Bezahlte Schulleistung
Ich erinnere mich an die Zeit, da ich in der Grundschule Deutsch unterrichtete. In wöchentlichen Abständen ließ ich Kurzdiktate schreiben, deren Ergebnisse aufgrund meiner speziellen Methode (5-Minuten-Diktate) überwiegend sehr gut ausfielen. Nach jedem Diktat erzählten mir einige Kinder, sie hätten wieder Geld bekommen von Oma, Opa oder von den Eltern, wobei sich selbst eine Vier noch als wirtschaftlich lukrativ erwies. Ein Mädchen berichtete von der Staffelung der Entlohnungshöhe: Eine Mark (es war vor Einführung des Euro) für eine Vier, zwei für eine Drei, drei für eine Zwei und fünf für eine Eins. War es ein Zufall, daß es ausschließlich die weniger pflichtbewußten Schüler waren, deren Haupteinnahmequellen schulische Zensuren zu sein schienen? Meine Klassenstars schienen hingegen leer auszugehen, obwohl – oder weil? – sie beim Lernen gewissenhaft, fleißig, belastbar, zielstrebig und begeisterungsfähig waren.
Diese Beobachtung deckt sich mit empirischen Befunden und psychologischen Untersuchungen, nach denen Belohnungen sowohl die Eigenmotivation als auch die Freude an der Selbstinitiative schwächen. Die gewohnheitsmäßig entrichtete Leistungsprämie in Form von Geld (für nicht einmal herausragende Schulleistungen!) vermag die kindliche Leistungsbereitschaft nachhaltig zu zerstören.
Der sogenannte Marshmallow-Test
Als Beleg dafür kann der als Marshmallow-Test bekanntgewordene Versuch dienen, den der amerikanische Psychologe Walter Mischel ersonnen und vor etwa 50 Jahren in einer Vorschule durchgeführt hat. Vor den Augen einer Gruppe von Kindern im Alter von durchschnittlich vier Jahren legte er eine Packung Marshmallows (Süßigkeiten) ab. Er versprach den Kindern jeweils einen Marshmallow – wenn sie sich einige Minuten gedulden könnten, dürften sie sogar zwei haben. Ein Teil der Kinder wollte nicht warten und verzehrte ohne Verzögerung den Marshmallow. Der andere Teil übte sich in Geduld, wobei die wartenden Kinder unterschiedliche Ablenkungsstrategien anwandten: wegschauen, die Augen schließen, sich anderweitig beschäftigen.
14 Jahre später überprüfte der Psychologe die Lebensläufe der „Marshmallow-Kinder“. Diejenigen Kinder, die ohne Zögern gierig nach der Süßigkeit gegriffen hatten, litten als junge Erwachsene unter einem Mangel an Selbstbeherrschung. Von den Personen ihrer Umgebung wurden sie als stur auf etwas beharrend, schnell frustriert und neidisch beschrieben. Die Gruppe der geduldig Abwartenden zeichneten sich aus durch Belastbarkeit und ein gutes persönliches Streßmanagement. Sie wurden von Bekannten als sozial kompetent, freigebig, vertrauenswürdig und zuverlässig beschrieben. Kaum noch erwähnt werden braucht, daß sie auch akademisch und beruflich erfolgreicher waren.
Lernen ist eine Art aktives Warten
Nun, was hat dieses alles mit Geld zu tun? Auf den ersten Blick erschließt sich das nicht, also riskieren wir einen zweiten. Materielle Belohnung lenkt den Blick des Beschenkten fort vom Gegenstand des Lernens auf billiges materielles Lob, das anstelle von Zuwendung und Aufmerksamkeit freizügig erteilt wird. Das Lernen selbst ist – ähnlich dem Warten – mühevoll und von teils unangenehmen Gefühlen begleitet. Dem Lernenden verlangt dieser Vorgang Selbstverzicht und Bündelung der Aufmerksamkeit ab; das ist anstrengend und kann sogar schmerzhaft sein. Gefühle des Überdrusses, der Langeweile, der Pein – ertragen muß sie, wer in einem Bereich Fortschritte machen möchte. Man kann dies als eine Art aktives Warten betrachten. An dessen Ende steht die Freude an der eigenen Kraft und am Zuwachs der Fertigkeiten. Solche Freude kann nicht entstehen, wenn Arbeit allein der Entlohnung durch einen Erwachsenen wegen getan wird. Die Erfolgsprämie ist ein leeres, ein falsches Lob.
Freikauf durch billiges Lob
Astrid von Friesen beklagt, daß Kinder „totgelobt oder mit Dank zugeschüttet“ würden, „sodass sie ihr eigenes Gespür für die realistische Wahrnehmung dessen, was sie da getan haben, ... verlieren.“ (2) Dabei wird deutlich, daß das Bezahlen von Schulzensuren die billigste Art und Weise darstellt, sich aus der gelebten Verantwortung zu stehlen: Das Kind wird bezahlt, damit ist der Saldo im Soll und
Haben der pädagogischen Buchhaltung wieder ausgeglichen. Kinder spüren das. Der Geldbetrag wird bereitwillig genommen, doch nur deshalb, weil die eigentlichen, die seelischen Bedürfnisse nicht artikuliert werden können. Kinder möchten etwas Nützliches zu leisten, das sie zu vollwertigen Mitgliedern der Gemeinschaft macht, um so dazuzugehören und geachtet zu sein. Das Dazugehören aber drückt sich hauptsächlich atmosphärisch aus. Um ein Lebensumfeld der freundlichen Akzeptanz zu erreichen, bedarf es weder vieler Worte noch überschwenglichen Lobes. Vollkommen überflüssig, ja geradezu schädlich aber wirkt hierbei Geld.
Quellen:
1) N. Westerhoff: Geld macht faul. in: sueddeutsche.de vom 2.9.2009 (URL: /wissen/604/486024/text/)
2) Astrid von Friesen: Von Aggression bis Zärtlichkeit, Kösel Verlag, München 2003
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