Kitas schadeten Kindern nicht – sowohl körperlich als auch seelisch, sonst müssten wir ja fast alle krank sein

Kita-Lüge 10: Diese vordergründig plausibel erscheinende Behauptung wird sowohl in der allgemeinärztlichen Sprechstunde als auch im Alltag immer dann aufgestellt, wenn es um frühe Fremdbetreuung geht.

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Allerdings ist diese Theorie seit den Anfängen der Bindungsforschung in den fünfziger Jahren (z.B. John Bowlby(16), Mary Ainsworth(17)), wiederholt und eindringlich von Entwicklungspsychologen, Psychotherapeuten und Pädiatern als gefährliches Wunschdenken entlarvt worden, ohne dass dies in Deutschland entsprechend zur Kenntnis genommen wurde.

Seit 1968 widmet sich zum Beispiel das Kinderzentrum München der Deprivationsforschung. Außer seinem Gründer, Theodor Hellbrügge, repräsentieren Namen wie René Spitz, Johannes Pechstein und Zdenek Matejcek seit langem die wissenschaftliche Bindungsforschung. Eine eindrucksvolle Beobachtung zu diesem Thema stammt auch von Anna Freud. Sie beschrieb, dass Kriegskinder ihre Angst in Bombennächten relativ gut verarbeiten konnten; schwere seelische Traumen traten erst auf, nachdem die Kinder von ihren nahen Angehörigen getrennt wurden.(18)

In ihrem im Jahre 2000 in Amerika erschienenen Buch „Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern“ fassen die Pädiater Brazelton und Greenspan ihre Ergebnisse wie folgt zusammen: „[…] dürfen wir auch nicht vergessen, dass die emotionale Deprivation ebenso verheerende Auswirkungen nach sich ziehen kann wie die Unterernährung und andere physische Entbehrungen. In gewisser Hinsicht zieht die emotionale Vernachlässigung aufgrund der psychischen Qual und Desorganisation, die sie verursacht, sogar noch schlimmere Konsequenzen nach sich. Emotionale Entbehrungen untergraben den menschlichen Geist und die Fähigkeit, für künftige Generationen zu sorgen. Die körperlichen Bedürfnisse der Kinder sind von ihren emotionalen nicht zu trennen.“

Die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung warnte in einem 2007 veröffentlichten Memorandum zur Kita-Offensive, dass plötzliche oder zu lange Trennungen von den Eltern in der frühen Kindheit einen bedrohlichen Verlust der Lebenssicherheit bedeuteten, auch weil Sprach- und Zeitverständnis des Kindes noch nicht weit genug entwickelt seien, um Verwirrung oder Angst mit Erklärungen zu mildern. Die seelische Überforderung des Kindes durch eine Trennung, die sich in verzweifeltem Weinen, anhaltendem Schreien oder späterem resignierten Verstummen sowie in Schlaf- und Ernährungsstörungen zeige, fordere besondere Zuwendung und Verständnis, um nicht zu einer innerseelischen Katastrophe zu werden. Pflegeleichte Kinder, die gegen die Trennung nicht protestierten, brauchten besondere Aufmerksamkeit, da ihre seelische Belastung zuweilen nicht erkannt werde […]. Je länger die tägliche Betreuung getrennt von den Eltern dauere, desto höhere Werte des Stresshormons Cortisol seien im kindlichen Organismus nachweisbar […] Je jünger das Kind sei, je geringer sein Sprach- und Zeitverständnis, je kürzer die Eingewöhnungszeit in Begleitung der Eltern, je länger der tägliche Aufenthalt in der Krippe, je größer die Krippengruppe und je wechselnder die Betreuungen, desto ernsthafter sei die mögliche Gefährdung seiner psychischen Gesundheit.

Gerade dieses mangelnde Verständnis für die seelische Belastung der Kinder erlebt jedoch die Psychoanalytikerin Ann-Kathrin Scheerer in ihrer Praxis: „Trennungsschmerz und Verlustangst machen Krippenbetreuung zu einem psychisch riskanten Unternehmen. Denn die frühen Beziehungserfahrungen der Kinder, das Erlernen des Gefühlsausdrucks, die Qualität ihrer emotionalen Bindungen zu den Eltern legen die Grundlage für psychische Gesundheit, für die Fähigkeit, befriedigende Beziehungen einzugehen und die eigenen widersprüchlichen Affekte und Antriebe zu integrieren […]. Wer in Kinderkrippen die morgendlichen Abschiedsszenen und Anklammerungsgesten des Kindes, das sich noch nicht trennen möchte, beobachtet, das oft auf eilige Eltern und überbeschäftigte Erzieherinnen trifft, […] wird bemerken, dass hier etwas psychisch Gefahrvolles vor sich geht, oder er muss, um nicht mitzuleiden, seine Wahrnehmung abschalten […]. Kinder sind erst mit etwa drei Jahren zu Empathie mit anderen Kindern und folglich auch erst dann zu freiwilligem Verzicht und zum längeren Warten fähig. Vorher befinden sie sich im vorempathischen Stadium der Affektansteckung […] Kinder, die ihren innerseelischen Stress aggressiv bewältigen können, sind psychisch weniger gefährdet als das stille Kind, das in seiner Desorientiertheit nach der Trennungsszene übersehen wird. Allerdings muss das aggressive Verhalten als Abwehr von Trennungs- und Verlustangst erkannt werden, sonst kommt es durch ausgrenzende Reaktionen zur Selbstverstärkung.“ Als Folge beschreibt Scheerer vermehrte Aggressionen und Depressionen schon im Kindesalter!

