Beim Frühstück sagt Anna, wie gut, daß wir die Politik haben. Im Kindergarten haben sie gesagt, wir müssen der Regierung dankbar sein, daß wir alle etwas zu essen und anzuziehen haben. Als ich ihr zum Schutz gegen die klirrende Winterkälte dieser Tage die wattierte Winterjacke überziehe, sagt sie, ihr tun alle Kinder leid, die nicht in einer Demokratie leben, weil die da keine dicke Winterjacke haben. Anna hüpft fröhlich zur Haustür hinaus, ich schließe hinter uns beiden ab. Wenn wir vom Staat keine Unterstützung bekommen hätten, hätten wir auch kein Haus, trällert Anna. Ich bin sprachlos. Und das alles lernt man heute schon im Kindergarten?
Anna ist ein aufgewecktes Kind. Aber ich bin nicht sicher, ob ich ihr die Wahrheit zumuten kann. Sie könnte diese ohnehin nicht verstehen, und selbst wenn, dann würde sie mir nicht glauben, denn sie hat im Kindergarten etwas anderes gelernt. Und was dort alle sagen, gilt natürlich als richtig. Mit einer solchen Meinungsübermacht legt man sich am besten nicht an. Während wir gehen, Hand in Hand, spreche ich in Gedanken zu dem Kind an meiner Seite. Arglos wie ein Hündchen hüpft es neben mir her und stößt kleine weiße Atemwolken aus.
Liebe Anna, nicht eine einzige Scheibe Brot hätten wir zu essen, du und ich, wenn die Welt ausschließlich bevölkert wäre von Leuten des Schlages Monti und Schäuble. Nicht ein einziges warmes Kleidungsstück besäßen wir zur Bedeckung unserer Blöße, du und ich, wäre die Erde voller Lagardes oder Merkels. Wir beide, du und ich, hätten kein Dach über dem Kopf zum Schutz gegen die Unbilden des Klimas, wenn Typen wie Sarkozy und Cameron die Mehrheit der Menschheit ausmachten.
Täglich stehen die Namen dieser und anderer Persönlichkeiten in der Zeitung. Sie sind Dauergäste im Fernsehen. Ihre Meinungen werden gehandelt wie göttliche Wahrheiten. Jeder noch so große Unsinn aus ihrem Mund wird mit großem Ernst und Eifer diskutiert. Womit haben sich diese Leute eigentlich soviel Aufmerksamkeit verdient? Sie pflügen nicht, sie säen nicht, sie ernten nicht. Sie nähen keine Jacken, und sie bauen keine Häuser. Für Annas und mein Überleben ist ihre Existenz ohne jeglichen Nutzen. Der offensichtlichen Nichtsnutzigkeit zum Trotz erscheinen sie selbst jedoch wohlgenährt und sind vornehm gekleidet. Sie reisen in Nobelkarossen und wohnen in luxuriösen Behausungen.
Liebe Anna, unsere Politiker sind ohne Zweifel äußerst tüchtige Leute. Jedoch liegen ihre Fähigkeiten weniger auf dem Gebiet der praktischen Lebensnotwendigkeiten. Unser beider Grundbedürfnisse kann die Politik nicht erfüllen. Der Berufspolitiker widmet sich einem Gewerbe, das so uralt ist wie die Menschheit selbst. Unsere Vorfahren hätten das zwielichtige Treiben noch unverblümt beim Namen genannt: Betrug, Diebstahl, Hehlerei. Dem Sittenkodex gemäß gelten solcherlei Handlungen auch heute noch als Sünden. Werden diese berufsmäßig und unrechtmäßig ausgeübt, dann darf man die Agenten und Handlanger mit Fug und Recht als Räuberbande bezeichnen, wie es das höchste Oberhaupt der katholischen Kirche in einer Rede vor dem deutschen Bundestag getan hat. Soll ich Anna so etwas erklären? Sie trällert und singt und hopst an meiner Hand in diesen kalten Januartag hinein.
Nein, das ist nicht zu erklären. Wie kommt es denn, daß die Völker aller modernen Nationen den Nachkommen des vordemokratischen Räubergesindels huldigen und deren Herrschaft nicht nur klaglos ertragen, sondern diese geradezu herbeiwünschen? Man nennt dieses aufgeklärte Staatswesen Demokratie. Anna lernt schon im Kindergarten, daß wir beide nur deshalb Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf haben, weil es die Demokratie gibt und die Regierung so gut für uns sorgt.
