Neue schwirriche Wirrsicht

Dass die Grünen Probleme mit Kindern haben, kann angesichts der im Frühjahr noch einmal aufgebrandeten Kinderschänderkampagne keiner bezweifeln. Dabei mussten sich die Grünen ausgerechnet für ihre Findungsversuche vor immerhin 30 Jahren weitaus heftiger verteidigen als für ihre gegenwärtigen Anschläge auf Freiheitlichkeit und Vernunft, was diesmal hier aber nicht thematisiert werden soll.

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Eine kindische Fehlleistung ganz anderer Art bot nämlich die bündnisgrüne Abgeordnete Sabine Niels kürzlich im Potsdamer Landtag. Hinnehmbar war, dass die 40-Jährige ihre fünf Monate alte Tochter im Plenarsaal stillte, nicht hinnehmbar ist hingegen, dass Niels dauerhaft die hochbezahlten Kollegen und die möglicherweise wichtigen Parlamentsgeschäfte, beispielsweise auch im Rechts- und Europaausschuss, mit Kindergeschrei belastet. Wer von den geneigten Lesern könnte es sich wohl erlauben, eventuell vorhandene Kleinkinder mit zur Arbeit zu nehmen und vor allem, wer wollte dies den Kollegen zumuten? Davon unbeeindruckt schreibt die dpa zu dieser demonstrativen Rücksichtslosigkeit fröhlich wertend, das Baby belebe „ernste Debatten mit fröhlichem Krähen“, doch für Konrad Kustos zeigt sich hier nur erneut, wie Individuen immer mehr ihr eigenes Spaßvergnügen über die Rechte und Bedürfnisse der Mitmenschen stellen. Schon am 18. Dezember 2011 hatte er sich ausführlich, wenn auch mit einem Augenzwinkern, mit dem neuen ausufernden Individualismus auseinandergesetzt:

Kürzlich hat sich Udo Lindenberg politisch geäußert: Die Demonstrationen gegen die Banken begrüße er. Da war die Welt dankbar, dass sich hier ein Mann der komplexen Analysen und der vorbildlichen Lebensführung klar positioniert hatte. Er finde die neue deutsche Protestkultur „geil“, fügte er noch erklärend hinzu. Soweit, so na ja. Doch dann fügte er etwas hinzu, was nicht nur wegen des wirren Satzbaus den entschiedenen Protest dieses Blogs hervorrufen muss: „Deutschland ist auf einem guten Weg. … Jetzt müssen wir nur noch das Individuum heiligsprechen, dass jeder Mensch eine absolute Kostbarkeit ist.“ Wie bitte: In einer vom Individualismus zerfressenen Gesellschaft soll das Individuum jetzt auch noch heiliggesprochen werden?

Dass die Rechte des einzelnen und die Bedeutung der Gemeinschaft sich in unserer Gesellschaft immer weiter voneinander entfernen mag den verschiedensten Faktoren des Niedergangs, die im herrschenden „Chaos mit System“ wirken, geschuldet sein, doch dass dafür auch noch Werbung gemacht wird ist empörend. Apropos Werbung - die heizt den Zug der Zeit schon eine ganze Weile an. „Du bist Deutschland“, die große Medienkampagne, nach der jeder Deutscher ist, der sich im Transit an der Tankstelle eine Tafel Schokolade kauft, behauptet zwar, an das Ganze zu denken, spricht aber ausdrücklich das Individuum an. „Du bist ein Teil von Deutschland“ hätte funktioniert, aber so wird so kontraproduktiv wie beabsichtigt die Wichtigkeit des Individuums hervorgehoben.

Ist das noch verschwurbelt genug, um darüber hinweggehen zu können, wird es bei einer bekannten Bank schon deutlicher: „Dibadiba DU“ säuselt Basketballer Dirk Nowitzki und meint, dass diese Bank an nichts anderem Interesse hat, als genau Dir einen Gefallen zu tun. Den anderen kann Herr Nowitzki den Brotkorb dann ruhig höherhängen. „+ich“ hat Google jetzt links oben auf seiner Hauptseite zu stehen und glaubt damit, Facebook und Twitter Konkurrenz machen zu können, als wären die nicht schon narzisstisch genug orientiert.

