Neue Laut-Maut

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Die Welt verändert sich schneller, als wir denken können. Kein Wunder, dass so viele Dinge so wenig durchdacht sind. Vieles, was wir im Zeitalter des Niedergangs zu tun vermögen, bliebe deshalb besser ungetan. Beispielsweise forschen Daimler-Ingenieure an einem „intelligenten“ Gaspedal, das von Sensoren, Funkvernetzungen und dem Bordrechner mit Informationen zum Verkehrsaufkommen, zur Geländebeschaffenheit und natürlich der erlaubten Höchstgeschwindigkeit versorgt wird. Der Computer legt dann fest, ob die Piste zu buckelig oder die Fahrweise zu rasant ist, und leistet unserem Fußdruck zunehmend Widerstand. Als wenn der Blechkopf wissen könnte, ob ich mich auf einem Feldweg oder auf einer normalen Berliner Schlaglochstraße bewege. Es wird ihn auch nicht interessieren, dass ich mich nachts um drei vor der Schule nicht an die Geschwindigkeitsbeschränkungen zum Schutz von Schulkindern halten will. Nein, dieses haptische Fahrpedal wird mich sogar durch Pulsieren zur Gaswegnahme nötigen. Reicht es nicht, wie häufig uns unser Navi in die Irre führt? Zu einer ganz anderen Bedrohung durch die neue Autowelt gab es hier schon am 2. Oktober 2011 Erstaunliches zu lesen:

Die ganz Alten unter uns kennen noch die zahnschmerzenverursachende Fernsehquizsendung „Erkennen Sie die Melodie“ aus den 60er und 70er Jahren. Es galt dort Opern- und Operettenmelodien zu erraten, präsentiert von einem zum Sujet passenden Moderator Ernst Stankovski. Die gute Nachricht war: Niemand war gezwungen, das Geknödel einzuschalten.

Das Zeitalter des Niedergangs hält solche Freiheiten nicht bereit. Handys klingeln auf Hochzeiten und Beerdigungen in allen Spielformen des geltenden Musikgeschmacks. So viel Kultur muss eben sein. Feinkostabteilungen fehlt eben der nötige Geschmack, wenn sie uns mit Musik, Werbespots und anderen akustischen Verunreinigungen berieseln, um uns kaufwillig zu stimmen. Geschätzte 100 Millionen Euro lassen sich Kaufhauskonzerne den von uns unbestellten Musikteppich kosten, obwohl Studien ergaben, dass das Kaufverhalten der zwangsbeglückten Kunden dadurch eher negativ beeinflusst wird. Und selbst das Stammrestaurant meiner Wahl, dessen Geschmackssicherheit bei Speisen und Getränken über alle Zweifel erhaben ist, treibt mich wiederholt mit lauter Soulmusik schon bei zwölf Grad in den unverschallten Außenbereich.

Der individuelle Schall wird allerorten zum die Allgemeinheit nervenden Schwall. Doch nun droht das GAG (das Größte Anzunehmende Gräuel): Ein deutscher Hersteller hat einen Soundgenerator entwickelt, der künftig in Elektroautos eingebaut werden soll, damit die ansonsten superleisen Gefährte von anderen Verkehrsteilnehmern akustisch überhaupt noch wahrgenommen werden können. Was früher quietschende Bremsen und brummende Motoren erledigten, sollen nun Justin Bieber und Dieter Bohlen, beziehungsweise deren unsterbliche Melodien, übernehmen.

Bei den Tonfolgen soll es keine Grenzen geben, so der automotive Lärmentwickler. Er selbst schlägt vor, jedem Hersteller eine bestimmte Soundfolge zu erlauben, mit der er seine „Markenidentität“ betonen kann. Angesichts der 50 Millionen Kraftfahrzeuge derzeit in Deutschland, kommt da einiges auf uns zu, wenn sich die Hersteller nicht mehr durch Qualität, Preis und Optik, sondern durch teuer komponierte und möglichst eindringliche Jingles beweisen wollen! Spaß beiseite: Ein Crescendo unbeschreiblichen Ausmaßes droht.

Anscheinend halbvisionär habe ich schon in meinem Buch über den Niedergang sarkastisch dauerhupende Fahrzeuge (und Fußgänger) prophezeit, weil das von EU-Bürokraten erzwungene Tagfahrlicht die visuelle Wahrnehmung überfordert und akustische Alarmreize erfordern könnte. Aber nun das! Ohne Chance, wie beim seligen Stankovski auf einen anderen Kanal umschalten zu können. Vielleicht kann man das Getöse wenigstens kostenpflichtig machen? Als Laut-Maut sozusagen. Oder wir nehmen rechtzeitig etwas vom heutigen Straßenlärm auf und spielen ihn dann auf unseren MP3-Playern möglichst laut ab, um dem Zwangsgedudel zu entkommen.

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