richtet.“[1]. Der Begriff des „Guten“ spielt meist in metaphysischen religiösen Kontexten eine Rolle, ist aber auch deontologisch oder teleologisch gedacht worden, je nachdem, ob das Gute im „guten“ Willen besteht oder ein ihn transzendierendes Ziel hat, letztlich Gott als das absolut Gute. „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt“, schrieb Fjodor Dostojewski und fand - mit unterschiedlicher Konsequenz - bei Nietzsche und den Existentialisten Beifall. Der große Deutsche wollte nach dem Tod Gottes und der „Umwertung aller Werte“ dem Individuum „jenseits von Gut und Böse“ seine Freiheit triumphal zurückgeben; dagegen müsse für Denker wie Sartre der Mensch nunmehr illusionslos aushalten, dass es keine Rechtfertigungen und Entschuldigungen für sein Handeln mehr gibt. Es wundert nicht, dass eine aktuelle philosophische Richtung Kategorien wie „Gut“ und „Böse“ gegenüber ihrer Diskursethik als irrationale Willensqualitäten bezeichnet; für die heute allseits herrschende Postmoderne wiederum gibt es überhaupt „keine festen Grundsätze, Maßstäbe und Standards. [...] Es gibt keine objektive Realität, alles ist konstruiert und besteht nur relativ zu sozio-kulturellem und historischem Kontext.“[2] Der Marxismus hat das „Gute“ und das „Böse“ nicht nur relativiert, sondern als angeblich bürgerliche Kategorien ganz eliminiert: In der klassenlosen Gesellschaft werden solche Unterscheidungen obsolet.

„...werden sie auch euch verfolgen“

In dieser unruhigen Weihnachtszeit ist es vielleicht nicht unpassend, einmal genauer auf das Christentum zu schauen, das in diesen Tagen die Geburt des Erlösers der Welt feiert. In Joh 15,18-25 sagt Jesus: „Wenn die Welt euch hasst, so bedenkt, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. [...] Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen, [...] weil sie den nicht kennen, der mich gesandt hat. [...] Sie haben mich ohne Grund gehasst“. Der Gedanke, dass Gott Mensch geworden ist, ist zwar auch für einen Atheisten wie den Philosophen Herbert Schnädelbach „das Tiefsinnigste [...], was das Christentum hervorgebracht hat. Dass Gott Mensch geworden sein soll, macht das Christentum im wahrsten Sinne des Wortes menschlich. Diese Idee ist in der Religionsgeschichte eine Revolution!“ Doch er weiß auch: „Ein Gott, der zu den Menschen kommt – für die damaligen griechischen Philosophen war das ein Skandal, ein Irrsinn![3] Entsprechend schrieb schon Paulus klarsichtig, dieser Glaube sei genau darum „den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit.“[4] So ist es geblieben, was heutzutage in kommunistischen, hinduistischen und islamischen Staaten zu den furchtbarsten Christenverfolgungen seit Menschengedenken geführt hat: über 100 Millionen Christen sind von Verfolgung und Tod bedroht, nur weil sie Christen sind[5]. Es fällt schwer, dieser Tatsache mit relativistischen Floskeln beizukommen; wie so oft stößt sich die Theorie an der Realität. Empirisch muss hier sehr wohl von einem Übel oder Bösen gesprochen werden, dem widerstanden werden müsste

