Sozialtechnologie als Politik. Zur Logik der Konterrevolution in Thüringen

Die rot-rot-grüne Thüringer Regierung geht davon aus, dass die Einsichten ihres „wissenschaftlichen Sozialismus“ bereits den zwanglosen Zwang erzeugen, ihren Entscheidungen beizupflichten und sie umzusetzen. Doch ist ein Bundesland kein Automat, der auf Knopfdruck Befehle ausführt.

Veröffentlicht:
von

Vor einem Vierteljahrhundert vollzog sich in der DDR die friedliche Revolution. Mit deren Ergebnis, dem „Sieg des Kapitalismus“ auch in der DDR (einem Sieg, der zugleich das Ende des realsozialistischen Experiments in Ostdeutschland bedeutete), mochten sich viele in der vormaligen Staatspartei SED und deren Nachfolgeorganisationen PDS, Linkspartei, Linke nicht abfinden. Zwar wünschte sich kaum jemand die DDR zurück. Der Vision einer grundsätzlich anderen, einer sozialistischen, mithin nicht-kapitalistischen Gesellschaft aber folgen bis zum heutigen Tage viele Funktionäre, Mitglieder und Anhänger der Linkspartei. Dass dieses Ziel eine abermalige Revolution bedeutet, ist dabei eine mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Voraussetzung. Die Resultate der friedlichen Revolution von 1989/90 in einer neuerlichen prinzipiellen Transformation überwinden zu wollen heißt nichts anderes, als eine Konterrevolution anzustreben.

Man hat sich in der Linkspartei darauf eingerichtet, dass der Weg zur Verwirklichung der sozialistischen Transformation lang und beschwerlich sein wird. Doch weiß man die Gelegenheiten zu nutzen, um sich dem Ziel anzunähern. Die seit langem wichtigste Gelegenheit hat sich für die Linke mit der Bildung einer rot-rot-grünen Koalition („r2g“) in Thüringen ergeben, die mit Bodo Ramelow von einem Ministerpräsidenten der Linkspartei geführt wird. Erstmals nach der Wiedervereinigung sitzt die Linkspartei damit an den Schalthebeln einer Landesregierung. Von vielen Seiten wird Bodo Ramelow seither bescheinigt, dass er das kleine Land in der Mitte Deutschlands durchaus mit staatsmännischem Geschick führe. Ein Urteil, das den Gedanken, in Thüringen vollziehe sich in Wahrheit eine Konterrevolution, geradezu abwegig erscheinen lässt.

Ein genauerer Blick auf den Stil der Thüringer Regierungsarbeit und mehr noch auf das Selbstverständnis der rot-rot-grünen Koalitionäre, allen voran der Repräsentanten der Linken, zeigt allerdings, dass die Rede von der Revolution durchaus ernst zu nehmen ist. Das wird besonders offenkundig in den Äußerungen des Erfurter Staatskanzleichefs Benjamin-Immanuel Hoff. Der heute 39jährige Hoff, der sich schon in jungen Jahren als PDS-Mitglied in der Berliner Stadtpolitik engagierte und von 2006 bis 2011 Staatssekretär im Berliner Senat war, firmiert seit 2010 auch als Honorarprofessor an einer Berliner Fachhochschule für soziale Arbeit. Er pflegt mit demonstrativem Understatement den Nimbus des weltgewandten Politstrategen, der ihm auch von der Thüringer Presse angeheftet wird („Der Professor im Maschinenraum“). In der Linkspartei verortet er sich beim „Forum Demokratischer Sozialismus“ (fds), dessen Bundessprecher er für einige Zeit war. Die innerparteiliche Gruppierung versteht sich als „reformorientiert“, was für Hoff aber keineswegs bedeutet, die radikale Orientierung – das Ziel einer grundsätzlichen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse − preiszugeben. Ganz in diesem Sinne äußerte er einige Wochen nach dem Amtsantritt der rot-rot-grünen Regierung: „Wir setzen auf eine allmähliche Transformation, auf eine schrittweise Veränderung der Gesellschaft. Wenn Sie so wollen: Das Revolutionäre wird man erst in der Rückschau erkennen“. Und wiederum einige Wochen später ließ sich Hoff mit den Worten zitieren, dass „der Weg zur Revolution mit Rechtsverordnungen gepflastert“ sei.

