Pasternak: Das vergessene Gedenkjahr

Etwas saturiert und selbstzufrieden verharmlost man in Deutschland den russischen Dichter Boris Pasternak (1890-1960); seine Leistung wird sogar vergessen: Er half mit, die Geburt der Freiheit in Russland zu ermöglichen, die heute immer noch gefährdet ist. Aber Freiheit ist immer gefährdet. Einige Anregungen zu einer neuen Lektüre seines Werkes.

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Als im Juni 1934 Jossif Stalin in der Moskauer Gemeinschaftswohnung anrief, in der auch die Familie Pasternak wohnte, und den Dichter in der „Sache Mandelstam“, des verhafteten Kollegen Pasternaks, zu sprechen verlangte, kam es zu einem der bemerkenswertesten Gespräche der Geschichte. Boris Pasternak, der Gottesnarr, sprach mit Stalin, dem Allmächtigen, wie mit Seinesgleichen und klagte zunächst über den ablenkenden Lärm in den beengten Wohnverhältnissen. Stalin sicherte eine Verbesserung von Mandelstams Situation zu und versuchte, Pasternak zu provozieren: Warum er sich nicht mehr für seinen Freund eingesetzt habe? Pasternak bemerkte, dass er in das Verfahren um den belasteten Kollegen hineingezogen werden sollte und wich aus: Poeten seien wie Frauen und daher immer neidisch aufeinander. Stalin hakte nach: Mandelstam sei doch ein Meister seiner Kunst, ein Meister? Pasternak erwiderte, das sei nicht die Frage; er selbst habe schon lange mit Stalin persönlich über ernste Dinge diskutieren wollen. Worüber denn, fragte Stalin. Über Leben und Tod. Daraufhin legte Stalin auf.

 

Dieses Gespräch zwischen dem 1890 als Sohn einer hochkultivierten russisch-jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geborenen Pasternak und dem (in Mandelstams Worten) „Bergmenschen“ aus dem Kaukasus enthält die Geschichte der russischen Literatur in der kommunistischen Ära in nuce. Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“, eine bitter-groteske Satire auf das Leben in Stalins bürokratischem Terrorstaat, evoziert sowohl den Begriff des Meisters, den der Diktator auf Mandelstam anwandte, in der Figur des titelgebenden wahren Künstlers, wie er auch die Wohnungsprobleme, die für den Sozialismus prägend bleiben sollten, thematisiert. Die Schrecken von Verbannung und Lagern multiplizierten sich in den Jahren nach dem Telefonat millionenfach und mündeten in die Literatur Solshenizyns und Shalamows. Am jungen Jossif Brodski, der sich wegen „Parasitentums“ vor einem sowjetrussischen Gericht, das Gedichteschreiben nicht für Arbeit hielt, verantworten musste, wiederholte sich die peinliche Befragung, die Pasternak durch Stalin, die oberste Obrigkeit, erdulden musste. Schließlich spiegelte sich in diesem Telefonat nicht zuletzt auch die Bedeutung des Künstlers in der sozialistischen Gesellschaft wider, die sich in einem meist bedrohlichen, oft aber auch schmeichelhaften „Interesse“ der Staatsmacht für den Schriftsteller äußerte, eine Bedeutung, die den Künstlern nach der Wende im Kapitalismus nie mehr zugebilligt werden sollte. An diesem Punkt entzündet sich auch die Frage nach der Bedeutung der sowjetrussischen Literatur und Pasternaks für heutige Leser.

 

Boris Pasternak begann seine Laufbahn im vorrevolutionären zaristischen Russland zögerlich, aber großartig: Erst wollte der hochbegabte Junge, von Skrjabin gefördert, Komponist werden, dann Philosoph. Der Neukantianer Hermann Cohen berief ihn in Marburg, wo er ein Semester studierte, zu seinem Assistenten, doch da war Pasternak schon auf dem Weg zu seinen futuristischen Lyrikanfängen. Die Gedichte von „Meine Schwester – das Leben“, geschrieben während der Juli- und Novemberrevolutionen 1917, die den ungeheuren Aufbruch der Zeit in die Stimmung eines Naturereignisses umdeuteten, machten ihn zu einem der bekanntesten Dichter Russlands. Roman Jakobson definierte diese Dichtung durch die geschliffene Verwendung von Metonymien. Die Welt ist der Welt ein Spiegel: „Der riesige Garten zerrt sich im Saale hin und her, er hebt die Faust gegen den Spiegel, läuft auf die Schaukel, fängt, trifft mit dem Ball, rüttelt – und schlägt das Glas nicht ein“ (Schlussvers des Gedichts „Der Spiegel“). In den 20er Jahren erschienen auch erste Werke delikatester Prosa („Ljuvers Kindheit“ über die Pubertät eines Mädchens, die Künstler-Autobiographie „Geleitbrief“); entstanden Bekanntschaften mit Rilke, der Zwetajewa und Majakowski.

