Muttersprache

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Meine Mutter sagte neulich: „Junge, willst du dir nicht was Warmes überziehen?!“ Ich fand es eigentlich nicht so kalt. Da wir nun schon beim Thema Garderobe waren, musste sie mir gleich noch etwas sagen: Zu dieser Familienfeier, zu der ich unbedingt erscheinen soll, möge ich doch bitte etwas „Repräsentatives“ anziehen, da reisen entfernte Verwandte an, die darauf Wert legen.

So sprach meine Mutter. So tun es wahrscheinlich viele. Das ist gut so. Von der Muttersprache kann man viel lernen. Hier lernen wir gleich zwei rhetorischen Figuren kennen - einen schillernden Begriff und eine Fangfrage -, die zum Einsatz kommen, wenn über die Quote diskutiert wird und darüber, dass Frauen als Ganzes in den Vorstandsetagen nicht so repräsentiert sind, wie sich das so manche Frau wünscht.

Was ist eigentlich „repräsentativ“? Die einen denken, wenn sie das Wort hören, an nackte Zahlen, andere denken an die Welt des schönen Scheins. Die einen denken an die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Statistik wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, andere wiederum denken an die Queen und was sie bei ihrem letzten Auftritt anhatte. Die einen denken, dass etwas so „sein“, andere, dass es in erster Linie so „aussehen“ soll.

Denken wir an das Pixi-Drama von Hamburg. Was war passiert? Auf einer Seite des Heftes sah man an der Tafel drei Namen von Schülern, die für die Wahl zum Klassensprecher kandidierten: „Nadine, Max, Bruno“. Da schwappten die Wogen der Empörung hoch bis ins Rathaus. So geht das nicht! Wo bleiben da die Migranten?! Hier fielen schnell die großen Worte - „rassistisch“ und „diskriminierend“ -, obwohl es nur um eine kleine Grundmenge - „3“ - ging und um ein Heft im kleinen Format.

Ich weiß: Statistik ist langweilig. Ich mache es kurz: Selbst wenn wir bundesweit einen Migrantenanteil von 33,3 Prozent hätten, kann man nicht davon ausgehen (wie Politiker gerne sagen: „Ich gehe davon aus, dass ...“), dass sich dieses Verhältnis in jedem Bundesland, in jeder Gemeinde, in jeder Schule und in jeder Klasse so abbildet, dass in allen Untergruppen die Kinder nichtdeutscher Herkunft stets zu einem Drittel vertreten sind.

Dabei ist die Vorstellung, dass sich Makrokosmos und Mikrokosmos genau entsprechen, durchaus reizvoll. Das erfahren wir in dem wunderbaren und selbstverständlich großformatigem Buch ‚Die Schaulust am Elefanten’ von Stephan Oettermann. Wer hätte es gedacht!? Der Elefant weist dieselbe Struktur auf wie ein Floh. Er hat sogar einen Rüssel. Liegt hier etwa ein und derselbe Bauplan Gottes zugrunde? Sind wir womöglich dem Schöpfungsgeheimnis auf der Spur? Leopold Mozart jedenfalls hatte sowohl ein Mikroskop als auch ein Teleskop, um sich als Hobbyforscher ein Weltbild zurechtzulegen, in dem er die dieselben Gesetze im Großen und im Kleinen wiederfinden wollte. Wenn er noch leben würde, könnte er in Hamburg als Sachverständiger aussagen und erklären, dass die strukturellen Ähnlichkeiten zwar faszinierend, aber keineswegs so primitiv sind, wie sich das die Frauen, die eine Quote für Klassensprecher-Kandidaten im Pixi-Buch fordern, vorstellen.

Die Menge der Frauen, um die es bei der Besetzung der Vorstandsposten geht, ist auch nicht groß. Sie ist winzig. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung kommt eine Zahl heraus, bei der erst nach der vierten oder fünften Stelle hinter dem Komma etwas anderes als eine Null steht. Wie kann man bei einer so kleinen Menge eine Quote festlegen? Nur mit der Brechstange. Da kommt dann eine Politikerin aus der „Elefantenrunde“ (wie man am Wahlabend gerne sagt) und versucht, ihre Vorstellungen aus der großen Politik auf den kleinen Flohzirkus der Vorstände anzuwenden, auch wenn die Größenordnungen nicht zusammenpassen.

Bei all den Artikeln, die ich zum dem Thema gelesen habe, haben mir sowieso die Illustrationen am besten gefallen, die vielen Fotos von Nylonstrümpfen und Stöckelschuhen, die man da zu sehen kriegte, und das häufig wiederkehrende Motiv einer Frau, die gerade eine Treppe hinaufsteigt. Das sieht gut aus. Mit dem Aussehen habe ich kein Problem. Aber mit den Zahlen. So sind Männer. Die wollen Nummern. Die wollen etwas, womit sie rechnen können. Frauen nicht. Etwa 70% der Frauen haben es nicht so mit Zahlen. Meine Mutter auch nicht.

