No farewell to arms

Man kann nicht behaupten, dass die „Lückenpresse“ (Michael Klonovsky) das Massaker von San Bernardino verschwiegen hätte. Im Gegenteil.

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In den ersten ein, zwei Tagen brachte sie den Fall ganz groß. Plapperte nach, was Obama und seine Möchtegern-Nachfolgerin unverzüglich aus der Chose rauszuwringen versuchten (Clinton-Tweet am Tag des Anschlags: „I refuse to accept this as normal. We must take action to stop gun violence“). Erst als feststand, dass es sich bei der „Schießerei“ („Zeit online“) um einen akkurat geplanten Massenmord durch zwei nicht direkt allamerikanisch wirkende Partisanen der Religion des Friedens handelte, also leider nicht um die Tat von dumpfen Rednecks, die einem Gun Shop vorbei gekommen waren und spontan beschlossen hatten, dass dies ein guter Tag wäre, ein Dutzend oder mehr Leute abzuknallen – erst als der terroristische Background des Täterpaares unmöglich zu leugnen war, flaute das Interesse deutscher Medienschaffender etwas ab. Denn so richtig rund ist eine Massakerstory aus den USA ja nur, wenn es sich bei den Massakrierenden um autochthone Waffenfetischisten handelt. Deren Mordtaten nie passiert wären, hätten ihnen waffenindustrielle Schurken die Schießeisen nicht förmlich aufgedrängt.

Eine Erzählung gehört an linken Stammtischen und im grünalternativen WG-Mief seit Jahrzehnten zur Folklore. Nämlich, dass die Amis halt immer irgendwie Cowboys geblieben seien (mit der Kultur hapert’s da drüben, pflegten schon unsere Eltern und Großeltern zu sagen, sobald sie die Care-Pakete aufgefressen hatten). Wegen ihrer Cowboy-Gene liefen in Amerika immer alle bis an die Zähne bewaffnet rum, weshalb es an allen Ecken dauernd knalle.

Gefördert würde das blutrünstige Treiben der Revolverhelden durch die Waffenlobby NRA. Die habe ganz viele Kongressabgeordnete bestochen, um eine längst fällige Reform der Waffengesetzgebung zu verhindern. Ergebnis? Rauchende Colts! Von der gleichnamigen US-Westernserie (Originaltitel: „Gunsmoke“) sind immerhin 228 Folgen auch über deutsche Bildschirme gelaufen.

Ja, auch so entstehen Bilder in Köpfen.

Nun ist die Affinität eines Teils der Amerikaner zu Schusswaffen tatsächlich ein Thema, mit dem man dicke Bücher füllen könnte. Ein sicherlich diskussionswürdiges „nationales Kulturerbe“ spielt dabei eine Rolle. Ebenso aber auch die Geografie eines Landes, welches in großen Teilen noch immer dünn besiedelt ist. Weshalb Besitzer entlegener Wohnstätten sich besser fühlen, wenn sie bei ungebetenem Besuch notfalls über durchschlagskräftige Argumente verfügen können. Und natürlich macht die „National Rifle Association“, wie jede andere finanzkräftige Lobby, rabiat Dampf, sobald sie ihre Pfründe durch Gesetzesbremsen bedroht sieht.

Doch die Obsession, mit welcher der Komplex des privaten Waffenbesitzes in den USA besonders in deutschen Landen diskutiert wird, ist erstaunlich ahnungsfrei. Erstens kann man durchaus nicht in allen US-Bundesstaaten mal eben so eine Schusswaffe shoppen – die New Yorker beispielsweise kommen legal ungefähr so schwer an Schießeisen ran wie Bundesbürger.

Zweitens geben Schätzungen über private Waffen – zwischen 270 und 310 Millionen sollen es sein – eben gerade nicht her, dass „rechnerisch“ (eine beliebte Formulierung deutscher Journalisten) fast jeder Amerikaner armiert sei, vom Kleinkind bis zum Greis. Vorsichtige Annahmen gehen davon aus, dass in etwa einem Drittel der US-Haushalte eine Schusswaffe liegt, in nicht wenigen von ihnen gleich mehrere.

Klingt schon etwas anders. Sollten Sie mal von Amerikanern nach Hause eingeladen werden – bleiben Sie cool. Dass der Gastgeber Sie erschießt, wenn Sie ihm widersprechen, liegt im unteren Bereich der Wahrscheinlichkeit.

Dann ist da eine Zahl, die ich in deutschen Debatten immer wieder mal gehört habe. Sie klingt in der Tat beunruhigend: 100.000 Menschen stürben in den USA durch Schusswaffengebrauch – Jahr für Jahr (habe auch mal die Hausnummer 85.000 vernommen). Woher die Daten stammen? Sie schwirren halt so rum im Schnatterorbit. Faktenchecks sind unpopulär, wenn es um dieses Thema geht. Sollte es bei Deutschen einen breiten Konsens geben, dann den: Amis ballern schon beim kleinsten Anlass los.

Ein Redakteur der „Welt“ hatte sich in diesem Sommer einige Zahlen ausgeruht angeschaut. Nach seinen Recherchen kamen im Jahr 2013 durch Schusswaffen 33.636 Menschen ums Leben. Die Quote (10,64 Tote auf 100.000 Einwohner) war zwar im Vergleich zu 1999 leicht gestiegen, was aber im Einklang mit dem US-Bevölkerungswachstum stand.

