Novembergespräch: In der Trauer lebt die Liebe weiter

Die bekannte Psychotherapeutin Dr. habil. Elisabeth Lukas im Gespräch mit Michael Ragg über die Botschaft der Trauer. Ein Plädoyer gegen die heutige Anspruchshaltung und die Verdrängung des Leidens durch die Spaßgesellschaft.

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Die bekannte Psychotherapeutin Elisabeth Lukas über die Botschaft der Trauer und wie unser Leben durch sie an Qualität gewinnt.

 Das Gespräch führte Michael Ragg.

 

Frau Dr. Lukas, warum sieht man in der Trauer vieles klarer als im Alltag?

Dr. Elisabeth Lukas: Von meinem Lehrer, Professor Viktor E. Frankl, stammt das Wort: „Das Leiden macht den Menschen hellsichtig und die Welt durchsichtig“. Der Trauernde sieht das Wesentliche deutlicher. Wir befassen uns im Alltag mit sehr vielen Dingen, die bedeutungslos werden, wenn wir an eine Grenze unseres Lebens stoßen. Anderes, bisher wenig beachtet, wird auf einmal wichtig und erhält einen ganz anderen Stellenwert. Ein Ereignis, das Trauer auslöst, verändert uns.  

 

Liegt darin der Sinn der Trauer?

Dr. Elisabeth Lukas: Im Glück fragt niemand nach Sinn – obwohl das ja auch möglich wäre. Aber im Trauerfall beschäftigt die Sinnfrage den Menschen besonders stark. Nun glaube ich nicht, dass man in der Tatsache des Verlustes selbst einen Sinn sehen kann. Angenommen, Eltern haben ein Kind durch einen Verkehrsunfall verloren. Es wäre fast pervers, darin einen Sinn zu suchen. Man kann Sinn finden, in dem, was gewesen ist. Auch das Dasein dieses Kindes zum Beispiel war voller Sinn, selbst wenn dieses Dasein begrenzt war. Da scheint übrigens eine Wahrheit auf: Das Leben hat, unabhängig von seiner Dauer, einen bedingungslosen Sinn. Es hat einen Sinn, obwohl es brüchig und vergänglich ist. Die zweite Möglichkeit, Sinn in einem Unglücksfall zu suchen ist, dass man sinn-voll auf das Ereignis reagiert, dass man sinn-voll auf den Verlust antwortet. In der Art und Weise, wie man das Schicksal trät, gibt es wieder sehr sinnvolle Möglichkeiten.

 

Lehrt Trauer Dankbarkeit?

Dr. Elisabeth Lukas: Trauer und Dankbarkeit hängen eng zusammen. Ein Mensch, der einen Grund zur Klage hat, hat automatisch immer auch einen Grund zur Dankbarkeit. Die Klage drückt ja den Schmerz aus, dass sich etwas nicht mehr fortsetzt und das heißt, dass vorher etwas im Leben eines Menschen da war, das ihn beglückt und bereichert hat, das sein Leben zum Leuchten gebracht hat. Jedenfalls ist die Trauer der Preis für eine Liebe, die gelebt worden ist. Liebe zur Heimat zum Beispiel und dann Trauer über den Verlust der Heimat, oder Liebe zu einem Menschen und entsprechende Trauer, wenn dieser Mensch nicht mehr da ist oder sich von einem getrennt hat. Es ist Liebe zu etwas, Begeisterung für etwas ins Leben hineingekommen. Wirklich arm sind nicht die Menschen, die große Verluste erleiden, sondern die, in deren Leben überhaupt nichts ist, das sich je beweinen können.

 

Mit diesem Gedanken könnte man sich ganz gut trösten. Aber so einfach ist es ja meistens nicht. Neben der Trauer über den Verlust spüren wir oft noch etwas anderes: Wir sind vielleicht mit dem Partner, dem Vater, den beruflichen Möglichkeiten, die wir verloren haben, schlecht umgegangen. Wir haben Fehler gemacht, die wir nun nicht mehr gut machen können. Das wird uns jetzt schmerzlich bewusst.

 Dr. Elisabeth Lukas: Wenn Schuldbewältigung zur Trauer hinzukommt, ist es in der Tat noch schwieriger. Man muss zwei Momente bewältigen: die Trauer und die Schuld. Dass man sich dem Wert, den man geliebt hat, nicht entsprechend verhalten hat, ist ja ganz menschlich. Wir sind Menschen und machen Fehler. In diesem Fall muss zur Trauerarbeit noch so etwas wie Reue im guten Sinne dazukommen, keine Selbstzerfleischung. Man muss in eine Erkenntnis hineinwachsen, wie man sich hätte richtig verhalten sollen und wie es vielleicht in Zukunft gut sein könnte. Mann lernt aus der Trauer. Vielleicht findet man auch eine Möglichkeit, das, was man versäumt oder falsch gemacht hat, irgendwie wieder gut zu machen, vielleicht in anderen Zusammenhängen oder bei anderen Menschen.