Da war noch etwas: „Willst du nicht ... ?!“, hatte sie gefragt, auch wenn das eine scheinheilige Frage war, bei der ein Nebeneinander von Fragezeichen und Ausrufezeichen erforderlich ist. Hier muss man besonders auf die Nebengeräusche achten. Die Anspielung auf meinen „Willen“ war nämlich mit der Unterstellung verbunden, ich wüsste nicht, was ich will. Oder ich wüsste es, würde es aber aus nichtigen Gründen nicht in die Tat umsetzen und bräuchte eine gesonderte Aufforderung. Sie ist die Mutter. Ihr lässt man die Übergriffigkeit, die man sonst nicht hinnehmen würde, durchgehen. 

Sie redet oft so. „Willst du nicht ... ?!“ ist der klassische Auftakt zu einem klassischen Mutterspruch - den Tonfall habe ich manchmal noch tagelang im Ohr. Der Satz hat seine Entsprechung in dem gefürchteten Männerspruch: „Du willst es doch auch!“ Beide Formeln haben eines gemeinsam: Sie wollen den Willen des anderen nicht ernsthaft abfragen, sondern lassen vielmehr die Bereitschaft durchblicken, sich darüber hinwegzusetzen.

So auch bei der Quote. Die Unternehmer, heißt es, sollen eine „freiwillige Selbstverpflichtung“ eingehen. Hier ist auch vom „Willen“ die Rede, sogar von einem „freiem“. Doch wie verträgt sich der mit einer Verpflichtung? Und wie mit der Androhung von Sanktionen?

Gar nicht. Hier waren offenbar Leute am Werk, die nur deshalb so locker mit Widersprüchen umgehen können, weil sie die nicht selber ausbaden müssen, und weil niemand es wagt, sie darauf hinzuweisen. Vermutlich versuchen sie demnächst, gleichzeitig nach links und nach rechts abzubiegen.

Manchmal bin ich bei Veranstaltungen, bei denen anschließend der Hut herumgeht, in den man eine „freiwillige Spende“ für den Künstler legt. Eine Strafe wird nicht angedroht. Es ist auch kein Damenhut.

Wozu braucht der Mensch überhaupt einen freien Willen? Geht es nicht auch ohne? Vielleicht. Der Mensch braucht einen freien Willen, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und damit die Möglichkeit zu haben, sich schuldig zu machen, ansonsten könnte ein gerechter Gott ihn nicht strafen. Soweit die Auffassung von Gottfried Wilhelm Leibnitz (1649 - 1716 ), die inzwischen etwas in die Jahre gekommen ist. Heute wird es einem leicht gemacht; die Entscheidung ist bereits gefallen: Quote gut, keine Quote böse. Den freien Willen braucht ein Unternehmer nur noch, um sich vor Strafe zu schützen, die heute nicht von einem gerechten Gott, sondern von einer Ministerin verhängt wird.

Wenn wir mehr auf die Mutter hören würden, wüssten wir auch, wie das mit dem „Willen“ überhaupt gemeint ist. Es geht nicht um einen „freien“ Willen, sondern um einen, der an etwas gebunden ist. An was? An eine Frage. Aber nicht etwa an die Frage, ob wir uns etwas überziehen, sondern an die Frage, ob wir einen Dissens mit der Mutter riskieren wollen. Das wollen wir natürlich nicht. So erklärt sich auch das zunächst verwirrende „nicht“ in ihrem Satz, der anders ausgedrückt heißt: Du willst bestimmt nicht anderer Meinung sein als ich!

Die Mutter meint es gut. Sie ist fürsorglich und sie erliegt dem Zauber der verschlingenden Liebe, der erstaunlich lange Schatten wirft. Sie klammert sich an das Ideal einer alles umfassenden Gleichheit, das ihr sagt: Wir sind ein Herz und eine Seele, eine gefühlte Körpertemperatur und ein Wille. Und außerdem ein guter Geschmack: Wir wissen beide, was am besten aussieht.

Mir wurde es doch langsam kalt. Und ich wollte mich nicht mit meiner Mutter streiten. Also holte ich mir freiwillig einen Pullover. Doch was Zahlen betrifft, muss ich sagen, sie gehört wirklich zu denen, die es nicht so damit haben. Als sie noch mal nachfragte, ob ich denn nun zu der erwähnten Familienfeier komme und ich erkennbar unwillig sagte: „Ach, ich weiß nicht. Wann ist die denn? Der wievielte ist das?“, da konnte sie keine Zahl - also kein Datum - nennen und hat nur ganz traurig geguckt.

Beitrag erschien zuerst auf achgut.com

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Karin Pfeiffer-Stolz

Sehr geehrter Herr Lassahn,

in diesen Zeiten tut es einfach nur gut, etwas zu lesen, das nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern auch zum Schmunzeln. Danke!

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