Computer versus Latein
Für die Arbeitswelt seien Computerkenntnisse wichtiger als eine zweite Fremdsprache, wie zum Beispiel Latein. Vergangenen Mittwoch forderte Kanzlerkandidat Steinbrück auf der CeBIT in Hannover, jedem Schüler einen Laptop oder einen Tablet-Computer zur Verfügung zu stellen. Digitale Fähigkeiten dürften kein Exklusiv-Produkt sein. Internet- und Computer-Fertigkeiten seien der Schlüssel zur Arbeitswelt von morgen. Statt Latein werde das Programmieren die neue zweite Fremdsprache sein, sagte Steinbrück und fügte hinzu: „Ich bin übrigens über Latein sitzengeblieben.“
Muß das noch kommentiert werden? Wem beim Lesen dieser Meldung nicht von allein der Hals schwillt, dem ist sowieso nicht zu helfen. Fragt sich nur, ob das Sprachrohr der EDV-Branche ein gerissener Soziopath ist, oder ob wir es mit der Verkörperung des typischen Absolventen staatlicher Bildungsinstitute zu tun haben.
Krebsgeschwür Verwaltung I
Dem Wesen und Werden nach ist jedes Instrument, jede kulturelle Errungenschaft und jede gesellschaftliche Einrichtung ein hilfreiches und notwendiges Mittel, um gewisse Zwecke zu erreichen. Doch bereits nach wenigen Generationen sorgt die Dramaturgie des Lebens für die zunehmende Verzweckung, was die zwangsläufige Erosion des Nutzens zur Folge hat. Werkzeuge, Handlungen, Institutionen werden zum Selbstzweck. Nach und nach findet die Entkoppelung von der Realität statt. Besiedelt werden die neuen Wolkenkuckucksheime von den Erben einer Idee, deren Sinn sie nicht verstehen. Hinter den Mauern der geschützten Räume tummeln sich pseudowissenschaftliche Heilsbringer und die unvermeidlichen Heerscharen der Bürokraten. Sie alle kämpfen vereint gegen die zunehmende Unordnung an, die sie selbst erzeugen. Wir sind Zeugen zerfallender Ordnungen. Was überdauert, sind die klangvollen Namen. Die immer prächtiger werdenden Fassaden stehen im Widerspruch zu ihrem inneren Zustand. Und so beklagen wir heute
- Familien, die keine Heimat für Kinder sind und Eltern, die selbst zu Kindern werden,
- Schulen, in denen die Kulturtechniken nicht gelehrt werden und Lehrer, die nicht mehr unterrichten,
- Gerichte, in denen nicht rechtgesprochen wird und Richter, die sich dem Recht nicht verpflichtet fühlen,
- Kirchen, in denen nicht gebetet wird und Priester, die nicht mehr Gottes Wort verkünden, um Trost zu spenden,
- eine Medizin, die nicht mehr heilen kann und Ärzte, die Gesunde für behandlungsbedürftig erklären,
- einen Staat, der seine Bürger nicht mehr schützt und Politiker, die zu Ausbeutern ihrer Wähler werden,
- eine Währung, die nicht stabil ist und Geld, das keine Werte schafft, sondern Werte vernichtet.
Die Sinnentleerung geht schleichend vor sich. Luftwurzeln vernetzen sich mit den Erdwurzeln und sind nicht mehr zu entfernen, ohne die Substanz zu beschädigen. Schließlich arbeiten Millionen von Menschen emsig an ihrem eigenen Untergang (ohne dies auch nur zu ahnen). So lange die Vorratskammern gefüllt sind, um die Beteiligten zu ernähren, wird die zerstörerische Tätigkeit fortgesetzt.
Übrigens ist die Administration die letzte Einrichtung eines Staates, welche im Ernstfall von der Versorgung abgeschnitten wird. Die Funktionäre der Machtelite sitzen an den Schaltstellen und lenken den Energiefluß zum eigenen Gedeihen. In den Knotenpunkten findet sich selbst dann noch Nährflüssigkeit, wenn die Leitungen der Versorgungsquellen längst ausgetrocknet sind.
