Lässt CERN „tote“ Materie lebendig werden?

 

Leben ist gekennzeichnet durch die prinzipielle Unvorhersagbarkeit des Verhaltens. Die Flugbahn eines Steins kann man vorhersagen. Für die Bahn des Vogelflugs gilt das nicht. Doch die Welt toter Materie ist im Kleinen ungeahnt lebendig.

 

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Die Unterschiede zwischen der Welt im Großen und jener in den Dimensionen von Atomen oder kleiner können an einem Beispiel verdeutlicht werden. Ein Pendel der klassischen Physik, wie das Pendel einer alten mechanischen Uhr, hängt für alle Zeiten regungslos senkrecht herunter, wenn die Uhr nicht aufgezogen wird. Nicht so das Pendel von atomarer Größe. Denn in dieser Größenordnung gelten die Gesetze der Quantenmechanik. Danach ist das Pendel immer in Unruhe. Es fluktuiert um die Ruhelage herum, befindet sich jedoch nie exakt an deren Position. Unter Fluktuation versteht man hier eine permanente und zufällige Veränderung des Zustands oder der Lage, sodass man nie genau sagen kann, welche Auslenkung es gerade hat.

Es war kein Geringerer als der Physiker Werner Heisenberg (1901 – 1976); der diesen Umstand im Zusammenhang mit sogenannten Doppelspaltexperimenten entdeckte. In der Wissenschaft ist seine Entdeckung unter dem Namen Unschärferelation bekannt. Heisenberg bekam dafür im Jahr 1932 den Nobelpreis.

Ist Materie beseelt?

Eine der Aussagen der Unschärferelation ist es, dass kein Teilchen einen bestimmten Ort und eine bestimmte Geschwindigkeit gleichzeitig besitzen kann. Würde sich demnach das Pendel am Ort der Ruhelage befinden, könnte es nicht gleichzeitig die Geschwindigkeit null haben. Hätte es andererseits die Geschwindigkeit null, könnte es nicht gleichzeitig am Ort der Ruhelage sein. Die Konsequenz ist, dass das quantenmechanische Pendel weder an einem genau bestimmten Ort zu finden ist, noch eine genau bestimmte Geschwindigkeit besitzt. Es fluktuiert einfach um den Ort der Ruhelage herum und das für alle Ewigkeit. Niemals ist es in Ruhe. Sein Verhalten ist genauso unvorhersagbar, wie man es von etwas Lebendigem gewohnt ist. Kann man daraus auf eine Art Beseeltheit der Materie und der Naturkräfte schließen?

Fluktuation ist das Prinzip der Natur, das aus nichts etwas entstehen lässt. Aus der Unschärferelation folgt, dass selbst im bestmöglich leeren Raum, dem physikalischen Vakuum, etwas fluktuiert. Das bedeutet, dass elektromagnetische Wellen im physikalischen Vakuum zwar im Mittel verschwinden, aber dennoch als Energieschwankungen vorkommen, die der Unschärferelation genügen. Diese fluktuierenden elektromagnetischen Wellen treten als Wärmestrahlung und bei höheren Temperaturen sogar als Licht auf.

Wie CERN Materie aus dem Nichts entstehen lässt.

Fügt man einem physikalischen Vakuum auf irgendeine weise Energie hinzu, geschieht etwas Seltsames. Fluktuationen sorgen dafür, dass die Energie in reale Teilchen-Antiteilchen-Paare umgewandelt wird, z.B. einem Elektron und seinem Antiteilchen dem Positron (Paarerzeugung). Praktisch aus nichts ist dann Materie entstanden und die Energie zu Masse kondensiert. Einerseits wählt die Fluktuation eine Alternative unter allen Möglichkeiten, andererseits löst sie den Prozess selbst aus.

Im Gegensatz zur klassischen Physik, in der es für jedes physische Ereignis eine Ursache gibt, bedarf es für Fluktuationen keinerlei Ursache. Weil der Vorgang aber nicht ohne Einsatz von Energie ablaufen kann, borgt sich die Fluktuation die benötigte Energie im Nichts des Vakuums aus. Wie im täglichen Leben muss über kurz oder lang der Kredit zurückgezahlt werden. Die dabei geltende Regel, die Heisenberg herausfand, lautet: Energiereiche Fluktuation dauern nur kurz, energiearme kann es länger geben. Wenn aufgrund zugeführter Energie reale Teilchen-Antiteilchen-Paare entstehen, können diese allerdings auch nach Beendigung der sie verursachenden Fluktuation weiter existieren.

In der Praxis führt man den Schöpfungsprozess, nämlich die Paarerzeugung, regelmäßig in Teilchenbeschleunigern durch. Zu dem Zweck wurde kürzlich auch der weltgrößte Teilchenbeschleuniger am Forschungszentrum CERN in Genf in Betrieb genommen. Im Vakuum von Teilchenbeschleunigern werden winzigste Elementarteilchen auf extrem hohe Geschwindigkeiten beschleunigt. Hohe Geschwindigkeit bedeutet einen entsprechenden Gehalt an Bewegungsenergie. Durch den gewollten Zusammenprall mit anderen Teilchen wird diese plötzlich in Wärmeenergie umgewandelt. Die Fluktuation im Vakuum sorgt dann dafür, dass die Energie verwendet wird, um reale Teilchen-Antiteilchen-Paare zu erzeugen. Je nachdem wie viel Energie zur Verfügung steht, entstehen aus dem Nichts andere Arten von Teilchen und vernichten sich gegebenenfalls auch wieder.

Sind Raum und Zeit energiearme Fluktuationen?

Am CERN hofft man durch den Einsatz enormer Energien endlich das lange gesuchte Gottesteilchen zu erzeugen, wie scherzhaft das Higgs-Boson genannt wird. Dieses Gottesteilchen soll nämlich nach der derzeit herrschenden Theorie anderen Teilchen ihre Masse verleihen und uns detailliert Aufschluss über den Schöpfungsprozess des Urknalls geben. Weil Raum und Zeit erst mit dem Urknall entstanden sein sollen, gilt es als nicht ausgeschlossen, dass beides selbst energiearme Fluktuationen von langer Lebensdauer sind.

Fluktuationen lassen sich nicht abstellen. Ihnen kommt eine Lebendigkeit zu, wie man sie sonst nur bei Lebewesen findet. Fluktuationen auf subatomarer Ebene werden sogar für den Hauch des Lebens verantwortlich gemacht, der tote Materie in biologisch aktive verwandelt. Deshalb verwundert es nicht, wenn der Glaube an die Beseeltheit der Natur und der Naturkräfte neue Nahrung erhält. CERN wird auch hier mehr Klarheit bringen. - Klaus-Dieter Sedlacek

 

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