 

Mit Stalins erstem Fünfjahresplan 1929, gefolgt von brutaler Zwangskollektivierung und forcierter Industrialisierung ohne Rücksicht auf Verluste, war jede intellektuelle Illusion über das neue System dahin. Die Formung des neuen, des sowjetrussischen Menschen erfasste auch die Künstler, die „gesellschaftlich relevant“ sein sollten. Pasternak hielt sich, soweit es nur ging, aus der politischen Diskussion heraus und hatte bald wegen dieser scheinbaren Weltentrücktheit den Ruf des Gottesnarren. Der Schriftsteller Gumiljow war schon 1921 als angeblicher Konterrevolutionär erschossen worden, in den 30er Jahren folgten die Verluste – angefangen mit Majakowskis nicht geklärtem Freitod – immer dichter aufeinander, ein Kollege nach dem anderen, Pilnjak, Mandelstam, Babel verschwanden: Er blieb übrig. Dieses Überleben empfand Pasternak als Aufforderung, den Roman dieser Zeit zu schreiben. Die Lebensumstände waren denkbar schwierig, der Krieg gegen Nazideutschland kam hinzu, mehrmals musste Pasternak Vorstufen des Romans liegen lassen, der so zu einem „work in progress“ wurde. In den 10 Jahren nach Kriegsende, immer unterbrochen von Aufträgen zu Übersetzungen (von Shakespeare, Goethe und vielen anderen); die er zum Broterwerb annahm, schuf Pasternak den mit einem Schlusskapitel aus Gedichten versehenen Roman „Doktor Shiwago“, der 1957 mit Pasternaks Billigung im Westen und erst 1988 in der Noch-Sowjetunion der Perestrojka erschien. Die auf die Verleihung des Nobelpreises folgende wutschäumende Hetze der sowjetischen Behörden schwächte Pasternaks angeschlagene Gesundheit vollends; er starb 1960 am 30. Mai in seiner Datscha bei Peredelkino.

 

Das Leben Pasternaks ist endlich in einer zweisprachigen Bildbiographie auf englisch und russisch erschienen (Boris Pasternak: Biographical Album, Gamma-Press, Moskau 2007). Der wie die bei Insel oder Kiepenheuer & Witsch herausgebrachten edlen Ausgaben von Rilkes bzw. Roths "Leben und Werk in Texten und Bildern" aufgemachte, mit 400 Seiten opulente Band enthält viele bisher unveröffentlichte Fotos und Zeichnungen aus dem Familienarchiv. Der Druck der Bilder ist leider etwas matt. Für den Text ist der Sohn des Dichters Jewgenij verantwortlich, der seit langem einer der kompetentesten Pasternak-Fachleute ist. Eine ganze Reihe hierzulande unbekannter Fakten seines Verhältnisses zur Staatsmacht verdeutlicht, was der Dichter kurz vor seinem Tod traurig feststellte: Sein Leben war ein ständiger Kampf des frei spielenden menschlichen Talents mit der herrschenden und triumphierenden Banalität. Das Buch kann über East View Information Services (http://www.eastview.com) für 144 US-Dollar (ca. 103 Euro) erworben werden.