In Schweden, warnt die Neurologin Annica Dahlströhm, Professorin an der Universität Göteborg, hätten sich „die statistischen Raten bezüglich Selbstmord, Suizidversuch, Depression und der Einnahme von Psychopharmaka bezüglich junger Frauen bis zu 400 Prozent innerhalb der letzten zehn Jahre erhöht […].Die erste Generation, die geboren wurde unter den neuen nun geltenden Bedingungen in Schweden, war vom ersten Lebensjahr an in der Kinderkrippe, und hat während ihrer ersten sechs Lebensjahre den größten Teil ihres wachen Lebens mit Krippen- und Tagesstättenpersonal verbracht […]. Das ist nun das erste Mal, dass wir erkennen können, wie es jener Generation geht, die nun die Konsequenzen tragen muss aus diesem schwedischen Experiment“(19)

Immer wieder wird auch die stagnierende Sprachentwicklung dieser Kinder beklagt – hervorgerufen durch hörbeeinträchtigende Infekte, nur eingeschränkt mögliche Dialoge, durch unkindgemäße Phonstärke in den Einrichtungen und die mangelnde Motivation zur Nachahmung bei fehlender primärer Bezugsperson.

Die umfänglichste Widerlegung dieser Lüge Nr.10 findet sich in der schon unter Lüge Nr.5 (zur Sozialisation) erwähnten internationalen Langzeitstudie des National Institute of Child Health and Development (NICHD). Sie wurde 2011 auf einem Kinderärztekongress in Bielefeld von Jay Belsky, Psychologe aus San Francisco, vorgestellt.

In seiner Zusammenfassung unter dem Titel „Die dunkle Seite der Kindheit“7 – auch nachzulesen im Internet – schreibt Rainer Böhm: „Dank einer neuen Technik konnten Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten Ende der neunziger Jahre bei Kleinkindern in ganztägiger Betreuung in zwei Daycare Centers erstmals das Tagesprofil des wichtigen Stresshormons Cortisol bestimmen. Entgegen dem normalen Verlauf an Tagen im Kreis der Familie – hoher Wert am Morgen und kontinuierlicher Abfall zum Abend hin – stieg die Ausschüttung des Stresshormons während der ganztägigen Betreuung im Verlauf des Tages an – ein untrügliches Anzeichen einer erheblichen und chronischen Stressbelastung […]. Jene Cortisol-Tagesprofile, wie sie bei Kleinkindern in Kinderkrippen nachgewiesen wurden, lassen sich am ehesten mit den Stressreaktionen von Managern vergleichen, die im Beruf extremen Anforderungen ausgesetzt sind. Bei Kindern liegen die Hormonwerte weit jenseits der milden und punktuellen Aktivierungen des Stresssystems, die als entwicklungsförderlich anzusehen sind […]. Bei den inzwischen 15 Jahre alten Probanden, die schon früh ganztags betreut worden waren, zeigten sich die gleichen Veränderungen wie bei Kindern, die in der Familie emotional vernachlässigt oder misshandelt worden waren […]. Säuglinge und Kleinkinder können Stressbelastungen noch nicht in Worte fassen. Auch in ihrem Verhalten sind Anzeichen für chronischen Stress oft diskret, wenn nicht fast unmerklich […]. Aber es führt kein Weg um die Einsicht herum, dass die Mehrheit der ganztags betreuten Krippenkinder, selbst wenn sie in schönen Räumen mit anregendem Spielzeug von engagierten Erziehern oder Erzieherinnen betreut wird, den Tag in ängstlicher Anspannung verbringt, dass sich dies bei einem Teil der Kinder in anhaltenden Verhaltensauffälligkeiten niederschlägt und dass mit dieser Form der Betreuung Risiken für die langfristige seelische und körperliche Gesundheit einhergehen.“ Als mögliche Folgen erwähnt Böhm schwer behandelbare Depressionen, Fettsucht, Infekte, Kopfschmerzen, immunologische Störungen, Herz-Kreislauferkrankungen und sogar Krebs.

Schon häufiger wurde das Stresshormon Cortisol erwähnt. Es spielt gemeinsam mit dem Serotonin eine Schlüsselrolle im Verständnis der Zusammenhänge von Stressoren im Kindesalter und den daraus resultierenden Folgen. Seit einigen Jahren gibt es zuverlässige Messmethoden, die eine objektive Beurteilung des kindlichen Beunruhigungszustands erlauben, der diesen Kindern äußerlich nicht anzusehen ist. Dank vielfältiger Ergebnisse der Epigenetik kann man inzwischen sehr genau die Vorgänge beschreiben, die die Verbindung zwischen Umwelteinflüssen, Persönlichkeit, Neurobiologie und Genetik herstellen. Zum besseren Verständnis der folgenden Abschnitte ist an dieser Stelle ein kurzer Einschub zu diesem Wissenschaftszweig notwendig.

(16) John Bowlby, Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Kindler Verlag, Berlin 1982

- John Bowlby, Maternal care and mental health. World Health Organization Monograph 1951, Serial No. 2

(17) John Bowlby, Mary D. Salter Ainsworth: Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. E. Reinhardt, München/Basel 2001.

(18) Anna Freud: Die Schriften der Anna Freud, S. Fischer 1987

(19) Annica Dahlströhm, in Göteborgs Posten v. 27.3.2011: „En familjepolitik som gör barnen psykist sjuka.“

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