Norbert Zankls Gedicht „646“

Politische Lyrik heute

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Zunächst eine ältere Stimme, die Gottfried Benns:

 

Noch einmal weinen – und sterben

mit dir: den dunklen Sinn

von Liebe und Verderben

den fremden Göttern hin.

 

Du kannst es doch nicht hüten,

es bleibt doch immer nah:

was nicht aus Meer und Blüten,

ist nur in Qualen da.

 

Versinken und erheben,

vergessen und erspähn,

die letzten Fluten geben,

die letzten Gluten mähn.

 

Das Weben ohne Masche,

das Säumen ohne Sinn –

die Tränen und die Asche

den fremden Göttern hin.

 

 

Als Benn sein Gedicht Noch einmal schrieb, in den Zwanziger- und Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts, war der lakonische Ton der Neuen Sachlichkeit gerade en vogue. Bei Benn kommt noch ein Schuss Nihilismus hinzu: Qualen und Sinnlosigkeit bestimmen das Leben. Hier muss liberale Kritik ansetzen, denn das entspricht der Lebenswirklichkeit „im besten Deutschland, das es je gab“ (F.-W. Steinmeier), nun wirklich nicht mehr.

 

Liebe und Tod, Tränen und Asche – große, zu große Themen, die jene wählen, denen die Kraft zu Themen von gesellschaftlicher Relevanz fehlt. Man kann sich, sagen sie müde, doch nur wiederholen. Einmal noch weinen, mit einem „Du“ zusammen – sogar das Wort „Liebe“ fällt – dann sterben. Aber alles ist nur da, um es „fremden Göttern“ dahinzugeben. Wer diese fremden Götter sind? Benn bleibt im Ungefähren, er raunt, wie Rechte eben raunen. Fast könnte man meinen, da, bei diesen fremden Göttern, steckt doch irgendein Sinn, der sich uns nur nicht erschließt.  Dieser Irrationalismus Benns erfordert eine rationale Antwort, denn der aufgeklärte Mensch soll und kann bekanntlich alles erkennen.

 

Der Dichter Norbert Zankl, im bürgerlichen Leben promovierter Germanist und Lehrer, gibt diese Antwort – dichterisch. Er geht von einigen Schlüssel- oder Reizworten des Benn-Gedichts aus: fremd, Götter, Blüten, (Tränen) weinen, Asche. Und auch wenn er noch das Metrum von Benn übernimmt, so schreibt er doch ein ganz neues, ein ganz anderes Gedicht, das die Ideologie Benns als das entlarvt, was sie ist: reaktionär. Hier sein Gedicht:

 

 

646*

 

April 2018

Gottfried Benn, Noch einmal

 

Dem Fremden alles geben,

Was einst schuf unsren Sinn,

Und nichts wird uns erheben,

Zu unsren Göttern hin.

 

Des Fremden Recht empfangen,

Bewohne er dein Haus.

Und wenn er dich umfangen,

Nicht Klage, nur Applaus.

 

Dem Fremden sich verneigen,

Weil einst wir trügen Schuld.

Und nichts sei uns mehr eigen,

Kein Wort, nicht Kunst, kein Kult.

 

In Fremdem trocknen Quellen,

Vermischt sei alles wirr:

Zu letzten Blütenwellen

Kein Weinen, nur Geschwirr

 

Des Austauschs, wenn Gestell

Des Fremden dich wird formen

Zu Asche eternel

In fremder Götter Normen.

*  Zankl nummeriert seine titellosen Gedichte durch.

 

Man bemerkt, dass die Schlüsselworte nur wie Anstöße wirken, die das Gedicht in eine Richtung treiben, die mit dem Benn-Gedicht (fast) nichts mehr zu tun hat. Da ist kein Nihilismus, der fremden Göttern anheimfällt, die wir angeblich nicht verstehen. Zankl preist vielmehr „das Fremde“, das für ihn auf eine gewisse Weise sehr wohl „Sinn“ macht, und in der Wiederholung des Wortes in jeder der fünf Strophen kommt eine schon fast hymnische Begeisterung für das, was hinter diesem Begriff, jenseits grundloser Ängste, an realer, vielfältig bunter Welt existiert, zum Tragen.

