ÖDP: Das Elterngeldgesetz ist verfassungswidrig (Teil II)

 

Im ersten Beitrag vom 16. 6. 2011 wurde auf politischen Einwände gegen das Elterngeldgesetz eingegangen. Sind diese Einwände auch verfassungsrechtlich relevant oder bewegt sich das Gesetz noch im Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers?

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Auch ein auf demokratischem Weg zustande gekommenes Gesetz kann ohne neuen Beschluss des Bundestages „gekippt“ werden, wenn es gegen die im Grundgesetz verankerten Grundrechte verstößt. Ist das hier der Fall und wenn ja, welche Grundrechte werden verletzt?

 

Nach Auffassung der ÖDP verstößt das Elterngeldgesetz zumindest in drei Punkten gegen das Grundgesetz:

 

     

  • Art. 3 Abs. 1 GG lautet: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Das bedeutet allerdings nicht, dass eine Ungleichbehandlung grundsätzlich untersagt ist. Es muss aber dafür einen rechtfertigenden Grund geben. Die Besserbehandlung ärmerer Familien im Rahmen des früheren Erziehungsgeldes war durch das Sozialstaatgebot, das ebenfalls im Grundgesetz verankert ist (Art. 20) gerechtfertigt. Es gibt aber keinen Grund, ärmeren Eltern weniger steuerfinanzierte Sozialleistungen zuzuerkennen als wohlhabenderen, zumindest keinen Grund, der mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

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Beispiel: Ärmere Bürger erhalten Wohngeld, das andere nicht erhalten.

Begründung: Sie könnten sich sonst keinen menschenwürdigen Wohnraum leisten.

Gegenbeispiel: Besitzer großer Häuser erhalten einen Heizkostenzuschuss.

Begründung: Wer ein großes Haus beheizen muss, hat höhere Heizkosten.

 

Die Beispiele zeigen den Unterschied: Das erste Beispiel ist Existenzsicherung, das zweite Lebensstandardsicherung. Die erste Begründung ist „ein rechtfertigender Grund“ für eine Ungleichbehandlung, die zweite nicht. Der Besitz eines großen Hauses ist ein Kennzeichen von Wohlstand, aber kein Grund für eine finanzielle Begünstigung.

 

Die steuerfinanzierte Begünstigung von Personen, die ohnehin schon wohlhabender sind, durch das Elterngeldgesetz lässt sich verfassungskonform nicht begründen und widerspricht auch dem Sozialstaatsgebot. Tatsächlich ist damit das Elterngeldgesetz ein Fremdkörper im deutschen Sozialrecht.

 

     

  • Art. 6 Abs. 1 lautet: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ Heute ist unbestritten, dass auch Alleinerziehende mit ihren Kindern „Familie“ sind und somit ebenfalls „unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ fallen. Dieses im Grundgesetz verankerte Grundrecht auf „besonderen Schutz“ der Familie bedeutet, dass der Staat Rahmenbedingungen zu schaffen hat, die es den Eltern ermöglichen, ihre Kinder unter entspannten Bedingungen zu erziehen. Ein Elterngeld zum Teilausgleich der durch Kinder bedingten finanziellen Belastungen infolge der Sachkosten und des Verdienstausfalls entspricht daher grundsätzlich dem Grundgesetz. Dabei steigen die Belastungen für die Eltern eindeutig mit der Zahl der Kinder. Wenn aber nun die staatlichen Leistungen mit steigender Kinderzahl geringer werden, wie es beim Elterngeld die Regel ist (also z. B. 1800 € monatlich beim ersten Kind, aber nur 300 € beim vierten Kind); dann kann das nicht mit dem Verfassungsgebot zum Schutz der Familie vereinbar sein.