Im Unterschied zu herkömmlichen Revolutionskonzepten der Linken, für die die Mobilisierung der Massen „von unten“ entscheidend ist, setzt Hoff nicht so sehr auf die breite Aktivierung der Bevölkerung aus der gesellschaftlichen Bewegung heraus (weshalb er das Konzept der Zivilgesellschaft augenfällig meidet). Vielmehr ist es die Regierung, die mit ihren Instrumentarien die „Transformation“ schrittweise ins Werk zu setzen hat. Ebendeshalb befasst sich Hoff mit dem Konzept der kulturellen Hegemonie, das in den Strategiedebatten der Linkspartei eine zentrale Rolle spielt. Es wurde in der Zwischenkriegszeit von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci entwickelt und steht dafür, dass bestimmte Auffassungen, Deutungen, Sichtweisen und Meinungen in der Bevölkerung zu erzeugen seien, die sich schließlich zugunsten einer bestimmten – der kommunistischen − politischen Partei auswirken und dieser letztendlich die Macht verschaffen würden.

Hoff bringt in einem Buch aus dem letzten Jahr das Hegemoniekonzept für die Auffassung in Stellung, dass die Linkspartei zuvörderst Parteibündnisse und Koalitionen schmieden müsse, um Regierungsmacht übernehmen zu können. Die Amtsmacht versetze dann in die Lage, eine linke Hegemonie in bestimmten gesellschaftlichen Milieus aufzubauen. In diesem Sinne „könnte so etwas wie ein rot-grün-rotes Projekt entstehen. Merke: durch das rot-grün-rote Handeln selbst, nicht als Voraussetzung dafür“. Nicht so sehr soll also eine kulturelle Hegemonie gesellschaftlich hergestellt werden, die dann in parlamentarische politische Macht umzumünzen wäre. Vielmehr gilt es umgekehrt, eine durch Bündnisse errungene staatliche Machtposition zur Etablierung der gesellschaftlichen Hegemonie zu nutzen. So soll erreicht werden, woran es dem historischen Realsozialismus notorisch mangelte: nämlich eine breite Unterstützung linker Positionen im Volk.

Um das hegemoniale Ziel zu erreichen, müssen Hoff zufolge bestimmte Milieus angesprochen werden, deren Eigenart und Selbstverständnis er daher unter Auswertung sozialwissenschaftlicher Milieukonzepte er aus strategischem Interesse heraus analysiert.

Selbstredend kommen diese Überlegungen eines neuen „wissenschaftlichen Sozialismus“ in der Überzeugung daher, dass das entsprechende Hegemonieprojekt nicht etwa autoritär durchgesetzt werden dürfe. Vielmehr stellt sich Hoff seine Umsetzung offenkundig als eine Art pädagogisches Verhältnis vor, in dem vor allem die Regierten von der Regierung lernen.

Hier sind Zweifel erlaubt. Hoffs Auffassungen nämlich offenbaren ungeachtet aller Beteuerungen, man müsse zuhören und spannende Debatten führen, ein sozialtechnologisches Verständnis von Politik. Über technische Lösungen indes kann nicht verhandelt und abgestimmt werden, sie sind entweder richtig oder falsch, lösen ein Problem oder nicht. Kompetenz für die angemessene Beurteilung der technischen Lösung kommt dem wissenschaftlich geschulten Experten zu, der es als solcher besser weiß als jene, die sich nur Meinungen über einen Sachverhalt bilden.

Die politische Philosophie – man denke an Hannah Arendt − kritisiert von jeher technokratische Politikvorstellungen als mit Freiheit und Demokratie nicht vereinbar. Freiheitlich ist ein Regierungshandeln demnach nicht deshalb, weil es die sachlich richtige Lösung herbeiführt, sondern weil es mittels der Berücksichtigung der Erfahrungen und Interessen der Beteiligten und im Rahmen des Rechts Entscheidungen herbeiführt, die als allgemein auskömmlich betrachtet werden können. Dementsprechend muss demokratisches Regierungshandeln die „von oben“ durchzusetzenden Entscheidungen mit den Erfahrungen „von unten“ von vornherein vermitteln und kann sich nicht auf den Standpunkt überlegenen Expertenwissens berufen. Das ist nicht so sehr ein pädagogisches Verhältnis als vielmehr ein solches der Erfahrungsangemessenheit von Entscheidungen im Rahmen des Rechts. Autoritär wird ein Regierungshandeln folglich dann, wenn es sich über die Erfahrungen und das Recht hinwegsetzt.

