Roman über die Frage von Rache oder Resozialisierung

Wer über die Fragen von Schuld und Vergebung, Rache oder Resozialisierung nachdenken will, kommt an diesem grandiosen Buch nicht vorbei.

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In der Regel führen Schriftsteller ein ziemlich langweiliges Leben. Ihr Beruf beziehungsweise ihre Berufung zwingt sie zu einsamem Tun. Wer Monate oder gar Jahre am Schreibtisch sitzt, um an einem Roman zu schreiben, der hat oft wenig Zeit für die „äußere“ Welt. Der Fall des italienischen Kriminalautors Massimo Carlotto ist die Ausnahme von der Regel. Vor seiner eigentlichen Karriere als Autor von düsteren, trostlosen Thrillern, die ihn in seiner Heimat längst zum literarischen Star machten, stand Carlotto unter Mordverdacht. Nachdem er 1976 in Padua eine ermordete Studentin in ihrer Wohnung gefunden hatte, begann ein Prozess gegen Carlotto, in welchem er seine Unschuld nicht beweisen konnte.

Erst im Jahr 1993 – nach einer sehr windungsreichen Geschichte und der zwischenzeitlichen Flucht nach Paris und nach Mexiko - wurde er aufgrund einer Entscheidung des italienischen Staatspräsidenten frei gelassen. Er war zuvor zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Wer fünf Jahre auf der Flucht und sechs Jahre im Knast war und mittlerweile höchstrichterlich als unschuldig gilt, der hat eine Menge zu erzählen.

In dem Buch „Die dunkle Unermesslichkeit des Todes“ erzählt Carlotto eine tief bewegende Geschichte, die den Leser rat- und hilflos zurück lässt. Die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Täter und Opfer verschwimmen in diesem nur knapp 200-seitigen Roman, der in einer sehr kalten und nüchternen Sprache erzählt ist und der sich auf sehr wenige Personen beschränkt.

Die Handlung ist schnell erzählt. Durch einen brutalen Raubmord verliert der gutbürgerliche Weinhändler Silvano Contin seine schöne Frau und seinen kleinen Sohn. Der Witwer kann mit diesem Schicksalsschlag nicht umgehen. Er wechselt den Beruf, verliert alle Freunde, vegetiert vor sich hin, verfettet und lebt ein äußerst ödes Dasein, das aus Arbeit, Fernsehen, dem Trinken von billigem Wein und dem Verzehr von Fertiggerichten besteht. Fünfzehn Jahre nach der Tat stellt der vermeintliche Mörder ein Gnadengesuch an Contin, der auch darauf eingeht, um Rache zu nehmen.

Schon zu Beginn an ist klar: Es gibt keinen Ausweg, weder für den durch die Tat zerstörten Silvano noch für den Mörder Raffaello, der unheilbar an Krebs erkrankt ist. Das Geschehen wird abwechselnd aus dem  unterschiedlichen Blickwinkel der beiden Protagonisten erzählt. Wird Silvanos Rache gelingen, dann werden seine Frau und sein Kind auch nicht wieder lebendig. Er wird an sein früheres Leben nicht wieder anknüpfen können. Auch wenn er scheinbar lebt, ist er doch bereits seit anderthalb Jahrzehnten innerlich tot, eine Maschine, die nur noch äußerlich funktioniert. Kann Raffaello entkommen, dann gelingt er vielleicht an die Beute des damaligen Verbrechens. Im besten Fall wird er das Geld in Freiheit mit Prostituierten verpressen können – dies jedenfalls allerdings höchstens für ein paar Monate. So jedenfalls sieht seine Version des maximalen Glücks aus, das er noch erreichen will.

Silvano hätte vielleicht eine Chance gehabt, wenn er dem Mörder schon nach der Tat vergeben und ein neues Leben begonnen hätte. Doch nun ist es zu spät. Ein völlig sinnloser Mord hat letztlich das Leben von vier Menschen zerstört. Wer über die Fragen von Schuld und Vergebung, Rache oder Resozialisierung nachdenken will, kommt an diesem grandiosen Buch nicht vorbei.

Massimo Carlotto: Die dunkle Unermesslichkeit des Todes. Wilhelm Heyne Verlag: München 2010. 188 Seiten. 7,95 Euro. ISBN 978 – 3 – 453 – 67537 – 7.

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