Kippschalter für das Mitgefühl

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Münster. Auto rast in Menschenmenge. Im Tagesspiegel wird von einem Studenten berichtet, der sich das Fußballspiel FC Schalke gegen den Hamburger SV ansehen wollte. „Als wir von dem Anschlag gehört haben, wollten wir nicht mehr Fußball gucken gehen, erzählt er. Als dann aber bekannt wurde, dass der Anschlag nicht von Islamisten begangen wurde, habe man sich umentschieden. „Die Angst war irgendwie weg“.

Seltsam. Ich erinnere mich: Nach dem Anschlag im Olympia-Einkaufszentrum im Jahre 2016 hatte mir jemand gesagt: „Aber das war ja ein Rechter“, als wäre er nun erleichtert, als wäre eine Last von ihm abgefallen. Aber nicht wirklich. Bei dem Mann aus Münster auch nicht. Er fügte hinzu, dass immer noch ein „seltsames Gefühl“ dabei gewesen wäre.

 

Ein Selbstversuch in Sachen Menschlichkeit

Was ist das für ein seltsames Gefühl? Ist da nur die Angst weg oder ist da gleich noch mehr weg? Ist dann auch unser Mitgefühl weg? Unsere Menschlichkeit? Ich hatte schon davon gelesen, und zwar in dem Buch ‚Various Positions. Das Leben Leonard Cohens‘ von Ira B. Nadel (das man für 0,99 oder 23,42 Euro kaufen kann):

Einen unfreiwilligen Selbstversuch in Sachen Menschlichkeit hatte Leonard Cohen schon Anfang der siebziger Jahre gemacht, genau gesagt 1973, als er auf die Insel Hydra zurückgekehrt war und das Zusammenleben mit Frau und Kind nicht mehr ertragen konnte (er spricht von einem „Vorhang aus Rasierklingen“, in einem seiner Songs heißt es lakonisch „I live here with a woman and a child, the situation makes my kind of nervous“), er wurde dermaßen kribbelig, dass er der Versuchung nicht länger widerstehen konnte, endlich an einem richtigen Krieg teilzunehmen.

Das wollte er immer schon. Er wollte es schon, als er Anfang der sechziger Jahren kurz vor der Invasion in der Schweinebucht nach Kuba aufbrach, um da eine „Begegnung mit dem Tod“ zu haben, wie er in einem noch älteren Dokumentarfilm erklärt (an den Titel erinnere ich mich nicht, ich weiß aber noch, dass er in Schwarzweiß ist). Damals hatte seine Mutter hinter ihm her telefoniert, er konnte gerade noch rechtzeitig ausreisen.

 

„Krieg ist wundervoll“

Und nun? Wie würde es ihm in seiner, wie er sagt, „mythischen Heimat“ ergehen, wo er früher schon Konzerte gegeben hatte und wo sich nun gerade der Jom-Kippur-Krieg anbahnte? In seiner unveröffentlichten Schrift ‚The Final Revision of My Life in Art’ erklärt er, warum es ihn geradezu unwiderstehlich dahin zog: „ … zum Teil, weil es so schrecklich zwischen uns war, dass ich lieber gehen und ägyptische Kugeln mit meinem Körper aufhalten wollte.“

Er nahm Kontakt auf mit dem Sänger Sholomo Semach, der damals bei der Luftwaffe diente, und bat ihn, irgendetwas zu finden, wo er sich nützlich machen konnte. Zusammen mit anderen stellten sie eine kleine Truppe von Unterhaltungskünstlern zusammen, die für die Soldaten in Raketenstellungen, Panzerstellplätzen und Lagern spielte. Die Konzerte waren „formlos und sehr intensiv“, die Künstler wurden einfach mit Taschenlampen beleuchtet. „ … für einen oder zwei Augenblicke“, notierte Cohen, „hält man sein Leben für sinnvoll. Und Krieg ist wundervoll.“

 

Mitgefühl On/Off

Die Künstler überquerten den Suez-Kanal mit Hubschraubern und gaben ein Konzert auf dem Hangar eines Flughafens, der zuvor unter ägyptischer Kontrolle war. Da war es aber nicht so sehr der herzliche Zuspruch der Soldaten, der Cohen berührte, sondern das Elend des Kriegs, den er gerade erst als „wunderbar“ bezeichnet hatte. Er konnte nicht an sich halten, er musste haltlos weinen, als er die vielen verletzten Soldaten sah. Jemand tröstete ihn und bemerkte, dass es alles Ägypter wären. Cohen fühlte sich erleichtert.

Nicht lange.

Fast im selben Moment erschrak er über sich selbst. Was war da gerade mit ihm passiert? Wieso konnte sein starkes Mitgefühl einfach auf „Off“ geschaltet werden, als hätte er einen verborgenen Kippschalter?