 

Gelebte Werte sind unzerstörbar

 

Sie sagten, der wirklich arme Mensch sei der, der gar nichts zu betrauern hat. Nun ist man ja heute sehr darauf aus, Leid überhaupt zu vermeiden. Man will immer gut drauf sein – „fit for fun“. Ist das der seelischen Gesundheit, dem Glück des Menschen zuträglich?

Dr. Elisabeth Lukas: Zu glauben, Leid sei nur ein zu vermeidendes Übel, ist eine gefährliche Verkennung des Lebens. Zum einen haben wir heute eine gigantische Anspruchshaltung, die uns auch diese Verabschiedungen so schwer machen. Unser Anspruch heißt: Es hat alles da zu sein, was wir wünschen und das auch noch beliebig lange Zeit. In Wirklichkeit gibt es gar keinen Anspruch, weder auf ein gutes, noch auf ein langes, noch auf ein gesundes Leben. Jeder Tag, an dem wir leben können, ist ein Geschenk, eine Gnade. Wir hätten weder zu diesem Leben erwachen müssen, noch müssen wir ein langes Leben haben. Zum anderen ist menschliches Leben unabdingbar mit dem verknüpft, was Professor Frankl die „tragische Trias“ des menschlichen Lebens nennt: Leid, Schuld und Tod. Es gibt kein Menschenleben, dem diese drei Dinge erspart bleiben.

 

Wie setzt sich Liebe in der Trauer fort?

 Dr. Elisabeth Lukas: Da man um einen Wert trauert, kann man diesem Wert ja innerlich verbunden bleiben. Man kann auch einem Verstorbenen innerlich verbunden bleiben und das machen die Leute auch. Diese Liebe ist etwas Tröstliches. Die Zeit, die man mit dem Wert zusammen hat verbringen können, nimmt einem auch keiner weg. Das gelebte Leben, die gelebten Werte sind unzerstörbar in der Vergangenheit, in der Wahrheit geborgen. Nicht einmal der eigene Tod macht die gelebten Jahre ungeschehen. Es ist gelebt worden und was gelebt worden ist, hat sich verewigt. Es bleibt ewig wahr und wenn es schön war, wenn es gut war, wenn es in der Vergangenheit geleuchtet hat, dann ist das etwas ewig  Gutes, Schönes, Leuchtendes. Es ist wie ewiges Licht.

 

Dennoch – erst einmal muss man irgendwann aus dem Tal der Tränen wieder herauskommen. Wie macht man das am besten?

 Dr. Elisabeth Lukas: Jeder trauert auf seine Weise. Oft ist man am Anfang wie versteinert, es ist, als ob um einen herum eine Mauer steht. In diesem Stadium kann man das Geschehnis noch nicht recht fassen. Genau genommen ist es ja überhaupt nicht möglich, den Tod eines Menschen zu begreifen. Auch andere schwerwiegende Lebensumstellungen brauchen Zeit, bis man verstanden hat, was wirklich passiert ist. Man hat es zwar mit dem Kopf verstanden, aber nicht als ganzer Mensch. Es scheint wie ein schlimmer Traum zu sein, aus dem man irgendwann aufwachen wird. In diesem Stadium findet eigentlich noch keine wirkliche Trauerarbeit statt. Man ist auch gar nicht empfänglich für Trost von außen. Es ist eine Zeit, in der man die alltäglich notwenigen Dinge erledigen sollte. Wenn die Mitwelt helfen will, dann sollte sie genau das unterstützen, dass der Alltag weiterlaufen kann, ohne dass ein Bruch durch das ganze Leben geht.

 

Und wenn der erste Schock einmal überwunden ist?

 Dr. Elisabeth Lukas: Dann ist vielleicht eine stille Phase gut, in der ein Mensch ruhig wird und in der Ruhe ganz allmählich zu dieser fürchterlichen Wahrheit durchdringt. Der Panzer weicht auf und der Trauernde kann in der Stille seine Position zum Geschehenen finden. Die Dinge ordnen sich, Fähigkeiten zur Selbsthilfe, zur Gesundung rühren sich im Trauernden. Man kann neue Anfänge ins Auge fassen.

 

Wir würden ganz anders leben …

 

Was macht uns, wenn Andere trauern, das Trösten oft so schwer?