Krebsgeschwür Verwaltung II
„Allein, bereits die Einrichtung eines aufgeblähten und komplizierten, von Computern abhängigen Verwaltungsapparats der Sozialhilfe schuf ein Interesse an dessen Beibehaltung und damit an der Verewigung des Fürsorgesystems selbst. Und derartige Interessen werden schnell zu schweren Hindernissen für Innovationen, selbst wenn später immer mehr gute Gründe für eine Innovation sprechen.“ (Joseph Weizenbaum. Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp 1977; - zur Lektüre empfohlen)
Sprache und Denken
In der Schule wie auch im späteren Leben hält man häufig verbale Gewandtheit fälschlich für Denken. Ein intelligenter Mensch verfällt diesem Glauben und ist so versucht, das eine durch das andere zu ersetzen, das heißt, das Denken mehr seiner verbalen Gewandtheit zu überlassen. (Denkschule, Edward de Bono)
Lernen am Computer
Lernen am Computer ist wie Schreiben im Sand oder Spucken im Wind – Gedanken zerstieben und zerfallen im Nu. Wörter sind ohne Halt, sie hinterlassen keine Spuren. Erinnerung setzt ein, wenn das Gedachte und Erlebte eingebunden ist in Ort und Zeit. Der Ort ist ein realer Raum, den der Mensch mit all seinen Sinnen erfährt. Das Zeitempfinden wiederum ist vom Erleben des Ortes und seinen Veränderungen abhängig.
Gewiß, auch der Computerbildschirm ist ein Ort. So lange damit die Hardware gemeint ist, stimmt die Aussage. Sofern der Bildschirm für einen Wald, eine Wiese, ein Tier, einen Mitmenschen, kurz, die reale Welt an sich gehalten wird, befindet man sich im Irrtum. Auf dem Bildschirm kann sich jederzeit alles abspielen, und alles ist nichts. Der Bildschirm ist die Simulation des Ortes, nichts weiter. Eine Projektionsfläche für Wunsch und Illusion.
Lernen, das von Zeit und Raum abgekoppelt ist, kann es nicht geben. Computer sind die schlechtesten Lehrer, die es gibt.
Sozialismus
Sozialismus funktioniert nicht. Das sagten nicht nur Ökonomen wie Ludwig von Mises, das bewiesen höchst eindrucksvoll die praktischen Experimente in der UdSSR und der DDR. Und was geschieht? Alles drängt danach, den Sozialismus zu verwirklichen. Machen wir uns nichts vor: Es hat nach 1989 keinen Paradigmenwechsel gegeben, bloß einen Wechsel des sprachlichen Begriffsapparats.
Das Anonyme
Das Anonyme offenbart sich in der Zerstreuung. Es ist da, und wir spüren es. Aber wir sehen es nicht. Das Anonyme ist unbeschreibbar. Dringt das Anonyme in die Gesellschaftsordnung ein, so erwächst daraus die furchtbarste Herrschaft, die wir kennen: die „Niemandsherrschaft“ (Hannah Arendt hat diesen Begriff im Zusammenhang mit der staatlichen Bürokratie geprägt).
Vertrauen entwickeln
Was unsere Kinder krank macht: die Unkontrollierbarkeit des eigenen, kleinen Daseins. Hineingestoßen in eine Flut unverstandener und überwältigender Sinneseindrücke, angeschnallt und oral befriedigt – buchstäblich „gestillt“ mittels Schnuller oder Süßgetränk, entbehrt das Kleinkind der Möglichkeit, die Welt auf eigene Faust und in Eigenzeit zu erkunden. Wo es keine vertrauten Rituale und eine damit verbundene Vorhersagbarkeit des Geschehens gibt, muß die Welt dem Kleinkind unbegreiflich, ja unheimlich bleiben. Vertrautwerden mit den Phänomenen setzt voraus: Langsamkeit, Ruhe, Wiederholung, Rhythmus und die liebevolle Begleitung durch die Mutter, die nicht immer wieder aus dem Augenkreis verschwindet, um dann in Hektik kurz aufzutauchen und „Qualitätszeit“ zu spenden. Künstlich geplante Zuwendung ist nicht dasselbe wie das Eingebundensein in einen natürlichen Lebensrhythmus. „Qualitätszeit“ ist der „Psychoschnuller“ zur Beruhigung des elterlichen Gewissens, das pocht, weil man ahnt, daß die kindlichen Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind.