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Beispiel: Wenn ein Elternteil vor der Geburt eines ersten Kindes mit 40-Stundenwoche voll erwerbstätig war, beträgt das Elterngeld bis zu 1800 €. Hat dagegen der gleiche Elternteil (Mutter oder Vater) vor der späteren Geburt eines vierten Kindes zuvor drei kleine Kinder (mit 2, 4 und 6 Jahren) im Rahmen einer 60-Stundenwoche betreut, beträgt das Elterngeld 375 € (300 € Mindestbetrag und 75 € „Kinderbonus“). Die Erwerbsarbeit vor der Geburt wird damit 20 (zwanzig !) mal höher bewertet als die umfangreichere Erziehungsarbeit. Das ist ein klassisches Beispiel für die Minderbewertung der Erziehungs- gegenüber der Erwerbsarbeit, die hier ausgerechnet im Elterngeldgesetz deutlich wird. Das kann nicht mit dem verfassungsrechtlichen Schutzgebot gegenüber der Familie vereinbar sein.

 

     

  • Art. 6 Abs. 2 lautet: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Relevant im Hinblick auf das Elterngeldgesetz ist der erste Satz. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dem Staat „jede belastende Differenzierung“ verboten, die an der „Wahrnehmung des Elternrechts“ anknüpft (laut erstem Leitsatz eines Urteils vom 10. November 1998 – 2 BvR 1057/91). Wenn nun der Staat die Betreuung eines Kindes durch die Eltern über das erste Lebensjahr hinaus zum Anlass nimmt, bei einem weiteren Kind das Elterngeld wesentlich niedriger anzusetzen als bei einer Fremdbetreuung ab dem 2. Lebensjahr (also z. B. insgesamt 3600 € gegenüber 21600 €); dann nimmt er zweifellos eine „belastende Differenzierung“ vor, die an der „Wahrnehmung des Elternrechts“ ansetzt, die ihm nach diesem Urteil aufgrund von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG verboten ist. Es kann schließlich kein Zweifel darüber bestehen, dass die Betreuung eines Kleinkindes über das erste Lebensjahr hinaus zur „Wahrnehmung des Elternrechts“ gehört. Ebenso wenig kann ein Zweifel darüber bestehen, dass die Zahlung von 3 600 € statt 21 600 € (über 12 Monate hinweg) eine „belastende Differenzierung“ ist.

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Fachjuristische Bewertung

 

Die geschilderte Rechtsauffassung der ÖDP steht in klarem Gegensatz zur Mehrheitsauffassung aller fünf Bundestagsparteien. Es lag daher nahe, die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Elterngeldgesetzes zunächst von einem wissenschaftlich anerkannten sowohl sozialrechtlich als auch verfassungsrechtlich versierten Fachjuristen beurteilen zu lassen. Die ÖDP hat daher von Herrn Prof. Dr. iur. Thorsten Kingreen, dem Lehrstuhlinhaber für Sozialrecht, öffentliches Recht und Gesundheitsrecht der Universität Regensburg ein wissenschaftliches Gutachten zu dieser Frage erstellen lassen.

 

Dieses Gutachten wurde Ende Dezember 2010 fertig gestellt und kommt unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Wesentlichen zu sehr ähnlichen Beurteilungen, wie sie oben mit einfachen Worten wiedergegeben wurden. Seitdem wird das Gutachten dazu verwendet, die von der ÖDP unterstützten Klagen zu untermauern. - Das Gutachten kann aber auch anderen Klägerinnen oder Klägern gegen das Elterngeldgesetz zur Verfügung gestellt werden.

 

Alternative zum bestehenden Elterngeldgesetz

 

Eine finanzielle Gegenleistung für die Kindererziehung der Eltern ist gerechtfertigt und überfällig. Eine Benachteiligung von Mehr-Kinder-Familien oder von noch in Ausbildung befindlichen oder gering verdienenden Eltern darf aber damit nicht verbunden werden. Eine gleich hohe Leistung für alle ist nicht nur verfassungsgemäß, sozial gerechter sowie politisch vernünftiger und nachhaltiger. Sie macht auch eine teure mit komplizierten Einkommensberechnungen beschäftigte Bürokratie überflüssig, einschließlich eines Rattenschwanzes von gerichtlichen Auseinandersetzungen. Das gesparte Geld ist bei den Familien besser angelegt.