Der revolutionäre Gewalt stets befürwortende Kommunismus warf Religionen als atheistische Ideologie generell einen verdummenden Obskurantismus vor. Er ist Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts - bis auf Kuba und Nordkorea, wo die Verfolgung fortdauert - aus wirtschaftlichen und Legitimitätsgründen zusammengebrochen.  Dadurch ist die physische Bedrohung des Christentums in den ehemals kommunistisch beherrschten Gebieten weitgehend beendet. Der Hinduismus als eine gewordene, nicht gestiftete äußerst vielfältige Religionstradition des indischen Subkontinents dagegen scheint sich zunehmend von Lehren, die Gewalt und Krieg ablehnen, ab- und jenen zuzuwenden, die eine kriegerische Haltung als moralische Pflicht ansehen, wobei Gewalt nur Auswirkungen auf den Körper, nicht auf die Seele habe. Diese Lehre fördert natürlich die Gewaltbereitschaft. Leben und Tod seien ohnehin Teil einer Illusion, was zähle, sei das Spirituelle. Speziell den Christen wird heute vorgeworfen, das westliche Wertesystem einführen zu wollen, obwohl dieses keineswegs völlig mit dem christlichen identisch ist. Neben diesem kulturellen Vorbehalt spielen nationalistische Gründe ebenso eine Rolle wie religiöse: u. a. ist die Reinkarnation mit dem Christentum nicht vereinbar. Muslimen wiederum ist besonders der Gedanke der Menschwerdung Gottes eine Blasphemie -  wodurch sie, wollte man mit gleicher Elle messen wie sie es tun, jeden Christen ununterbrochen beleidigen. Der Theologe und Philosoph Martin Rhonheimer sagt deshalb zurecht: „Der Islam ist nicht eine Religion, die Jesus Christus nicht kennt. Sondern eine Religion, für die gerade wesentlich ist, Jesus als Erlöser des Menschen zu leugnen."[6] Der Islam ist also, nicht nur in dieser Hinsicht, die Antithese zum Christentum; letztlich ist er dezidiert anti-christlich (oder, im modernen Sprachgebrauch: christophob). Momentan ist er die größte Bedrohung für Christen weltweit: auch ein empirisches Faktum. Woher diese Gewalt gegen Christen (und andere Religionen) und wie können besonders Christen sich dagegen wehren?

Totalitäre religiöse Ideologie...

Der ehemalige Politiker und jetzige Publizist Jürgen Todenhöfer war vor kurzem beim IS und hat viele Gespräche geführt[7]: Ganz offen wird dort gesagt, dass die Vernichtung aller anderen als der Buchreligionen Hunderte von Millionen Opfern fordern soll und darf. Christen und Juden dürften nur überleben, wenn sie sich in Ghettos der islamischen Herrschaft unterwürfen.  (Schon Annemarie Schimmel hat in aller Unschuld den islamischen Eroberer des Industals offen dafür bewundert, dass er die Hindus nicht wie vom Islam gefordert ausgerottet, sondern ihren Status umgewidmet hat, um die Verwaltung der eroberten Gebiete nicht zu gefährden - also nicht etwa, um sie aus Menschlichkeit zu schonen.[8] Nichts zeigt deutlicher die Willkür, der Nichtmuslime unter islamischer Herrschaft schon immer ausgesetzt waren und die Betriebsblindheit muslimischer Apologeten.) Für Todenhöfer ist ausschließlich der Westen an diesem Wahnsinn schuld, weil er sich seit dem kurzen kolonialen Intermezzo erneut in die inneren Angelegenheiten der islamischen Welt eingemischt hat. Der Islam sei in Wahrheit barmherzig. Nun haben beispielsweise tschechische Widerstandskämpfer während der deutschen Besatzung sehr wohl gegen die Nazis und deren "Einmischung in innere Angelegenheiten" gekämpft. Sie haben sogar alle Deutschen von ihrem Staatsgebiet vertrieben. Aber sie haben aus dem Angriff auf ihr Land nicht die Schlussfolgerung gezogen, ihren Staat über die ganze Welt auszubreiten und alle, die ihre Auffassung nicht teilen, entweder unterwerfen oder umbringen zu wollen. Diese imperialistische und totalitäre Seite des Islam ist für ihn essentiell, wie Rhonheimer betont: „Für den Islam sind Nichtmuslime keine vollwertigen Menschen. [Es] kann deshalb keine prinzipielle Gleichheit aller Menschen aufgrund ihrer Natur [...] geben“; „traditionelle islamische Lehre besagt doch, wer sich den »Boten Allahs« widersetzt, wird damit automatisch zum Angreifer, so dass an sich jeder Eroberungskrieg als Verteidigungskrieg gerechtfertigt werden kann“; „der Islam ist seinem Wesen nach mehr als eine Religion. Er ist ein kultisches, politisches und soziales Regelwerk, will religiöse und politisch-soziale Ordnung in einem sein“; „der Islam müsste sich [...] von seiner Gründungsidee distanzieren, sein politisch-religiöses Doppelwesen aufgeben und sich damit in seiner religiösen Substanz verändern. Solange das nicht geschieht, wird es immer nur eine Frage der konkreten politischen Konstellation sein, ob und in welcher Form er sein gewalttätiges Gesicht zeigt.“[9] Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre es für Christen, den Islam nicht blauäugig nur als Religion zu sehen, sondern ihn richtig zu verstehen, nämlich als totalitäre religiöse Ideologie.