 

„Wir“ sollen „dem Fremden“ alles geben, was „uns“ ausgemacht hat und Sinn gab. „Wir“ sollen ihn in „unserem“ Haus aufnehmen und „uns“ freuen, wenn er „uns“ ganz integriert. Warum? Strophe drei gibt die Antwort: „Wir“ sollen „uns“ „dem Fremden“ unterwerfen, denn er oder es ist besser als „wir“, die „wir“ schuldig sind. Soweit ist Zankl ganz nah an der deutschen Vergangenheitsbewältigung und hart am liberalen Puls der Zeit, in der sich die christliche Nächstenliebe als säkulare vollendet hat. Nicht umsonst findet sich die Datumsangabe am Beginn des Gedichts.

 

Aber er wäre kein Dichter, wären in die ersten drei Strophen nicht dialektisch Irritationen eingeflochten. Wen meint er mit dem „das Fremde“ so empörend exkludierenden „wir“? Wieso sollten ausgerechnet „wir“ uns zu „unseren“ Göttern erheben können? Warum sollten ausgerechnet „wir“ etwas „Eigenes“ haben? Virtuos wechselt Zankl in den fast in jeder Strophe zweifach wiederkehrenden Apostrophen zwischen dem alternierend als „wir“ und „du“ bezeichneten lyrischen Ich und spricht ihm damit ebenso wie „dem Fremden“ durch dessen in stets wechselnden Casus (Dativ, Genitiv, Dativ, Lokativ, Genitiv) vollzogenen Polyptota eine reale, über das Ideologische hinausgehende Existenz im Grunde schon ab, entlarvt sie durch diese rhetorischen Figuren als Hirngespinst ewig Gestriger.

 

Doch Zankl geht noch weiter: Was soll die quasi-identitäre Unterstellung, Quellen trockneten aus in „Fremdem“? Und die Behauptung, dass „Vermischung wirr“ sei, ja, dass offenbar gar die krude Verschwörungstheorie des „Austauschs“ bemüht wird, scheint Beifall von der falschen Seite geradezu anzustreben. Die Krone setzt Zankl seinem Verwirrspiel auf durch die Verwendung des Heideggerschen, also kontaminierten Terminus des „Gestells“.

 

Hier nun zeigt sich die kompromisslos richtige Haltung Zankls, die einen progressiven Dichter heute ausweist. Sein antifaschistischer Kampf gegen Rechts beruht auf einer genauen Kenntnis des Problems, in dem jede*r echte Demokrat*in die größte Bedrohung des deutschen Gemeinwesens erkennt. Sein Gedicht hat im Gegensatz zur depressiv-solipsistischen Klage Benns gesellschaftliche Relevanz. Es ist nicht Aufgabe der Kunst, fertige Lösungen anzubieten wie eine Programmschrift, aber sie darf und soll durch produktive Unruhe zum richtigen Denken anregen.

 

Es fand sich die These, es fand sich die Antithese, kunstvoll ineinander verschränkt. Die beiden letzten, ineinander übergehenden Strophen bilden die Synthese des Gedichts: Natürlich müssen die Quellen des Rassismus durch „das Fremde“, also das in Wahrheit, wie die Lesenden wissen, bessere Andere ausgetrocknet werden! Natürlich muss diese postkolonialistische Kultur zuschanden gehen und zu Asche werden! Und selbstverständlich müssen die Normen derer, die von „uns“ zu „Fremden“ erklärt wurden, obwohl alle Menschen Schwestern und Brüder sind, in humanistischer Selbstverständlichkeit die herrschenden sein. Wer zu lesen versteht, der lese!

 

 

Wer mehr von den komplexen Gedichten Norbert Zankls lesen will, ist mit dem kürzlich beim Engelsdorfer VerlagLeipzig, in der Reihe „Lyrikbibliothek“ erschienen Band „Opus 6: Denkendes, Dämonisches, Divines. Nach- und Neudichtungen 2012-2021“ bestens bedient.

 

 

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Adorján Kovács

Wolfgang Hebold 08.01.2023 - 05:04
Vielen Dank für den Hinweis! Jetzt müsste es besser sein. Aber das Zankl-Gedicht beginnt tatsächlich so!

[Die Verszeilen sind jetzt kursiv. Kann aber jederzeit zurückgesetzt werden. Die Red.]

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