Hatte er mit dem Gefühl der Erleichterung nicht zugleich etwas grundlegend Menschliches verloren? Er war „tief verstört“ über die Erfahrung, die er da machen musste.

Wie unzuverlässig waren doch die Gefühle – „I don’t trust my inner feelings. Inner feelings come and go“. Wie leicht konnte einem besonders empfindlichen Menschen wie ihm gerade das, was ihn auszeichnet – nämlich sein Mitgefühl für andere – abhandenkommen!

Er selber hatte die verbindende Menschlichkeit immer wieder beschworen! In ‚Passing Through’ heißt es, dass – egal ob Ami, Russe, Weißer oder Schwarzer – wir alle Menschen sind, das allein zählt, wir gehören zusammen, denn wir sind alle sterblich, „we’re all on one road and we’re only passing through“. Und nun das! Wie sollte er das verstehen?

War Menschlichkeit vielleicht gar nicht unser höchstes Gebot? Konnte eine Feindschaft, die womöglich nur vorübergehend war oder gar auf einem Missverständnis beruhte, die Menschlichkeit ausstechen und sich in der Rangfolge unserer Wertmaßstäbe unbemerkt auf die Pole-Position schmuggeln?

Gehörte die sonst so hoch geschätzte und viel beschworene Menschlichkeit womöglich zu dem Ballast, den wir als erstes über Bord werfen, wenn es ernst wird? War „Mitleid“ nur ein Wort zum Sonntag? Wie heißt es doch bei so einer Gelegenheit immer:

„Unser Mitgefühl gilt allen Opfern und ihren Angehörigen.“

 

 

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: R. Avis

Die ambivalente Einstellung zu Krieg und Kampfgetöse liest man bei Ernst Jünger (Stahlgewitter) und T.E. Lawrence "The seven Pillars of Wisdom", Originalversion, von ihm selbst herausgegeben. Die späteren Ausgaben, vor allem die deutsche Übersetzung "Aufstand in der Wüste", sind entschärft, denn die akribische Beobachtung, wie ein Mensch sich in Extremsituationen verändert und sie sogar genießt, war den damaligen Lesern nicht zuzumuten.
Nach meiner Beobachtung ist der Mensch ein hoch adaptiles Wesen, kann sich daher auch in jeden beliebigen Gemütszustand hineinsteigern.
Außerdem stelle ich bei Männern, die beschnitten wurden, also an einem der empfindlichsten Körperteile verstümmelt wurden eine latente Grundaggressivität fest, die sich völlig irrational im Gespräch über Politik und Religion entlädt.
Vergleichbar mit dem Entfernen der Zungenspitze: wieviele Empfindungen gehen dabei verloren? Vor allem Süßspeisen könnte man dann gar nicht mehr als solche wahrnehmen. Abgesehen vom Tastvermögen der Zunge.
Wenn nun so viele Empfindungsmöglichkeiten verloren gehen, die ja im Gehirn verarbeitet werden, könnte ja eine Kompensierung durch umso stärkere Reize nötig werden, wie erhöhtes Bedürfnis nach Sex und Erfolg im Kampf oder einfach nur unstillbarer Hunger nach Geld und Macht. Ich habe gerade in muslimischen Ländern eine für mich unfaßbare Empathielosigkeit beobachtet, und einen fast kultartigen Sadismus gegenüber Tieren, auch teuren Reitpferden usw.
Meiner Meinung nach ist die Praxis der Circumcision ein Grundübel, weil es den ganzen Menschen dadurch umprogrammiert, daß er von einer ganzen Reihe physischer Empfindungen abgeschnitten wird. Es ist schade, daß auch darüber zuwenig gesprochen wird.

Gravatar: Adorján Kovács

Aber es scheint mir ganz natürlich, dass ein Mensch, der ja nicht im luftleeren Raum, sondern als soziales Mitglied einer Gruppe lebt, dann erleichtert ist, wenn nicht „seine Leute“, also Mitglieder seiner Gruppe, am Ende nämlich er selbst, betroffen sind, sondern andere. Auch ist er eher erleichtert, wenn einer von „seinen Leuten“ wahnsinnig ist, als wenn ein Angehöriger einer anderen, „fremden Gruppe“ seine Gruppe, am Ende ihn selbst, angreift. Warum? Nicht weil er kein Mitgefühl hätte, sondern weil er den Unterschied zwischen seiner und einer anderen Gruppe so wie den zwischen sich und anderen noch kennt und weil er glaubt, dass eine andere Gruppe ihn eher systematisch bedroht als ein Angehöriger der eigenen.
Diese natürlichen Reflexe abzutöten ist das Christentum bemüht und in seinem Gefolge der Humanismus. Ob das erstens so stimmt und zweitens so sinnvoll ist, sei dahingestellt.

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