 

Den Juden war und ist Pasternak nicht ganz geheuer, war seine Familie doch ein typisches Beispiel des assimilierten, zum Christentum konvertierten russischen Judentums. Aber Sonja Margolina schrieb 1993 in ihrer Besprechung der Neuübersetzung des "Doktor Shiwago" in der ZEIT ganz richtig: "Pasternak hielt es für einen Fehler, daß die Juden es >versäumt< hatten, Christen zu werden. Er selbst lehnte es ab, das Stigma eines Juden zu tragen; die Vorstellung, er sei nicht nur Mensch, sondern außerdem noch Jude, war für ihn unerträglich. Nicht umsonst war er ein Schüler Herrnann Cohens." Dass er den menschlichen Universalismus, der die Unterscheidung in Völker für alle Zeiten aufhebt, im Christentum verwirklicht sah, kann man mit Margolina für naiv halten, er ist jedenfalls Ausdruck einer humanistischen Utopie, die wie eine Kehrseite der kommunistischen Weltverbrüderung wirkt. Die Verfolgungen, die seine Eltern zwangen, auszuwandern und die er erleben musste, galten jedenfalls der Intelligenzija und nicht dem Judentum, waren aber eben darum genauso eine Negation des Universalismus und provinziell. Kein Grund, sich nicht mit Pasternaks Konzeption des "Volkes" auseinanderzusetzen, das er für "illegitim" und durch das Konzept der "Persönlichkeit" ersetzt hielt.

 

In Deutschland ist Pasternak nie richtig angekommen. Nach einer kurzen Hysterie um „Doktor Shiwago“, in Zeiten des Kalten Krieges vorwiegend politisch motiviert, folgte die Hollywood-Verfilmung durch David Lean, welche die melodramatischen Aspekte der Liebesgeschichte – nicht einmal schlecht - in den Vordergrund stellte und in der amerikahörigen BRD die breite Rezeption des Romans bestimmte. Mit dem Untergang des kommunistischen Ostblocks musste der Dichter, der im geteilten Frontland Deutschland meist nur als der Dissident – auch hier im „Interesse“ der Staatsmacht - wahrgenommen worden war, an den Rand des Vergessens geraten. Eine nach der Wende begonnene Werkausgabe im Aufbau-Verlag (heute vergriffen, aber im Internet ohne weiteres erhältlich) musste mangels Interesse unvollendet bleiben – was sollte man mit Dichtern, die gegen ein System waren, das es nicht mehr gab?  Dennoch spiegelt sie die Bandbreite des Schaffens dieses großen Dichters bestens wider. Es sei besonders auf die Vorstufen zum Roman  und die originellen Essays zu Chopin, Verlaine und Shakespeare hingewiesen. Pasternak fehlte vielleicht auch ein Übersetzer und unermüdlicher Propagator, wie ihn Mandelstam in Ralph Dutli und die polnische Literatur in Karl Dedecius hatten. Ein deutlicher Hinweis auf die mangelnde Sorgfalt der Beschäftigung mit diesem Dichter ist die Tatsache, dass „Doktor Shiwago“ niemals anhand einer zuverlässigen Textgrundlage ins Deutsche übersetzt wurde. In Italien oder Frankreich stehen dem Leser weitaus bessere Ausgaben der Werke Pasternaks zur Verfügung, die auch Varianten und verworfene Textanteile aufweisen. Der 120. Geburtstag und 50. Todestag im Jahre 2010, anlässlich deren offenbar keine besonderen Buchveröffentlichungen geplant wurden, könnte nachträglich doch zum Anlass einer Neubewertung Pasternaks in Deutschland genommen werden.

 