„Nirgendwo in der Welt kommt es so häufig zu Gewalttaten mit Schusswaffen wie in den USA“, echauffierte sich jüngst der WDR. Was so nicht ganz stimmt. In Honduras, Venezuela, Südafrika und in Dutzenden von anderen Ländern, liebe Staatsfunker, lebt es sich gefährlicher als in Amerika! Wer mal in Nigeria oder Albanien Dienst schieben musste, sehnte sich womöglich dann und wann nach den Staaten. Sogar in Estland, Lettland oder Litauen ist die Luft bleihaltiger als in den angeblich von einer „Waffen-Epidemie“ („New York Times“) kontaminierten USA.

Interessant wird es, wo es um die Frage geht, wer die Täter und wer die Opfer waren. Die Welt zitierte dazu die letzte verfügbare Aufschlüsselung aus einem US-Kongressbericht von 2012, der sich wiederum auf das Jahr 2009 bezieht. Damals starben im Amerika 31.347 Menschen durch Kugeln.

11.493 von ihnen fielen „Fremdtötungsdelikten“ zum Opfer. 333 kamen bei Polizeiaktionen ums Leben, 554 bei Unfällen, 232 in „unklaren Situationen“. Den Löwenanteil – fast zwei Drittel – der Schusswaffentoten stellten jedoch die Selbstmörder: 18.735.

Und wer bildete das letzte Drittel? „Die meisten Tötungsdelikte“, schrieb die Welt Ende Juni, Monate vor San Bernardino, „finden innerhalb krimineller Milieus statt, etwa bei Bandenkriegen um Drogen in sozial schwachen, oft schwarzen Stadtteilen amerikanischer Großstädte. Internationale Schlagzeilen erregen hingegen Massenmorde wie zuletzt in Charleston. In schlimmer Erinnerung aus der jüngsten Zeit bleiben die Amokläufe in einem Kino in Aurora (Colorado) im Juni 2012 mit zwölf Toten, im Navy Yard in Washington, D.C. im September 2013 mit 13 Toten und vor allem das Massaker an der Sandy-Hook-Grundschule in Newtown (Connecticut) mit 28 Toten, darunter 20 Erst- und Zweitklässler. Derartige Verbrechen schockieren die USA über parteipolitische und weltanschauliche Grenzen hinweg. Aber statistisch fallen Massenmorde kaum ins Gewicht.“

Der enorm hohe Anteil von Selbsttötungen in der Statistik der amerikanischen „Schusswaffenopfer“ wird in deutschen Medien so gut wie nie erwähnt. Kunststück: relativierende Fakten würden das beliebte Bild vom waffennärrischen Ami, der stets den Finger am Trigger hat, um Mitmenschen en passant zu durchlöchern, erheblich stören.

Noch irritierender ist für Gegner des Bürgerrechts, sich legal Waffen zuzulegen (dazu zählen hierzulande so gut wie alle Journalisten) die Tatsache, dass sich die meisten Morde und Shootouts in Bandenmilieus abspielen. Auch diese Information wird ungern kommuniziert. Beweist sie doch, dass eine Verschärfung der Waffengesetze die Schießereien kaum stoppen würde. Kriminellen ist es wurscht, ob sie ihre Knarren im Gun Shop an der Ecke erwerben können. Oder künftig vielleicht nicht mehr. Der in den USA populäre Spruch „When guns are outlawed, only outlaws will have guns“ wird zwar auch von der NRA gern benutzt. Ganz falsch ist er trotzdem nicht.

Waffen sind unabdingbare Arbeitsmittel, wenn man dem Beruf eines Verbrechers nachgeht. Verbrecher bestücken sich in jedem Fall damit. Wenn sie keine Anfänger sind, tun sie das ohnehin auf dem Schwarzmarkt, selbst wenn die Ware dort teurer zu haben ist. Man muss keine Polizeischule besucht haben, um den Grund dafür zu wissen.

Es gibt wahrscheinlich triftige Argumente, das Waffenrecht in manchen US-Bundesstaaten in manchen Punkten zu reformieren. Halbautomatische Angriffswaffen zum Beispiel, aus denen innerhalb von Minuten hunderte von Schüssen abgefeuert werden können – Kriegswaffen quasi -, gehören bestimmt nicht auf den öffentlichen Markt. In diesem Punkt wird es, NRA hin oder her, früher oder später in den USA einen Konsens geben. Keine Übereinkunft wird es geben, die Amerikaner regelrecht zu entwaffnen. Clintons Tweet war bloß Vorwahlkampfgedöns. Mag die Frau lügen wie gedruckt, dumm ist sie nicht.

Diesseits des Atlantiks sollte man, bitte, zu diesem Thema einfach die Goschn halten. In Deutschland etwa ist es durch behördliches Mobbing gelungen, die kriminell nicht auffällige Bevölkerung fast komplett von Waffen zu trennen. Mit dem Ergebnis, dass nur der kriminell auffällige Teil der Bevölkerung Waffen besitzt.

Mehr kann auch Claudia Roth nicht verlangen.
http://www.welt.de/vermischtes/article143346240/Immer-mehr-Waffen-immer-weniger-Morde.html

Beitrag zuerst erschienen auf achgut.com

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