Kann ein Kind von fünf Jahren verstehen, was man unter einer perfekten Tarnung zu verstehen hat? Was semantische Fallen sind? In welch vielseitiger Verkleidung Betrug und Heuchelei erscheinen und den guten Glauben und das Vertrauen der Menschen mißbrauchen? Noch ehe es die Wirklichkeit kennenlernen darf, werden dem Kleinkind von bildungsbeflissenen Einrichtungen abstrakte Begriffe eingetrichtert. Es lernt, deren Wortlaut nachzusprechen, wie man Wörter aus einer fremden Sprache lernt. Es hat sich die abstrakten Begriffe einverleibt, ohne auch nur einen blassen Schimmer von deren Bedeutung zu haben. Ausgerüstet mit diesem semantischen Werkzeug wird es angeleitet, die Welt moralisch zu bewerten: CO2 ist böse, Unternehmergewinne sind böse, Monarchen sind böse, Männer sind böse, Liebe zur Heimat ist böse, die eigene Religion ist böse, Fremdenliebe ist gut, Fernstenliebe ist plusgut, Demokratie ist doppelplusgut. Gewisse Gleichungen brennen sich in das formbare Gehirn ein und sind fortan durch keine Realität mehr zu löschen: allein Demokratie garantiert Wohlstand, Friede und Gerechtigkeit.
Soll ich Anna sagen, daß es sich bei all dem um einen billigen Zaubertrick handelt? Mache ich sie dann nicht unglücklich? Außerdem müßte ich gestehen, daß ich selbst nicht recht begreife, weshalb wir ausgerechnet jenen Personen Achtung entgegenbringen, die mich und alle anderen einfachen Leute insgeheim verachten, verhöhnen und mitleidslos betrügen. Ich müßte ihr sagen, daß ich nicht weiß, weshalb wir bis zum Lebensende im Arbeitsrad strampeln müssen und am Ende feststellen werden, daß uns die fürsorglichen Politiker auch noch das bescheidene Altersbrot weggefressen haben. Es fehlten mir die Worte, um Anna zu erklären, weshalb wir täglich ellenlange Berichte über das Treiben dieser nichtsnutzigen Leute lesen, uns ihre Gesichter anschauen und ihre dümmlichen Äußerungen diskutieren. Am allerwenigsten könnte ich erklären, weshalb wir von Zeit zu Zeit einen oder mehrere Namen auf einem Zettel ankreuzen und damit diesem schändlichen Treiben auch noch unsere ausdrückliche Zustimmung erteilen!
Wie soll die kleine Anna verstehen, was Demokratie wirklich ist, wenn selbst mir beim bloßen Gedanken daran schon schwindelig wird!
Kommentare zum Artikel
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So ist es, Herr Rudolph. Ein schlechtes Gewissen sollten Sie aber nicht haben. Ansonsten denke ich genauso wie Sie. Wir sollten unseren Kindern ein gesundes Misstrauen einpflanzen gegen politische und mediale Weisheiten, vor allem, wenn sie Hand in Hand gehen und daneben kaum andere Meinungen zu Wort kommen oder gutgeheißen werden. Einheitsmeinung hat etwas Totalitäres.
Danke,Frau Pfeifer-Stolz,Sie haben das Elend der hier praktizierten Demokratie auf den Punkt gebracht!
Leider noch kein Licht am Ende des Tunnels sichtbar!
Habe den von Klaus Kolbe am 11.2. empfohlenen Artikel gelesen und kann ihn nur wärmstens weiterempfehlen.
Mir gefällt besonders gut, Frau Pfeiffer-Stolz, daß Sie Ihre Kritik an unserer Demokratie in eine Geschichte gekleidet haben. So werden nüchterne Wahrheiten viel lebendiger und anschaulicher. Bei mir jedenfalls kommen sie auf diese Weise besser an.
Ein sehr gut geschriebener Artikel. Allerdings muss man dem mündigen Bürger viel drastischer erklären, um was es sich bei Politikern wirklich für Leute handelt. Wie beschrieben ist es korrekt, unterschreibe ich - und dennoch noch viel zu schmeichelhaft.
In der Slowakei sind die Menschen munter geworden und haben begriffen, wie ihr ganzes Volk ausgeplündert wird. Hier muss der "Groschen" erst noch fallen!
@Thomas Rießler
Großartig geschrieben, danke!
Wo bleibt denn Ihre Nächstenliebe, gnädige Frau?
Wenn wir (die Eltern und auch alle anderen verantwortungsvollen Erwachsenen) dieses Neusprech nach orwellscher Art unwidersprochen so stehenlassen, liebe Frau Pfeiffer-Stolz, begehen wir einen Riesenfehler – und müssen uns u. U. später einmal die Frage von unseren Kindern gefallen lassen: Warum habt Ihr uns damals nicht gleich die Wahrheit gesagt!
Es ist ähnlich wie bei der Methode des Schreibenlernens nach z. B. Sommer-Stumpenhorst: das falsch geschriebene Wort erst einmal so stehenzulassen, um es irgendwann später einmal zu korrigieren.
Nein und noch einmal nein zu solchen Methoden! Diesen Fehler dürfen wir nicht begehen – unseren Kindern zuliebe!
Es kostet (zugegeben) Mühe, Kindern ihrem Alter entsprechend zu erklären, daß dem nicht so ist. Auf lange Sicht aber lohnt es allemal – wenn nämlich aus heutigen Kindern kritische und eigenständig denkende Erwachsene werden.