Der Islam kennt folgerichtig kein generelles Tötungsverbot, sondern hat im Gegenteil eine generelle Tötungslizenz an „Ungläubigen“, was für viele Muslime ein selbstverständlicheres Verhältnis zur Gewalt zur Folge haben dürfte. Für Christen ist es ein Problem, wie sie sich zur Gewalt verhalten sollen. Schon Selbstverteidigung wird für sie rechtfertigungsbedürftig, soll man doch seine Feinde lieben und die andere Wange hinhalten. Im Gegensatz zu den islamischen sog. "Märtyrern", die aggressiv vorgehen, ohne zum Abfall vom Glauben je gezwungen worden zu sein, haben sich die christlichen Märtyrer der Antike und in späterer Zeit einem Glaubenszwang tatsächlich durch ihr wehrloses Opfer widersetzt, das so zum „Zeugnis“ für Christus wurde, der sich ja auch für die ganze Welt geopfert hat. Gleichzeitig haben Christen sich mit der heidnischen Umwelt arrangiert und sich in ihr als „Salz der Erde“ konstruktiv betätigt, solange sie in ihrem Glauben nicht behelligt wurden. Während der Islam, ganz in logischer Weiterführung der Traditionserzählung vom Propheten, Gesetzgeber und Kriegsherrn, unter der Dynastie der Abbasiden zur Reichsideologie wurde, was er bis heute in jedem islamisch beherrschten Staat geblieben ist, führte die Tolerierung des Christentums und seine Erhebung zur Staatsreligion unter den Kaisern Konstantin und Theodosius zu Konflikten mit der Idee seines Ursprungs, die eine Trennung von Religion und Staat vorsah („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist”[10]). Die Kirche wurde dabei, trotz aller immer wieder erfolgten Verführung zu Komplizenschaft und eigenem machtvollen Auftreten, zum Garanten der Unabhängigkeit der Religion vom Staat, was sich unter anderem in Auseinandersetzungen wie dem Investiturstreit und dem Kulturkampf  äußerte. Nicht jeder Krieg von Staaten, in denen Christen leben, ist daher auch ein Krieg von Christen.

...versus utopische Ethik

Das Christentum hat eine hohe Ethik, die den Menschen bewusst überfordert. Friedrich Schlegel schrieb schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass der Islam eine umsetzbare und erfüllbare Religion sei, während das Christentum unerfüllbar sei und sich sogar häufig genug in schreiendem Gegensatz zu den Intentionen seines Gründers befinde. Genau in dieser Utopie aber liege die Stärke des Christentums, das eine Banalisierung, wie sie einer Gesetzesreligion innewohnt,  verhindere, wie der Schriftsteller Martin Mosebach betont: „Der menschliche Geist erlahmt, wenn er sich nicht unerfüllbare Ziele setzt.“[11] Ganz ähnlich argumentierte im Nachwort zu seiner Novelle „Kreutzersonate“ der Schriftsteller und Religionsphilosoph Leo Tolstoi im Zusammenhang mit der Sexualmoral.[12]  Eine Vorschrift, die erfüllbar sei, verlöre den notwendig utopischen Charakter. Nur dieser aber könne dem Menschen ein Ziel bieten, das anzustreben sich lohne. Denn indem man das Ideal nie erreiche, schreite man doch immer weiter voran und versuche, sich dem Ideal immer weiter zu nähern. Es ist klar, dass hier die Heiligkeit am Horizont aufscheint; doch ist diese nicht identisch mit der Tugend: Wer die Gebote befolgt, ist noch lange kein Heiliger.