 

Der Weg zum Bundesverfassungsgericht

 

Das Elterngeld wird auf Antrag gewährt, der innerhalb von drei Monaten nach einer Geburt zu stellen ist. Allen Eltern ist zu empfehlen, den Höchstbetrag von 1800 €/Monat zu beantragen, der anderen Elterngeldberechtigten tatsächlich gezahlt wird. Nur so kann eine Gleichstellung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes begründet werden. Die Elterngeldbehörde wird diesen Antrag durch Bescheid und im nächsten Schritt durch einen Widerspruchsbescheid ablehnen, da sie über die Verfassungsmäßigkeit gar nicht entscheiden darf. Sie wird nur das geringere Elterngeld, also z. B. den Mindestbetrag von 300 € zuerkennen.

 

Gegen den Widerspruchsbescheid ist innerhalb eines Monats Klage beim zuständigen Sozialgericht (SG) zu erheben. Auf das zu erwartende ablehnende Urteil ist dann wieder innerhalb eines Monats Berufung beim zuständigen Landessozialgericht (LSG) einzulegen. Auch von dort ist ein ablehnendes Urteil zu erwarten, gegen das grundsätzlich Revision beim Bundessozialgericht (BSG) möglich ist, die aber vom LSG zugelassen werden muss, was allerdings meistens nicht erfolgt. Zur „Ausschöpfung des Rechtsweges“ ist dann Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) beim BSG einzulegen. Erst nach deren Ablehnung bestehen die formalen Voraussetzungen für eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht.

 

Nun ist zu fragen, warum Sozialgerichte und Landessozialgerichte bisherige Klagen gegen das Elterngeldgesetz abgelehnt haben, obwohl die offensichtlich berechtigten Zweifel an dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz vorgebracht wurden. Tatsächlich hätten diese Gerichte nach Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes die Möglichkeit, diese Frage direkt dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorzulegen. Allerdings wird dabei gefordert, dass das untergeordnete Gericht das betreffende Gesetz bereits für „verfassungswidrig“ halten muss. Bestehende „Zweifel“ genügen für eine solche Vorlage nicht. Damit ist es den Richterinnen und Richtern an diesen Gerichten leicht möglich, sich sozusagen „am Grundgesetz vorbeizumogeln“. Es genügen ja schon geringe „Zweifel“ an der Verfassungswidrigkeit, um eine Vorlage beim Bundesverfassungsgericht zu umgehen, die im Übrigen mit hohem Arbeitsaufwand verbunden wäre. – Auch dürfte das Elterngeldgesetz in der bestehenden Form der persönlichen Interessenlage der Richterinnen und auch der meisten Richter entgegenkommen, da sie in der Regel zu der durch das Gesetz begünstigten Oberschicht gehören. – Es bleibt nur zu hoffen, dass die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht, die einer Entscheidung nicht mehr ausweichen können, sich ausschließlich an sachlichen Gesichtspunkten orientieren.

 

Mit der oben beschriebenen formalen „Ausschöpfung des Rechtsweges“ ist aber der Zugang zum Bundesverfassungsgericht nicht unbedingt frei. Der Rechtsweg muss auch „ordnungsgemäß“ ausgeschöpft sein, d.h. die inhaltliche Begründung der NZB darf nicht „mangelhaft“ sein. Ob die Begründung einer NZB als ausreichend betrachtet wird oder nicht, wird vom Bundesverfassungsgericht im Vorfeld geprüft, also bevor eine Beschwerde überhaupt als solche angenommen wird. Wird die Begründung einer NZB für ungenügend gehalten, kann die Verfassungsbeschwerde als „unzulässig“ verworfen werden. Sie wird dann selbst gar nicht mehr geprüft.