Nun zeigt die tatsächliche Praxis jenseits von Meinungsumfragen, dass sich die Thüringer Landesregierung tatsächlich auf den Pfad eines sozialtechnologischen Politikstils begeben hat, wie man ihn Benjamin Hoffs Gedankenwelt entnehmen kann. Erkennbar ist dies besonders gut an zwei Politikfeldern, die von der Ramelow-Regierung als Prestigeprojekte angesehen werden und die zugleich auf eine transformatorische Tiefenwirkung abzielen, nämlich die Migrationspolitik einerseits und das Vorhaben einer Kreis-, Gebiets- und Funktionalreform in Thüringen andererseits.

In beiden Politikbereichen fällt auf, dass die Regierung ihre Entscheidungen weitgehend unabhängig vom Austausch insbesondere mit der kommunalen Ebene trifft und durchzusetzen versucht. Im Falle der Flüchtlingspolitik wird dies bereits dadurch begünstigt, dass die Zuständigkeit hierfür von der rot-rot-grünen Regierung aus dem Innenministerium ausgegliedert und in das von Dieter Lauinger (Grüne) geleitete Justizministerium verlagert wurde, das nun in erster Linie als Migrationsministerium fungiert. Damit wurden aber auch Verbindungen zur Kommunalverwaltung der Landkreise und Gemeinden gekappt. Seither führen Landkreise und Kommunen unentwegt Klage über mangelnde Absprache, Koordination und Berücksichtigung der kommunalen Belange. Bereits im Frühjahr wiesen Kommunalpolitiker auf einem von der Landesregierung ausgerichteten Flüchtlingsgipfel auf die unzureichende finanzielle Ausstattung im Bereich der Flüchtlingsversorgung hin, seither aber hat sich die Lage in diesem Politikfeld nicht etwa verbessert, sondern dramatisch verschärft. Minister Lauinger bleibt indes dabei, alles richtig zu machen – weshalb zuletzt auch sein Regierungschef Ramelow auf Distanz ging. Doch ist es Ramelows Regierung, die den Kreisen und Kommunen 13 Millionen Euro vorenthält, die der Bund zur Stützung der kommunalen Flüchtlingsversorgung für 2015 zur Verfügung stellte. Es ist Ramelow, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, mit der Flüchtlingspolitik seiner Regierung nicht nur „Vorreiter einer humanitären Flüchtlingspolitik“ zu sein, sondern Thüringen mit ihr zum „bunten Herzen einer bunten Republik“ (Ramelow) zu transformieren – und nebenbei, so steht es in Hoffs Buch, „beruflich integrierte Migranten“ als dem „linksaffinen Milieu“ zugehörig für die Linkspartei zu gewinnen.

Indes deutet sich mittlerweile eine massive Erosion der Flüchtlingsverwaltung des Landes an, die manche der ihr obliegenden Pflichten nicht mehr zu erfüllen in der Lage oder willens zu sein scheint. So gibt es Bestrebungen, die Verantwortung für die Abschiebung von vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern auf Kreise und Kommunen abzuschieben, ohne dass die kommunale Ebene hier in der Entscheidungsfindung eingebunden oder gar entsprechende Rechtsgrundlagen geändert würden. Solchen Stil kann man durchaus als autoritär betrachten.

Nun mag man hier noch auf die besondere Lage hinweisen, in der sich durch den jüngsten Flüchtlingsansturm nicht nur Thüringen, sondern ganz Deutschland gegenwärtig befindet. Doch gilt das für die angestrebte und beim Innenminister Holger Poppenhäger (SPD) angesiedelte Kommunalreform in Thüringen nicht. Hier zeigt sich aber dasselbe Politikmuster: Die Regierung stellt der Öffentlichkeit Zahlen und Pläne über künftige Landkreisgrößen und Gemeindefusionen vor, ohne sich zuvor mit den Kreisen und Kommunen auszutauschen, mit denen man zwar in einem sogenannten Lenkungsausschuss am Tisch sitzt, dort aber noch nicht einmal die eigenen Planungen zu kommunizieren in der Lage ist. Stattdessen sucht man, Kritik der kommunalen Ebene zu unterbinden. Ein Schreiben des Thüringer Landesverwaltungsamtes, in dem Landräte und Bürgermeister Anfang September gedeutet wurden, dass ihnen als Amtspersonen das Recht auf freie Meinungsäußerung nur eingeschränkt zustehe, wurde nicht nur von CDU-Amtsträgern in Thüringen als Maulkorberlass kritisiert, mit dem die Regierung Kritik zu unterbinden suche.