Tolstoi war ebenso kategorisch bei der Frage der Gewaltlosigkeit. Seine Konsequenz aus der Lehre Christi war: „Widerstrebe nicht dem Übel [Bösen] will heißen: widerstrebe niemals dem Übel, d. h. übe nie Gewalt aus, d. h. begehe nie eine Handlung, die der Liebe widerspricht. Und wenn du dabei gekränkt wirst, so ertrage die Kränkung und tue dennoch dem anderen keine Gewalt an.“[13] Tolstoi meinte, dass gerade die Gewaltlosigkeit des Opfers den Gewalttäter von seinem Unrecht überzeugen würde; eine für uns Heutige, nach der Erfahrung von Holocaust und Gulag, unglaublich optimistische, ja naive Erwartung. Zwar war Mahatma Gandhi ein Schüler Tolstois und hat die Unabhängigkeit Indiens mit gewaltlosem Widerstand durchgesetzt. Doch war der Erfolg sowohl der Schwäche Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg geschuldet als auch der Tatsache, dass nicht etwa ein Hitler oder Stalin der Beherrscher Indiens war. Und während die größten Teile Europas durch friedliche Mission christlich geworden sind, hat der byzantinische Kaiser Manuel recht, den Papst Benedikt XVI. in seiner besten Rede zitierte: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“.[14] Es geht hier nicht darum, aufzuwiegen: Dass Christen ihren Glauben auch gewaltsam verbreitet haben, steht außer Frage. Doch ebenso unstrittig dürfte sein, dass dies den Intentionen des Gründers zuwiderläuft. Dem Islam hingegen geht es gar nicht primär um Mission, denn laut Koran gibt es „im Glauben keinen Zwang“[15], sondern um die Unterwerfung der Nichtmuslime unter die Scharia. Man kann es drehen und wenden wie man will: Ohne Reconquista, Kreuzzüge und Türkenkriege wäre das Christentum in Europa schon längst in einem Zustand, der mit jenem im Nahen Osten zu vergleichen wäre. Haben diese christlichen Kämpfer gegen die imperialistische Expansion von muslimischen Arabern und Türken das Christentum verraten?

Nicht heilig, aber recht

Aus dem Naturrecht auf Selbsterhaltung wird im Christentum das Recht zur Selbstverteidigung abgeleitet. Dieses Recht findet sich in jeder Moraltheologie. Es wird nicht nur individuell bestimmt, sondern kann sich auch auf menschliche Gemeinschaften beziehen, die sich verteidigen müssen. Tolstoi hat aber auch hier radikal pazifistisch argumentiert und jede Berechtigung für Gewaltanwendung, erst recht für eine Tötung mit Hinweis auf das fünfte Gebot abgelehnt; viele Pazifisten sind auch heute seiner Ansicht. Gegner des Christentums führen an dieser Stelle an, dass beispielsweise die Religions- und Kolonialkriege der frühen Neuzeit keineswegs der Selbstverteidigung gedient haben. Die Lösung des scheinbaren Widerspruchs gründet in der beschriebenen Trennung von Kirche und Staat: Die vielfältigen Verbindungen von Politik und Religion gingen meist nicht von der Kirche, sondern von den weltlichen Machthabern aus. Der Christ als das „Salz der Erde“ diktiert nicht das politische Geschehen und kommt daher leichter in Konflikt mit ihm als zum Beispiel der Moslem, der in Übereinstimmung mit einem total vom Islam durchtränkten politischen Umfeld agiert. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt: Daher müssen Christen, ein jeder für sich, entscheiden, ob und wie sie an staatlichen Unternehmungen teilnehmen, die der christlichen Lehre widersprechen. (Das fängt schon bei der staatlich erlaubten Gewalt gegenüber Ungeborenen an.) Insgesamt scheint aber Selbstverteidigung eine zu unflexible und möglicherweise zu spät ansetzende Waffe gegenüber Bedrohungen. Wenn dies von den früheren Christen durchgehend so gehalten worden wäre, wäre das Christentum heute wahrscheinlich marginal.

Atheistische Gegner des Christentums, die ihm eine grundsätzliche Anfälligkeit für Gewaltmissbrauch vorwerfen, verweisen hier fälschlicherweise gerne auf Mt 10,34ff: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit der Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter.“ Es ist eindeutig, dass Jesus nicht Gewaltanwendung meint, sondern die individuelle Sprengkraft seiner Lehre. Doch kann die berühmte Szene aus Joh 2,15 einen Hinweis geben, wie Christen das Problem von Gewalt und Widerstand neu sehen könnten: „Da machte er eine Geißel aus Stricken und jagte sie alle zum Tempel hinaus, samt den Schafen und Rindern, schüttete die Münzen der Geldwechsler aus und stieß ihre Tische um.“

Der russische Philosoph Iwan A. Iljin (1883-1954) hat, von diesem Vers ausgehend, eine Gegenposition zu Tolstoi eingenommen. Er war sechsmal von den Bolschewisten verhaftet worden, bevor er zwangsexiliert wurde - und damit noch Glück hatte. Nach einem längeren Aufenthalt in Berlin, wo ihn nach ihrer Machtergreifung diesmal die Nazis verhafteten und er vom Komponisten Rachmaninow freigekauft wurde, lebte er in der Schweiz, wo er auch verstorben ist. In seinem Werk „Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse“ (1925)[16] zog er seine Konsequenzen aus den russischen Erfahrungen, also der Zerstörung seiner Heimat durch eine totalitäre, in diesem Fall atheistische Ideologie. Ihn trieb die Frage um, wie sich Christen gegen solche Gewaltideologien wehren könnten. Dass Iljin heute von Wladimir Putin gern zitiert wird, hat diesen Denker für weite Kreise im Westen unmöglich gemacht. Hier soll es aber nicht um spezifisch russische Großmachtpläne und autoritäre Gesellschaftsmodelle gehen, sondern um die Frage, wie Iljin die Anwendung von Gewalt im Kampf gegen das Böse rechtfertigt.  (Da - wie zu erwarten - kein Buch von Iljin auf Deutsch erhältlich ist, folge ich der sicher verlässlichen Darstellung von Dirk Budde.[17])

Indem [Iljin] die physische Gewaltanwendung oder Drohung als Übel ansieht, welche auch nicht dadurch gut wird, dass sie für treffliche Zwecke angewandt wird, ist [er] andererseits der Auffassung, dass bei Fehlen anderer Mittel der Mensch nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, dem Bösen Widerstand zu leisten. Als Gewalt kann nach Iljin nur der willkürliche, unbedachte Zwang bezeichnet werden, der von einem bösen Willen ausgeht oder auf Böses gerichtet ist. „Widerstand hat aus Liebe zu geschehen (Liebe zu Gott, zum Vaterland, zum Nächsten) im Wege der Heiligung, der geistigen Erziehung anderer und durch das Schwert, wobei der Mensch, der die Last des Schwertes auf sich nimmt, um das Gute zu schützen, nicht heilig, aber recht tut. [...] Es ist richtig, dass der Weg des Schwertes kein heiliger Weg ist, aber es gibt kein geistiges Gesetz, dass der durch die Nichtheiligkeit Hindurchgehende zur Sünde geht... . Wäre es so, dann wären alle Menschen, die ständig durch die Nichtheiligkeit und sogar durch die Sünde gehen, einem ausweglosen Untergang geweiht.“ Iljin betont aber, dass in diesen Weg „im Maße der Notwendigkeit“ einzutreten und hindurchzugehen ist und dann aus ihm auch wieder hinausgegangen werden muss. Die Alternative jener Christen, die zwar wie alle Menschen Sünder seien, doch ausgerechnet in der Not „mangelnde Heiligkeit“ als „böses Tun“ verunglimpften und plötzlich Heilige sein wollten in einer „sentimentalen Gewaltlosigkeit“, entlarvt er als „Weg des Verrates an den Schwachen, Teilnahme an dem Bösen und naiv-heuchlerische Selbstzufriedenheit.“ Nur Leichtgläubige und Dumme (hedonistische und letztlich nihilistische Vollkommenheitsmoralisten) verspürten nicht, „um welchen Preis diese Ruhe und dieses Wohlgefühl [der Pazifisten] bezahlt“ würden.

Auf Jesu Wort, dass „die zum Schwert greifen, durch das Schwert umkommen werden“[18], antwortet Iljin, dass „der Tod nicht nur eine Strafe, die in dem Schwert angelegt ist, sondern auch ein lebendiges Maß für die Annehmbarkeit des Schwertes“ sei. Und diese Annehmbarkeit könne nur im oben beschriebenen Widerstand aus Liebe liegen. Deutlich erkennbar ist der hohe ethische Anspruch, der sowohl jeden Triumphalismus als auch alle falsche Beschönigung meidet: Gewalt ist ein Übel, für das der Mensch, der es aus Liebe (zu Gott, zum Vaterland, zum Nächsten) annimmt, auch den Tod in Kauf nehmen muss. Dennoch gibt Iljin dem Christen mit dieser Argumentation eine über die bloße Selbstverteidigung hinausgehende Begründung für den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse. Freilich ist auch hier wie immer die Gewissenserforschung notwendig, um die geistige Gefährlichkeit des Tuns zu bedenken und das rechte Maß zu finden. 

Relativisten, denen angeblich alles nur kontextbezogen und gleichwertig ist, verfolgen trotzdem politische Ziele, die interessengeleitet sind, und handeln entsprechend. Dabei fällt auf, dass ihnen die je eigene Position keineswegs immer verhandelbar ist, wie es von den Prämissen her eigentlich sein müsste. Sie sind mit anderen Worten verlogen. Es ist klar, dass Relativisten Überlegungen zu „Gut“ und „Böse“ nicht folgen können. Aber Christen haben ohnehin Überzeugungen und sind keine Relativisten. Sie dürfen ihr Schicksal nicht den Politikern überlassen.

 


 

[1] Heinrich Schmidt, Philosophisches Wörterbuch. Neu bearbeitet von Georgi Schischkoff. Kröner: Stuttgart 1982, S. 80

 

 

[3] idea Spektrum: Nachrichten und Meinungen aus der evangelischen Welt. Nr. 13, 2009, S. 18

 

 

[4] 1Kor 1,23

 

 

[5] John L. Allen, Krieg gegen Christen. Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 2014

 

 

[8] Annemarie Schimmel, Die Religion des Islam: Eine Einführung. Reclam: Stuttgart 1990, S. 62

 

 

[10] Mk 12,17

 

 

[12]Leo N. Tolstoi, Die Erzählungen. Band II: Späte Erzählungen 1886-1910. Artemis & Winkler: Düsseldorf 2001, S. 207-222

 

 

[13]Leo N. Tolstoi, Mein Glaube. Diederichs: München 1990, S. 31

 

 

[15]Sure 2:256

 

 

[16] Iwan A. Iljin, „O soprotivlenii zlu siloju“ in: ders., Sochinenija v dvuh tomah. Tom 1. Filosofija prava. Nravstvennaja filosofija. Russkaia kniga: Moskva 1993, S. 304ff.

 

 

[17] Dirk Budde, „Ivan A. Ilin - Vom Wesen der Rechtgläubigkeit in: Daniel Führing (Hrsg.), Gegen die Krise der Zeit. Konservative Denker im Portrait. Ares-Verlag, Graz 2013, S. 67ff.

 

 

[18] Mt 26,52

 

 

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Crono

Danke Herr Kovács,
bis auf den letzten Satz bin mir Ihnen konform. 1939 gab es das "III Reich" und keine "Nazis", sondern die NSDAP, also die NationalSOZIALISTEN waren an der Macht! Man könnte es auch anders abkürzen: SozialistischeArbeiterPartei ;-) Warum wollen Sie beharrlich nur den ersten Teil des Parteinamens behalten? Müssen Sie das tun Herr Kovács und als Professor gewisse P.C. Verpflichtungen eingehen? Wieso?
Schrieben Sie z.B. über die UdSSR der Stalinära; würden Sie Russen, Sowjets, Kommunisten oder Stalinisten schreiben? Haben generell die Kommunisten (wenn die Nazis die Gegner waren) oder die Rote Armee an der Ostfront gegen das deutsche Heer gekämpft?
Ich fand noch nicht nirgendwo in einem Buch, worin geschrieben stand, daß 1945 Stalinisten Berlin befreit (erobert) hatten. Wieso?
Seien wir doch in der Geschichtsschreibung konsequent! :-)

A viszontlátásra
Crono

Gravatar: Crono

Grüß Gott Datko, ich schieb: “ihren Kirchen ausgetreten” in Einführungszeiten und wenn Sie genug Schmalz im Hirn hätten, dann wüßten Sie auch warum, oder haben Sie Deutungsprobleme mit der Interpunktion? :-)
Wie ich merke, es bedarf eine Ergänzung: Katholiken wurden zur Zeit des III Reiches einer Verfolgung unterworfen, katholische Priester wurde schon in das erstes KZ (Dachau) eingesperrt, katholische Orden allmählich aufgelöst und viele Kloster geschlossen; Jesuiten in die Wehrmacht eingezogen u.s.w.; lesen Sie doch nicht nur den Marx, Sartre und das "Rote Buch" von Mao, sonder auch entsprechende Literatur.
In jedem Fall, u.a. jene beiden Herrn: Herr Hitler und Herr Stalin - so wie sie auch hier tun - wollten das religiöse Legen ausrotten; der Genosse Stalin hatte es definitiv schnell geschafft, der deutsche Reichskanzler Hitler hatte große Erfolge nicht nur in Deutschland sondern auch ab 1939 z.B. in besetzten Polen zu verbuchen. Hätten Sie damals gelebt, hätten Sie sich sicher sehr gefreut, aber durch die Gnade der späteren Geburt treiben Sie dasselbe Unwesen, nur auf eine Ihre, andere, subtile Art.
Die Namen wie Fiedel Castro, Pol Pot, Ulbrich, Honecker, Bierut, Benesz, Kadar (also Ihre Helden) und ihre antireligiöse Aktivitäten und Verfolgung der Gläubigen sind Ihnen sicher als einem Atheisten sehr, sehr gut bekannt.
Adiós

P.S.: ."..(was ja so fordern und fördern!);..." es sollte " .. (was Sie ja so fordern und fördern!);.." sein. Ich vergaß das "Sie".

Gravatar: Joachim Datko

Zitat: "[...] als sie mit der Religion nichts zu tun haben wollten (was ja so fordern und fördern!); d.h. nachdem Sie aus “ihren Kirchen ausgetreten” waren und in gewissem Sinne “Atheisten” wurden."

Hitler war bis zum Tode römisch-katholischer Christ. Er war z.B. auch römisch-katholischer Taufpate. Die römisch-katholische Kirche kann ihn gerne behalten.

