Der „stille Mann“ ist verstorben.Christof Stählin wurde am 15.9. in Hechingen beigesetzt. Martin Betz hat eine anrührende, zugleich frohgemute und lebendige Rede gehalten, in der sich der besondere Geist von Christof wiederfand. Mir war, als läge in dem Blick auf die Welt, wie Christof ihn sowohl in seinem Leben als auch in seiner Kunst vorgeführt und wie ihn Martin weitergeführt hat, ein stärkerer Trost als in den Worten des Pastors.
„Der stille Mann“ – so heißt ein Album von ihm und benennt zugleich seine große Stärke: Er war nicht laut. Er hatte keine Lautstärke. Er hatte die leise Kraft. Er war speziell. Und doch ist sein Werk etwas für jeden von uns. Eine besondere Hinterlassenschaft sind die Schüler seiner eigenwilligen Akademie SAGO. Doch genauso gehört ein jeder, der ihn jemals auf, neben oder hinter der Bühne erlebt hat, zu seinen Schülern. Alle konnte von ihm etwas lernen: einen neuen – eigentlich alten, irgendwie vertrauten, aber verloren geglaubten – Blick auf die Welt.
Er gehörte zu den Liedermachern der ersten Stunde (Reinhard Mey, Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Walter Mossmann ...) und er gehörte gleichzeitig nicht dazu. Er und Hanns Dieter Hüsch waren stets die wundersamen Außenseiter der Szene, für die ein eigener Ton mehr galt als der rechte Ton zur rechten Zeit. Auf ihren privaten Prioritätenlisten standen sicherlich nicht solche Stichworte wie „schneller Erfolg“, „Popularität“ oder „politisches Engagement“ an erster Stelle. Da muss irgendetwas anderes gewesen sein. Ich weiß es auch nicht. Ich rate mal: Güte, Freundlichkeit, Zugewandtheit, Humor.
Christof Stählin schreibt über den Humor, den wir sehr wohl von der Satire unterscheiden sollten, in seinem Band mit dem ausführlichen Titel ‚Essays über Geschmack, Humor, Adel, Küsse und andere Gegenstände zwischen Poesie, Geschichte und Physik’:
„Nichts ist aber auch so schwer zu entdecken, wie das, was nicht so heißt, sondern so ist, nie berechnet und immer unerwartet. Ein zerstreuter Busfahrer in Bonn bog einmal eine Querstraße zu früh ab, und als er dann routinemäßig anhalten wollte, war da auf einmal gar keine Haltestelle. Der vollbesetzte Bus samt Chauffeur brach in Lachen aus. Eine Situation wie im Theater, wenn etwas eintritt, wovon das Publikum sicher sein kann, dass es nicht vorbereitet war. Wenn das von der Bühne her gut pariert wird, stellt sich plötzlich eine Art federleichter Zusammengehörigkeit aller heraus, die man sich als Antwort auf die Frage, was eigentlich Heimat sei, nur wünschen kann.“
Das gilt für uns alle. Diese stille Sehnsucht nach einem Heimatland des verzeihenden Humors wird uns erhalten bleiben. Sehen wir mal: Was geschah damals in Bonn, in dieser kleinen Weltstadt, in der früher ein erfolgreicher Politiker das Bad in der Menge suchte? Unser Busfahrer war kein Politiker, er war nicht erfolgreich. Er patzte. Doch sein Fehler wurde ihm nicht um die Ohren gehauen, er wurde nicht verspottet, gerüffelt oder angeprangert. Er befand sich eben nicht in einer Gesellschaft, die erst durch den gierigen Blick auf die Fehlerhaftigkeit der Ausgestoßenen erzeugt wird, er war vielmehr Teil einer grundsätzlich wohlwollenden, gleichwohl nur zufällig zusammengehörenden Gemeinschaft, die ihm kurzfristig ein Bad in einem unerwarteten Zuhause ermöglichte.
Heimat ist möglich. Humor ist möglich. Auch in Deutschland. Wir sind alle unterwegs in einem Bus, der möglicherweise falsch abgebogen ist. Christof Stählin erbat sich immer wieder herzlichen Applaus für die kleinen Fehler. In fast jedem Buch schleichen sich welche ein. Deshalb liegen manchmal kleine Zettel bei – so genannte Errata mit einem Verzeichnis der Druckfehler. Bei Christof Stählin heißt es allerdings nicht „Druckfehlerberichtigung“, sondern „Druckfehlerberechtigung“.
Ich empfehle, sich zur Erinnerung eine der Postkarten von ihm anzuschaffen. Er hat als eines seiner letzten Veröffentlichungen eine Partie Postkarten mit kleinen Sentenzen zusammengestellt. Die Inschrift der Karte, die mir am liebsten ist, lautet:
„Männer und Frauen sind gleich.*
*Nicht zutreffendes bitte streicheln.“
Franz Kafka hat uns die Möglichkeit hinterlassen, ein Gefühl für die Welt mit einem Vergleich zu versehen. Auch wenn wir seine Bücher nicht gelesen haben, wir kennen das Kafkaeske. Wir können also, wenn wir uns beispielsweise in den Absurditäten der Bürokratie verlaufen haben, aufstöhnen und unserer Begleitung, die uns sofort verstehen wird, zuflüstern: Das ist ja wie bei Kafka.
Es gibt aber auch unverhoffte Glücksmomente in den „Schluchten des Alltags“, es gibt „Wunderpunkte“; es gibt äußerst erstaunliche Zusammenhänge, die plötzlich aufscheinen, als würden sie ein Geheimwissen offenbaren und blitzartig einen Glanz auf die Welt werfen. Da können wir dann mit stillvergnügtem Lächeln seufzen: Das ist ja wie bei Stählin.
Liedermacher machen bekanntlich alles selber. Das taten sie schon lange vor IKEA. Sie sind Selbermacher. Das können wir auch. Wir können, wenn unsere Sinne frisch geschliffen sind, uns einen Stählin-Moment jederzeit selber machen. Durch eigene Beobachtung. Durch Selbersehen, durch Selberhören – bitte sehr: „Im Klang einer Harfe schwingt das Begriffene. Ich will nicht das Scharfe, ich will das Geschliffene“.
Das werden die Momente sein, die uns an ihn erinnern. Wir werden ihn vermissen. Wir können uns jedoch trösten, dass es diese Momente gleichwohl – auch ohne ihn – für uns geben kann, er hat lediglich darauf aufmerksam gemacht und immer wieder daran erinnert, „wie das Leben schmeckt“, er hat behutsam in die Richtung gewiesen und uns augenzwinkernd gefragt:
„Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie vielleicht, wo es hier zum Labyrinth geht?“
Hier findet sich etwas Wegzehrung.
Bernhard Lassahn: Turm der Lieder
Zuerst erschienen auf achgut.com
Kommentare zum Artikel
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Danke, Herr Lassahn, wie schön. Stählin war Gentleman und Philosoph und Sprach- und wohl auch Lebenskünstler; Sie kannten ihn wohl?
Möge er bei den Richtigen lange in Erinnerung bleiben.