Spitzenreiter der Anbiederung an die Ich-Fixierung ist aber unzweifelhaft die Postbank. Seit Monaten bombardiert sie uns mit der Parole „Unterm Strich, zähl ich“. Nicht die Volkswirtschaft, nicht die Kunden dieser Bank oder wenigstens die Bank selber und schon gar nicht die Familie zählen, sondern das Zentrum des Universums: ICH. Dass das Konto unentbehrlich sei, mag man noch hinnehmen, doch dass es sprachwitzelnd auch noch leistungsfähich sein soll, zeigt, wie ich-fixiert hier wirklich gedacht wird. Konrad Kustos als sonst zufriedener Postbankkunde meint dazu: Ich höchstpersönlich finde das nur peinlich, entbehrlich und sogar eklich.

Warum wird nicht mal mit Personalpronomen geworben, die das Interesse der Gemeinschaft betonen, zu der ja auch alle beteiligten „Ichs“ gehören, also mit „wir“, „ihr“ oder meinetwegen „sie“? Das wäre zwar wirklich nötig (nötich?), um wieder auf Synergieeffekte setzen zu können, doch können wir darauf in den Wirren des Niedergangs wohl lange warten.

Das bisher Gesagte mag eher wie eine Wortspielerei wirken, die sie ja zum Teil auch ist, doch das Phänomen offenbart eben auch Wahrheiten. In einer Gesellschaft, die das Wort „Toleranz“ dazu benutzt, jeden Trittbrettfahrer sozialer Errungenschaften (vom Steuerzahlen bis zum zivilisierten Schlangestehen) von Verantwortung und Kritik freizustellen, mussten Werbeverantwortliche geradezu auf diese Idee kommen.

Ein zweiter Grund kommt hinzu: Je schwerer es für den einzelnen wird, sich in einer nicht nur komplizierter, sondern auch irrationeller werdenden Gesellschaft zurechtzufinden, desto mehr braucht seine verwirrte, verunsicherte und verletzte Psyche Rückendeckung. So erwarten die Werber in ihrer bekannt kurzschrittigen Denkweise, positive (Konsum-)Gefühle mit der virtuellen Stabilisierung des Ego zu erzielen. Aber so sehr das Individuum in seiner Selbstwahrnehmung dadurch auch gestärkt wird, bleibt diese Stärkung in der wirklichen Welt doch eine scheinbare.

Der Nachteil für die Gemeinschaft aber ist durchaus real, wenn sich alle plötzlich vorrangich durch den Berufsverkehr nach Hause drängeln. Deswegen ergeht hier der Appell an das Massenpublikum dieses Blogs: Pflanzt den Wir-Wirus in die Köpfe Eurer Mitmenschen, lasst Euch von der Ich-Werbung nicht verwirren und ersetzt die Wirtualität der Propaganda durch wirkungsvolles Miteinander. Und setzt den Protest-Rentner Lindenberg in den Sonderzug nach Pankow, wo er sich dann meinetwegen ganz individuell heilich sprechen kann.

Mehr von Konrad Kustos gibt es hier: http://chaosmitsystem.blogspot.de/

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Markus Estermeier

Solange das nationale WIR hier in Deutschland derart niedergeprügelt wird, bleibt doch eigentlich nur noch das selbstsüchtige ICH übrig. Es ist eine alte Krankheit der Sozialisten dass sie nahezu ausrasten, wenn es jemandem vermeintlich besser geht als MIR. Mit welchen Beschwerlichkeiten dieses "besser gehen" oftmals verbunden ist bleibt dabei völlig unberücksichtigt. DER hat es, deshalb muß DER auch abgeben bis ER sozusagen nivelliert ist. Ist doch klar, oder?

Was hat Sozialismus mit sozial zu tun? Absolut nichts!!
Eine soziale Gemeinschaft funktioniert nur auf freiwilliger Basis. So wie innerhalb einer Familie ein Egoist nur sehr begrenzt Hilfe erwarten kann, läuft das auch auf Landes und Gobaler Ebene. Die griechische Regierung ist gerade so ein schönes Beispiel dafür.

Gravatar: Reiner Schöne

Warum leben wir eigendlich immer noch in einer Gesellschaft? Schließlich zählt das "ich" viel mehr. Ist das jetzt der Ansatz vom Kommunisten die dann doch lieber die schlimmsten Kapitalisten werden wollen? Oder mit anderen Worten, ist der viel geprießene Kommunismus, wo doch alle "gleich" sein sollen, nun doch eine Gesellschaft die noch größere Unterschiede zuläßt?

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