Die fortwährende Düpierung und Missachtung der kommunalen Ebene ist symptomatisch für die Kluft, die zwischen den Bekundungen der rot-rot-grünen Regierung und der Wirklichkeit ihrer politischen Praxis besteht. Diese Kluft ist zwar auch Resultat etwa des Umstandes, dass die Regierung den Verband der Landkreise, den Thüringer Landkreistag „in strikter Opposition zur rot-grün-roten Landesregierung“ (Hoff) wähnt, vor allem aber auch Folge des skizzierten technokratischen Politikverständnisses, mit dem „r2g“ in Thüringen die Transformation des Freistaates ins Werk setzen zu können glaubt. Die Vorstellung, dass die in den Ministerien ausgebrüteten richtigen Entscheidungen quasi von selbst umgesetzt würden, stößt sich fortwährend an der Wirklichkeit eines verwobenen Mehrebenensystems (Land/Kreise/Kommunen), dessen Funktionalität auf der wechselseitigen Einbeziehung der verschiedenen Ebenen und Akteure basiert, gerade auch dann, wenn deren Interessen divergieren.

Die rot-rot-grüne Thüringer Regierung geht indes davon aus, dass die Einsichten ihres „wissenschaftlichen Sozialismus“ bereits den zwanglosen Zwang erzeugen, ihren Entscheidungen beizupflichten und sie umzusetzen. Doch ist ein Bundesland kein Automat, der auf Knopfdruck Befehle ausführt. Und so gerät die schrittweise transformatorische Revolution Thüringens auch aufgrund eines Technokratismus bereits in ihren Anfängen ins Straucheln. Das ist auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennen, doch ist es ein mehr als deutliches Zeichen, wenn Bodo Ramelow jetzt erklärt, seine Regierung befinde sich im „Ausnahmezustand“ und wenn sich die Stimmen mehren, die der r2g-Regierung Orientierungslosigkeit, Abstimmungsversagen und eine defizitäre Gesprächskultur vorwerfen. Sozialtechniker allerdings sind für derartige Irritationen ihrer Experimente in der Regel wenig empfänglich und halten dafür, dass man gegen gesellschaftliche Meinungen regieren müsse, wenn es darum geht, die Gesellschaft zu transformieren. In den Reihen von „r2g“ wird dies explizit geäußert. Es bleibt abzuwarten, wie lange die so behandelte Gesellschaft sich in Thüringen für ein derartiges Experiment hergibt.

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Gravatar: ICH Hermann max Schmidt (IHS)

[Warum glauben Sie, dass wir Beleidigungen und Verleumdungen freischalten? Diese Mühe hätten Sie sich sparen können. Die Red.]

Gravatar: PD Dr. Jörg Gerke

Ein interessanter Artikel. Wasrum aber sich in der Terminologie auf die begriffe Revolution und Konterrevolution der SED einlassen. Diese und sicher auch viele Mitglieder der heutigen Linken werden es auch heute nicht akzeptieren, daß die Wende 89/90 als Revolution bezeichnet wird.
Und sozialtechnologische Erwägungen bestimmen das Handeln der meisten Parteien der heutigen Bundesrepublikanischen Demokratie. Erstaunlich ist nur, in welchem Maße die Linke mittlerweile in der medialen Öffentlichkeit akzeptiert wird.

Gravatar: Jochen Reimar

Es müßte mathematisch korrekt "2rg" heißen (rot rot grün), "r2g" bedeutet eigentlich "rot grün grün". Aber jenseits dieser Semantik kann man es auch auf "3r" reduzieren, denn die Grünen sind eigentlich eine Melonen-Partei: Außen grün und innen komplett rot!

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang