Kinder erziehen ohne zu strafen?

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Thomas Gordon. Die Neue Familienkonferenz. Kinder erziehen ohne zu strafen. Heyne: München, 2012. 324 Seiten. Euro 8,95 (Euro 7,99 für Kindle).

"Die Neue Familienkonferenz“ von Thomas Gordon aus den 90er-Jahren  ist ein Longseller. Gordon bekennt sich zum starken Einfluss von Carl R. Rogers (11; die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe von 1994), einem Wegbereiter der Humanistischen Psychologie des 20. Jahrhunderts. Gordon bricht nach eigenen Worten Stück für Stück die „Stützpfeiler im Programm einer konservativen, auf familiäre Werte bauenden Pädagogik“ (13) ab. Er beschreibt das Spannungsfeld zwischen dem Ideal der Disziplin und den gemischten Gefühlen, die Kinder zu bestrafen. „Ich gebe meinen Kindern nach, bis ich sie nicht mehr ertragen kann, und dann werde ich so autoritär, dass ich mich selbst nicht mehr ertragen kann.“ (18)

Gordon plädiert für die lehrende Art der Disziplinierung an Stelle der Kontrolle der Kinder. „Man gewinnt bei Kindern mehr Einfluss, wenn man aufhört, Macht zu ihrer Kontrolle einzusetzen!“ (29) Die Disziplin von aussen wirke der Entwicklung der Selbstdisziplin entgegen. Regeln und Verhaltenserwartungen könnten in Selbststeuerung ohne erwachsene Vorherrschaft wirksam gelenkt werden. Gordon unterscheidet zwischen verschiedenen Arten der Autorität  (35-40): Auf Erfahrung gegründete Autorität, auf Stellung oder Titeln beruhende Autorität (als gegenseitig anerkannte und vereinbarte Position), Autorität aufgrund von informellen Verträgen sowie die auf Macht beruhende Autorität. Letztere würden Kinder niemals anerkennen.

Die Machtquellen der Kontrollierenden seien Belohnung und Bestrafung.  Die Strafe sei von in der Praxis unerfüllbaren Bedingungen abhängig: Ein Verhalten muss stets bestraft werden und unmittelbar nach Eintritt des unerwünschten Verhaltens geschehen, nicht aber in Gegenwart anderer Kinder. Das zu strafende Verhalten darf niemals belohnt werden. Milde Strafen bewirkten oftmals nicht das gewünschte Verhalten, und schwere Strafen würden den Willen der Kinder brechen und sogar Aggression und Gewalt hervorrufen. Den Eltern gehen mit der Zeit die Ideen für Strafen aus, und die Kinder distanzierten sich innerlich von den Eltern. Das Kind kenne drei Bewältigungsmechanismen: Kampf, Flucht oder Unterwerfung. Diese seien eine Saat für kriminelles Verhalten und schadeten dem Wohlbefinden der Kinder. Dazu komme die Anpassung: „Wir erziehen einen Bürger von morgen, der glaubt, er solle, ohne zu fragen, alles tun, was man ihm aufträgt.“ (140)

Die Technik der Belohnung sei ebenso unwirksam. Belohnungen würden schnell ihren Wert verlieren. Oft werde gerade unakzeptables Verhalten belohnt, und die Kinder könnten sich je länger je mehr die Belohnung selbst besorgen. Oder aber das Kind resigniere, weil es die Belohnung nie erhalte. Was sind die Auswirkungen, wenn akzeptables Verhalten unbelohnt bleibt, oder Kinder nur für Belohnungen arbeiten? Belohnung untergrabe die intrinsische Motivation. In ähnlicher Weise sieht Gordon auch das Lob. Lob beinhalte oft heimliche Ansprüche oder unterschwellige Kritik. Es verstärke die Rivalität und werde zudem oft vom Empfänger abgewertet.

Den beiden Kategorien Bestrafung und Belohnung stellt Gordon verschiedene Alternativen – als erweitertes Erziehungsrepertoire - gegenüber (147-187): Mittels Nachfragen herausfinden, was das Kind braucht; inakzeptables Verhalten durch einen Tauschhandel mit anderem Verhalten ersetzen; die Umgebung verändern; eine konfrontative oder eine präventive Ich-Botschaft einsetzen; einen Gang zurückschalten, um Widerstand abzubauen; einen Problemlösungsprozess gemeinsam begehen.

Bei Gordon fällt meine Beurteilung zwiespältig aus. Auf der einen Seite stellt er das klassische Bild der Evangelikalen „bleibe gehorsam, und du wirst als Erwachsener Gott gehorchen“ m. E. zu Recht in Frage. Gehorsam bedeutet nicht, dem dümmsten Befehl Folge zu leisten, denn Gehorsam und Einsicht hängen zusammen. Gottes Vorgaben haben immer einen Grund. Diesen zu erfragen ist wesentlich. Wenn Eltern nicht auf die Einsicht setzen können, wird das Ziel nicht erreicht, nämlich die Selbständigkeit.

Gordon nimmt immer wieder auf den „religiös-fundamentalistischen“ Seelsorger James Dobson Bezug. Die Gründe, warum Eltern ihre Kinder immer noch strafen, seien im dahinter stehenden Menschenbild zu suchen. Kinder seien von Natur aus schlecht (siehe S. 269-293). Dobson kritisiert seinerseits das Bild des Kindes (Kinder sind eigentlich gut, werden erst durch die schlechten Beziehungen verdorben) und die Meinung, dass Eltern nicht das Recht hätten, Werte, Einstellungen und Überzeugungen des Kindern einzuprägen. (Siehe James Dobson. Das eigenwillige Kind. Hänssler: Holzgerlingen 20014. S. 155-175.)

Mit welchen Interventionen wird Vaterschaft in der Bibel verknüpft? Im Vordergrund steht Erbarmen und Trost. Paulus äussert sich zu Gott-Vater wie folgt: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Trübsal.“ (2Kor 1,3+4). An zweiter Stelle steht der Aspekt der Erlösung, Bewahrung, des Schutzes und der Sorge, so z. B. hier: „Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.“ (Psalm 27,11) Drittens folgt das Lehren. Viertens prägen Väter ihre Kinder durch Vorbild. Und erst dann folgt die Autorität. Strafe ist nie ein Ziel in sich, sondern dient einem höheren Ziel: Gott und den Nächsten zu lieben. (Literaturhinweis: Eine Übersicht über die biblischen Belege zu Gott als Vater finden sich in Thomas Schirrmacher. Ethik. Bd. 4. RVB/VTR: Hamburg/Nürnberg 20023. S. 256-263.)

 

Die Erweiterung des Interventionsrepertoires, wie es Gordon darstellt, deckt sich demnach in manchen Punkten mit der in der Bibel dargestellten Rolle der Vaterschaft. Strafe ist jedoch Teil der gottgegebenen Autorität. Sie hat aber keinen Wert in sich, sondern ist auf innere Änderung ausgerichtet. Dass sich Gordon explizit gegen ein negatives Menschenbild der Bibel wendet, trübt und verzerrt die Sicht. Durch zu viel Freiheit wird ein Kind überfordert. Es entwickelt entweder eigene Schleichwege, um sich dem Aufwand, den es für die Entwicklung guter Gewohnheiten aufbringen kann, zu entziehen. Bei pflichtbewussten Charakteren kann es auch ins Gegenteil kippen: Selbstdisziplin kann in Werkgerechtigkeit und in Verzweiflung ausarten. Wie Form und Freiheit in Balance gehalten werden können, dem bin ich im Aufsatz "Form und Freiheit - ihre Bedeutung für Bildung und Erziehung" nachgegangen.

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