 Dr. Elisabeth Lukas: Professor Frankl hat einmal gesagt: „Wo alle Worte zu wenig wären, ist jedes Wort zuviel“. Vielleicht liegt die erste Hilfe einfach im Da-Sein, darin, dass man in der Nähe ist. Man bietet sich ein bisschen als Begleiter an, hält sich aber dann auch wieder zurück, wenn man merkt, der andere braucht wieder einmal eine stille Stunde. Es ist sehr viel Sensibilität gefragt, um zu spüren, was der andere gerade möchte und was nicht. Wenn der Betreffende im Trauerprozess schon weiter ist, kann schon der eine oder andere Anstoß zum Weiterleben gegeben werden, zum Beispiel in Richtung auf eine Lebensaufgabe, die auf den Betreffenden warten könnte. Etwas, was den Menschen nicht nur beschäftigt und ablenkt, sondern was über ihn hinaus reicht, was ihm als Brücke zur Welt dient. Der Trauernde hat ja nicht alle Beziehungen zur Welt verloren. Nur ein einziger Wertbezug, nur eine einzige Brücke ist nicht mehr begehbar. Aber viele andere Brücken stehen ja noch. Wenn es gelingt, den Menschen aus seinem Kreisen um sich selbst und seinen Schmerz ein wenig herauszulocken, ihn zu öffnen für den Rest der Welt, der ja voller Werte ist und in dem es noch sinnvolle Aufgaben gibt, die darauf warten, von dem Betreffenden erfüllt werden zu können, dann ist das bestimmt eine gute Hilfe.

 

Viele fragen sich, wie lange man in den ersten Stadien des Trauerprozesses, im Rückzug, in der Stille, verharren darf, ohne dass es beginnt, krankhaft zu werden.

Dr. Elisabeth Lukas: Krankhaft wird es, wenn jemand sagt: Jetzt wo ich das Eine, das ich verloren habe, nicht mehr haben kann, interessiert mich gar nichts mehr, alles andere ist dann für mich mitgestorben; wenn also eine Absage an die Welt erfolgt und zementiert wird. Wir finden das bei Personen, die schon vor dem Trauerfall ein einseitiges Wertsystem haben. Für sie existiert nur ein einziger hoher Wert, der ihnen übermäßig viel, fast alles bedeutet. Dann geht dieser Wert verloren und sie fallen ins Nichts. Viktor Frankl sagt: „Hinter jeder Verzweiflung steckt eine Vergötzung.“

 

Alles was wir haben, sagten Sie, geht einmal verloren. Was hilft uns diese Erkenntnis für unser Leben?

Dr. Elisabeth Lukas: Wir würden ganz anders leben, wenn wir uns immer wieder bewusst machen würden, dass die Dinge vergänglich sind. Wir würden sie schon jetzt mehr schätzen, wir würden uns mehr freuen, dass sie da sind und uns gleichsam als Leihgabe zur Verfügung gestellt werden. Wir würden aber von vornherein wissen, dass wir diese Leihgabe wieder zurückgeben müssen – bis hin zum eigenen Leben, das wir ja auch einmal verabschieden müssen. Wenn wir zum Beispiel ein Haus bauen, hätten wir von vornherein das Bewusstsein: Einige Jahre dürfen wir darin leben, dann wird dieses Haus in andere Hände übergehen oder es wird abgerissen werden, weil es vielleicht nicht mehr modern ist – wir werden es ganz bestimmt nicht mitnehmen können. Wir dürfen es einige Zeit nutzen und uns daran freuen, dann müssen wir es wieder dankbar zurückgeben. Wir würden uns dann nicht klammern, weder an Menschen noch an Dinge, sondern souveräner, lockerer, gelassener durchs Leben gehen, aber auch mit wesentlich mehr Dankbarkeit, Wertschätzung, Freude und zwar dann, wenn der Anlass zur Freude da ist. Wir würden nicht erst im Nachhinein die Freude erkennen, die wir vorher hätten haben müssen. Wir bekommen eine ganz andere Lebensqualität, wenn wir die Botschaft der Trauer verstehen und leben.

 

Dr. habil. Elisabeth Lukas ist eine der bekanntesten Psychotherapeuten deutscher Sprache und Trägerin des Viktor-Frankl-Preises der Stadt Wien. Ihre mehr als vierzig Bücher sind in sechzehn Sprachen übersetzt worden. Vorlesungen und Vorträge an mehr als fünfzig Universitäten, darunter Lehraufträge in München, Innsbruck und Wien, machten die Frankl-Schülerin international bekannt.


 

Fernseh-Gespräche mit Dr. Elisabeth Lukas

Radio-Gespräche mit Dr. Elisabeth Lukas

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