Gravatar: Crono

@Joachim Datko sagt:
5. Januar 2015 um 11:27
... Stalin war in einem orthodoxen Priesterseminar, Hitler war Katholik.
~~~
Ja, ich weiß es; aber seine größte "Arbeit" leisteten die beiden, als sie mit der Religion nichts zu tun haben wollten (was ja so fordern und fördern!); d.h. nachdem Sie aus "ihren Kirchen ausgetreten" waren und in gewissem Sinne "Atheisten" wurden.
Haben Sie darüber auch schon nachgedacht, was so aus Ihnen noch alles werden könnte, wenn Sie eine Macht über die Menschen bekämen??

Gravatar: Adorján Kovács

@Crono
Vielen Dank. Ich will weniger auf irgendwelche Nationalitäten hinaus, sondern, das ergibt sich aus dem Zusammenhang und der Schlussfolgerung, darauf, dass Widerstand gegen einen Angriff oder eine andere "Einmischung" nicht zwangsläufig Weltmacht- und Ausrottungsfantasien nach sich zieht wie auf maßgeblicher islamischer Seite. Insofern wäre auch Polen ein gutes Beispiel gewesen. Doch davon abgesehen denke ich schon, dass man die Besetzung der "Rest-Tschechei" im März 1939 sowie die Gründung des Protektorats Böhmen und Mähren als "Angriff" oder "Einmischung" bezeichnen kann. Dass der tschechische Widerstand sich entweder an die Westmächte anschloss oder kommunistisch von der Sowjetunion abhing, ist doch bei einem kleinen Land selbstverständlich. Eine gute Übersicht bietet http://de.wikipedia.org/wiki/Tschechoslowakischer_Widerstand_1939%E2%80%931945. Schließlich glaube ich nicht, dass die Nazis 1939 ein Subunternehmen namens Deutschland hatten oder umgekehrt.

Gravatar: Joachim Datko

Sie sehen es ja heutzutage am Islam, welche schrecklichen Auswirkungen Religionen haben können.

Religionen versuchen den Menschen das Selbstbestimmungsrecht zu stehlen.

Zitat: "Wie unter Stalin, Hitler, Mao, ….[...]"
Stalin war in einem orthodoxen Priesterseminar
Hitler war Katholik

Gravatar: Crono

@Datko
. ... zurückgedrängt ..
~
Wie Datko? Wie unter Stalin, Hitler, Mao, .... und jetzt Ihresgleichen?

Gravatar: Joachim Datko

Religionen behaupten viel Unsinn!

Zitat: "Aber Iljin meint nicht die Schreibtischtäter, an die Sie wohl denken."
Eigentlich ist es unverschämt, wie Sie versuchen, den falschen Satz zu retten!

Der Satz "Auf Jesu Wort, dass „die zum Schwert greifen, durch das Schwert umkommen werden [...]" hat eine falsche Aussage.
Viele, die zum Schwert gegriffen haben, sind nicht durch das Schwert umgekommen.

Es wird höchste Zeit, dass die Religionen zurückgedrängt werden.

Gravatar: Adorján Kovács

Zwar ist, da haben Sie recht, nicht jeder durch das Schwert umgekommen, der zum Schwert gegriffen hat. Aber Iljin meint nicht die Schreibtischtäter, an die Sie wohl denken. Er meint schon das Risiko, das jemand eingeht, der es auf sich nimmt, zum Schwert zu greifen, und er argumentiert ethisch: Was Du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andren zu.

Gravatar: Crono

@Adorján F. Kovács
.... Nun haben beispielsweise tschechische Widerstandskämpfer während der deutschen Besatzung sehr wohl gegen die Nazis und deren “Einmischung in innere Angelegenheiten” gekämpft. Sie haben sogar alle Deutschen von ihrem Staatsgebiet vertrieben. Aber sie haben aus dem Angriff auf ihr Land nicht die Schlussfolgerung gezogen, ihren Staat über die ganze Welt auszubreiten
~~~~~~~~~~~~~
. tschechische Widerstandskämpfer ..... gekämpft.
... gegen die Nazis ..
... Angriff auf ihr Land ...

Herr Kovács,
Sie haben sicher die Tschechen mit den Polen verwechselt!!!

Wann gab es einen Angriff auf die Tschechei? Wer waren die tschechischen Widerstandskämpfer, wo und wann kämpften (abgesehen von jenem singulärem Attentat auf Reinhard Heydrich durch aus Groß Britannien (dort ausgebildeten) angeflogenen tschechischen Attentäter) sie?
Die Tschechei wurde nicht von Nazis besetzt, sondern von deutschen Truppen und die Deutschen hatten auch das Protektorat verwaltet. Das viele in der Administration keine Nazi sondern NationalSOZIALISTEN waren, ist doch bekannt. Seien Sie doch Herr Kovács mindestens bei der Terminologie historisch korrekt. Danke in voraus.

Gravatar: Crono

Datko, wie war der Heiliger Abend, die Christmette und die Weihnachtstage bei Ihnen? Hat das Christkind Ihrer Ehefrau, Ihren Kindern viele Geschenke gebracht?
Behüte Sie Gott vor dem beschleunigenden geistigen Verfall im Jahre 2015. Für die Buße ist nie zu spät, vor allen bei Ihnen! :-D :-) :-) :-) :-) :-) :-) :-) :-)

Gravatar: Joachim Datko

Die Geschichten um den angeblich wundertätigen Wanderprediger sind nicht authentisch, es hat ihn nicht gegeben.

Zitat: "Auf Jesu Wort, dass „die zum Schwert greifen, durch das Schwert umkommen werden [...]"

Es ist auch nicht jeder, der zum Schwert gegriffen hat, durch das Schwert umgekommen.

Joachim Datko - Physiker, Philosoph
Forum für eine faire, soziale Marktwirtschaft
http://www.monopole.de

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