Die Ausgabe des Romans im Verlag Artemis & Winkler, obwohl noch nicht ideal, könnte dabei vorbildhaft wirken. Es ist die einzige Ausgabe, die halbwegs ausführlich, dabei aber hervorragend kommentiert ist und nach der politischen endlich auf eine genuin literarische Beschäftigung mit Pasternak verweist. Wie auch bei Shostakowitsch das für seine Reputation ruinöse „Interesse“ der sowjetischen Staatsmacht im Westen unter umgekehrten Vorzeichen aufgenommen wurde und zu plakativen Interpretationen seiner Symphonien führte, aber nunmehr einer immer breiteren und tieferen Deutung seines Werkes innerhalb primär musikalischer Bezüge Platz macht, so könnte in Deutschland der Roman und mit ihm das ganze Werk des russischen Dichters endlich in seiner hohen literarischen Bedeutung erkannt werden. Wie der sowjetische Musiker „volkstümlich“ und „verständlich“ zu komponieren versuchte und gleichzeitig seine Komplexität und Qualität beizubehalten verstand, so gestaltete Pasternak den „Shiwago“ als Schein-Trivialroman, der den oberflächlichen Leser zufriedenstellen konnte, dem er aber nicht nur einen Subtext unterlegt hatte. Der Roman handelt auf der einen Ebene von der Geschichte der Weltphilosophie wie auf anderen von der Geschlechtsdifferenz, der Offenbarung oder dem Künstlerproblem. Aus dem „Geleitbrief“:  „Das klarste, denkwürdigste und wichtigste Ereignis in der Kunst ist ihre Entstehung, und die größten Kunstwerke der Welt, die von den mannigfaltigsten Dingen künden, beschreiben in Wirklichkeit ihre eigene Geburt.“ So geht es in „Doktor Shiwago“ tatsächlich vor allem darum, wie und warum der Roman „Doktor Shiwago“ geschrieben wurde. Die wahren Leser des Romans reagierten auf diese Geburt wirklich freien Denkens, diese Darstellung eines innerlich freien Menschen mit befreiter Kreativität. Zum Schluß sei deshalb aus dem Nachwort Fritz Mieraus zum „Shiwago“ des Aufbau-Verlags zitiert: „ Aber mit den Jahren ist deutlich geworden, dass eine Vielzahl, ich vermute sogar: die Mehrzahl literarischer, politischer, philosophischer Entscheidungen [in der Sowjetunion; AFK] im Hinblick auf den […] Roman getroffen wurde. […] Es bleibt darzustellen, wie Wassili Grossmans >Leben und Schicksal<, Solshenizyns >Krebsstation< und >Im ersten Kreis der Hölle<, wie Andrej Wosnessenskis und Jossif Brodskis Gedichte, wie Sinjawskis und Daniels Prosa, wie die weitverzweigte nichtoffizielle, verfolgte Literatur ebenso wie die offizielle Literatur in der Auseinandersetzung mit >Doktor Shiwago< entstand.“  Mierau schrieb dies im Jahre 1989 kurz vor dem Fall der Mauer; 21 Jahre danach bleibt in Deutschland noch viel für eine neue Lektüre von Pasternaks Werken zu tun. Es würde sich ausserordentlich lohnen.

 

 

Ausgaben:

Boris Pasternak: Gesammelte Werke 1-4

     

  1. Band:               Gedichte und Poeme. Aufbau-Verlag, Berlin 1996
  2. Band:               Prosa und Essays. Aufbau-Verlag, Berlin 1991
  3. Band:               Doktor Shiwago. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 1992
  4. Band:               Briefe (nicht erschienen)
  5.  

Zusatzband:      Erinnerungen. Aufbau-Verlag, Berlin 1994

 

Boris Pasternak: Doktor Shiwago. Roman. Artemis & Winkler, Düsseldorf 1997

 

Petr and Eugeny Pasternak (ed.): Boris Pasternak: Biographical Album. Gamma-Press, Moscow 2007

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Crono

Jó napot.
... der Krieg gegen Nazideutschland ...

Warum schreiben Sie nicht: "gegen Deutschland" bzw. "gegen das III Reich". Warum immer dieses psychologisieren? Könnten Sie nicht historisch "wertfrei" schreiben oder ist das an der Uni-Frankfurt nicht erlaubt bzw. nicht PC? Fürchten Sie unangenehme Konsequenzen?
Gestern hatte ich bei einer Sendung im Fernsehen über die Atlantikschlacht während des II W.K. wieder gehört: die "nationalsozialistische Kriegmarine, die Nazi-Kommandanten u.s.w.). Hat der Kommentator sich mit der Parteizugehörigkeit der Kriegsmarineangehörigen überhaupt beschäftigt? Nein!! Aber es paßt für die linksdominierten Massenmedien. Man formt doch einen neuen Bundesrepublikaner.
So wie ihres ... "der amerikahörigen BRD" ...
Ich lese gerne Ihre Beiträge, aber Ihre "ideologische Konditionierung" Herr Professor lassen Sie lieber in dem Vorlesungssaal.

Gravatar: @Kovacs

ich mag die Tschechen nicht... und die russen auch nicht

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