Mit Lyautey nach Afghanistan und Haiti

Im Jahr 1891 veröffentlichte der französische Kolonialoffizier Hubert Lyautey (1854-1934) einen Aufsatz mit dem Titel „Die soziale Rolle des Offiziers“. Wenn man seine Kernthese in heutige Begriffe übersetzt, forderte er ein Engagement des Militärs in der Modernisierung unterentwickelter Gesellschaften. Der Offizier sollte nicht nur Soldaten ausbilden und Kriege führen, sondern auch Entwicklungspolitik betreiben.

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Lyautey, der bis zum Marshall aufstieg, aber auch in die Französische Akademie berufen wurde, durchlief eine glänzende militärische Karriere, die ihn nach Algerien, Indochina, Madagaskar und Marokko führte, wo er bis 1925 als General-Resident blieb (mit einer kurzen Unterbrechung als französischer Kriegsminister 1916/1917). „Frankreich muß eine große muslimische Macht sein“, schrieb er rückblickend – ein Satz, zu dem sich unter den aktuellen Verhältnissen in Frankreich viel sagen ließe.

Doch greifen wir sein Wort von der „sozialen Rolle des Offiziers“ noch einmal auf. Klingt das in unseren heutigen Ohren nicht schmerzlich aktuell? Wir fordern, daß unsere Soldaten in Afghanistan Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt bringen, nicht Tod und Zerstörung. Sie sollen Entwicklungshelfer sein, die Brunnen und Schulen bauen und den afghanischen Frauen Bürgerrechte geben. Durch soziale Wohltaten sollen sie die Macht der Taliban brechen.

Gewiß müßten wir, der heutigen political correctness folgend, sogleich die Verdienste der Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) und der internationalen Organisationen preisen, hinter denen die Soldaten zurückstehen müssen. Doch in Haiti erleben wir, daß nur das Militär, in diesem Fall dasjenige der USA, wirklich in der Lage ist, sofort und massiv am Schauplatz einer Naturkatastrophe präsent zu sein. Da Haiti praktisch ohne Regierung und übrigens auch ohne Polizei dasteht – von anderen Staatsorganen oder öffentlichen Einrichtungen gar nicht zu reden – mußten die US-Truppen zunächst den Flugplatz „erobern“ und wieder in Betrieb nehmen, ehe die großen Hilfsaktionen überhaupt beginnen konnten. Hubert Lyautey wäre über das technische Gerät der GI’s erstaunt gewesen, aber im übrigen hätte er sich vermutlich gefreut über diese „soziale Rolle“.

Aber wie soll es nun weitergehen?  Wird man Haiti wieder jenen übergeben, die das Land über Jahrzehnte hinweg verkommen ließen und die damit eine Mitschuld an der Misere der Erdbebenkatastrophe tragen, die ein Land ohne funktionierende öffentliche Einrichtungen viel härter treffen mußte als ein wohlgeordnetes Gemeinwesen?

An diesem Punkt müssen wir uns von Lyautey verabschieden, der nach damaligem Zeitgeist glaubte, daß der Übergang zur „Zivilisation“ unter der Führung Frankreichs (oder ähnlicher Kolonialmächte) mit einer zivilisatorischen Mission geschehen und notfalls mit Waffengewalt durchgesetzt werden müsse. Das wäre heute nicht annehmbar. Oder doch? Gehört nicht das neu erfundene Dogma von der „humanitären Intervention“ in diesen Kontext?

Nein, das darf nicht sein! Die Fassade der völkerrechtlich gleichberechtigten Staaten muß aufrecht erhalten werden, auch wenn diese in vielen Fällen gar keine Staaten sind, welche die Grundprinzipien der UNO-Charta und anderer großer Völkerrechtsdokumente im Inneren durchsetzen können (oder wollen).

Im Falle einer Naturkatastrophe, wie in Haiti, kann man auf das Kleingedruckte des Völkerrechtes verzichten. Zum Glück fand Hilary Clinton den Staatspräsidenten von Haiti lebend vor, der mit ihr eine Rahmenvereinbarung über den US-Militäreinsatz unterschreiben konnte. Doch was ist in Afghanistan zu tun, wo die Nordamerikaner und Europäer völkerrechtlich gesehen nur als Hilfskräfte der offiziellen Regierung tätig und damit von dieser abhängig sind, egal wie schlecht und ineffektiv diese auch sein mag? Hier bleibt keine andere Möglichkeit, als die öffentliche Kritik an dieser Regierung zu unterdrücken, weil sonst in den demokratischen Öffentlichkeiten lautstark gefragt werden könnte, für wen unsere Soldaten eigentlich arbeiten (und sterben).

Somit zwingt uns die Ideologie der „internationalen Gemeinschaft“ fortlaufend, allerlei Un- und Halbwahrheiten zu verkünden. Dabei weiß jeder, der die sogenannte Dritte Welt genauer beobachtet, daß ein Großteil unserer Entwicklungshilfe und Hilfsgelder unsinnig verschwendet wird oder zur Korruption der örtlichen Eliten dient (oder beides) und daß diese Eliten in den meisten Fällen gar nicht beabsichtigen, ihre Länder gemäß den Wünschen der westlichen Friedens- und Entwicklungsromantiker zu regieren. Ähnlich wie die USA im Vietnamkrieg, werden wir deshalb nach den Lügen während der Jahre der Intervention – ich meine die Lügen im oben beschriebenen Sinne – einige Lügen für den Rückzug finden müssen, um unser Abenteuer zu Ende zu bringen.

Wollte man mit Lyautey beginnen, das Nord-Süd-Verhältnis neu zu definieren, so müßte man die Geschichte des kolonialen Zeitalters aber auch die Geschichte der westlichen Entwicklungshilfe seit den 1950er Jahren komplett umschreiben. (Ich meine hier die öffentliche Wahrnehmung derselben und die aus ihr resultierende „politisch korrekte“ Politik. Denn in der Wissenschaft selbst gibt es längst kritischen Widerspruch gegen diese „herrschende Lehre“.) Damit ist nicht gemeint, man könne das Rad der Geschichte zurückdrehen und wieder überall unter der tropischen Sonne auf Elefanten einziehen, um „die Bürde des weißen Mannes“ zu übernehmen, wie es einst Rudyard Kipling forderte. Aber wir müssen endlich erkennen, daß sich unsere Süd-Politik auf dem Holzweg befindet. Das sieht man jeden Tag — in Afghanistan, in Haiti und an vielen anderen Orten.

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