„Vertrautwerden ist die Basis des Vertrauenkönnens. Ein Zuviel an Wechsel der Umgebung und an Sinneseindrücken, kann vom Kind nicht verarbeitet werden. … Mangel an altersgemäßer Geborgenheit in der frühesten Kindheit ist also gleichsam die Kurzformel für die Entwicklung schizoider Persönlichkeitsstrukturen, soweit sie mit den Umwelteinflüssen zusammenhängen.“ (Fritz Riemann. Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. Ernst Reinhard Verlag, München 1961)
Kommentare zum Artikel
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Markus, Sie sagen: "Die Welt ist in vielen Dingen viel angenehmer, schöner und aufregender als früher."
Da bin ich etwas anderer Meinung.
Auch ein Artikel zum Nachdenken unter http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/gerhard-wisnewski/piercings-tattoos-diaeten-totaler-krieg-gegen-die-geschlechter-.html
"Über Latein sitzengeblieben": Er meint wohl, wegen Latein sitzengeblieben. Wäre er damals "über" seinem Latein etwas länger sitzen geblieben, wäre er weder sitzengeblieben und könnte heute vielleicht den Tritt ins verbale Fettnäpfchen geschickter vermeiden.
Positiv ist anzumerken, dass diese äußerung des Kandidaten durch ihr realsatirisches Format durchaus überzeugt.
"Über Latein sitzengeblieben": Er meint wohl, wegen Latein sitzengeblieben. Wäre er damals "über" seinem Latein etwas länger sitzen geblieben, wäre er weder sitzengeblieben und könnte heute vielleicht den Tritt ins verbale Fettnäpfchen geschickter vermeiden.
Positiv ist anzumerken, dass diese äußerung des Kandidaten durch ihr realsatirisches Format durchaus überzeugt.
@Markus
Sie schreiben: "Die Welt ist in vielen Dingen viel angenehmer, schöner und aufregender als früher"
Ich meine: Die Welt ist in vielen Dingen unangenehmer, unpersönlicher trotz verbreiteter Duzerei, lärmender und hektischer als früher.
Heute macht der Computer zwar einiges einfacher, dafür manches aber auch irrealer.
Und vom Fortschritt der Medizin merke ich wenig, weil ich zum Glüch äußerst selten zum Arzt muss und das ein oder andere Wehwehchen lieber selbst auskuriere.
Früher sind die Menschen stumpfsinnig vor dem Fernseher gesessen, heute surfen sie interaktiv im Internet. Früher musst ich mühselig im Lexikon oder Wörterbuch blättern, heute bekomme ich die gewünschte Info in Sekundenschnelle. Die Welt ist in vielen Dingen viel angenehmer, schöner und aufregender als früher, vom medizinischen Fortschritt ganz zu schweigen.
Sie sagen es mal wieder deutlich und treffend, Frau Pfeiffer-Stolz. Beim Lesen habe ich fortwährend genickt und "genau!" vor mich hingemurmelt.
"zweite Fremdsprache Latein" - Schon dies ist m.E. ein Abstieg. Latein hat da, wo es unterrichtet wird, auf dem Gymnasium nämlich, erste Fremdsprache zu sein. Es ist die Vatersprache der abendländischen Kultur, und Schule ist ein Bildungs-, nicht Ausbildungsinstitut. Englisch lernt sichwie alle modernen Sprachen leichter, wenn man Grundprinzipien von Grammatikalität verstanden hat. Dazu ist Latein des bessere Anfang.
Und legten wir mehr Wert aufs Latein, wäre uns vielleicht auch Herr Steinbrück erspart geblieben.