 

Wenn also die NZB beim BSG nur als „Hürde“ verstanden wird, um beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde einlegen zu können und deshalb nicht sorgfältig begründet wird, kann die Beschwerde selbst schon ins Leere laufen.

 

Als Beispiel sei ein Zitat aus einer Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts aufgeführt (Aktenzeichen AR 6185/10); das auch eine Klage gegen das Elterngeldgesetz betrifft, die allerdings nicht von der ÖDP finanziell unterstützt wird:

Gleichzeitig würde der aus der Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig durch das Bundessozialgericht folgen, dass bezüglich des vorangegangenen Urteils des Bayrischen Landessozialgerichtes der zulässige Rechtsweg nicht ordnungsgemäß erschöpft wurde und eine Verfassungsbeschwerde aus diesem Grunde unzulässig wäre.“

 

Hier wird also die Entscheidung des BSG als Begründung verwendet, die Berechtigung einer Verfassungsbeschwerde in Frage zu stellen. Damit wird der zu überprüfende Beschluss des BSG zu seiner eigenen Rechtfertigung herangezogen. Es wird versucht, einer verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung mit dem zugrunde liegenden LSG-Urteil auszuweichen.

 

Ein Ausweg aus dieser Zwickmühle kann offensichtlich am ehesten so aussehen: Gleichzeitig mit der NZB ist auch Verfassungsbeschwerde gegen das LSG-Urteil einzulegen. Diese wird dann zwar unter Hinweis auf die noch laufende NZB noch nicht angenommen. Sie lebt aber nach dem ablehnenden Beschluss des BSG wieder auf. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dann auch mit dem LSG-Urteil selbst auseinanderzusetzen und kann seine Stellungnahme nicht mehr einfach auf den Beschluss des BSG beschränken, weil die einmonatige Frist für Einlegung einer Verfassungsbeschwerde auch gegenüber dem LSG-Urteil eingehalten ist.

 

Diese Sachlage zeigt schon, dass das Recht jeden Bürgers, eine Verfassungsbeschwerde einzulegen, wenig Wert hat, wenn er nicht gleichzeitig über die Geldmittel verfügt, pfiffige Rechtsanwälte zu bezahlen, die in der Lage sind, die juristischen Fallstricke zu umgehen.

 

Die konkreten von der ÖDP unterstützten Klagen

 

Von der ÖDP werden gegenwärtig sechs Klägerinnen unterstützt. Diese Klagen befinden sich z. Z. auf verschiedenen Stufen der Gerichtsbarkeit (LSG, BSG, Bundesverfassungsgericht). Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegt bisher noch nicht vor. Dabei zahlt sich jetzt aus, dass sich die ÖDP von vornherein nicht auf einen oder zwei Fälle beschränkt hat, sondern trotz der höheren Kosten eine größere Zahl von Klägerinnen unterstützt. So konnte aus dem Verlauf vorangegangener Verfahren gelernt werden.

 

Die Kosten der Klagen gegen das Elterngeldgesetz

 

Wie der eingangs erwähnte Parteitagsbeschluss zeigt, war die ÖDP von Anfang an mehrheitlich von der Verfassungswidrigkeit des Elterngeldgesetzes überzeugt. Um diese Auffassung einer gründlichen juristischen Prüfung zu unterziehen, wurde das bereits erwähnte Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Schon das allein bedeutete für eine kleine Partei einen gewaltigen finanziellen Kraftakt. Jede weitere Klage, die unterstützt wurde, bedeutet zusätzliche Kosten. Dieser finanzielle Aufwand zeigt, dass das Eintreten für die Grundrechte von Eltern einen ganz wesentlichen Schwerpunkt der ÖDP-Politik bedeutet.

 

Johannes.Resch@t-online.de erfragt werden.

 

 

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