Kerntechnik in Deutschland: Das Versagen einer Lobby

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Meine Bekannte hatte ein Problem mit der Schilddrüse. Der Arzt empfahl ihr eine Therapie mit Iod 131. Genau: Iod 131, ein radioaktives Material, ein starker Betastrahler, dessen Konzentrationswerte in einer kleinen Region in Japan in den Tagen nach dem Fukushima-Störfall die deutschen Leitmedien wie Aktienkurse verkündeten. Zweimal wurde es meiner Bekannten verabreicht und danach klangen ihre Beschwerden ab. Ich bat sie, den Arzt nach der Herkunft des Stoffes zu fragen. Er wußte es nicht. Auch meine Bekannte war einigermaßen überrascht, als ich ihr erklärte, er stamme mit großer Sicherheit aus einem Kernreaktor. In Frage kämen da deutsche Forschungseinrichtungen oder auch die Anlage im niederländischen Petten, von der aus ganz Europa mit Radionukliden für die Medizin versorgt wird. Aufgrund seiner geringen Halbwertszeit von nur acht Tagen kann man Iod 131 jedenfalls nicht lagern, es ist für jeden Patienten individuell zu erzeugen. Meine Bekannte war nie eine Gegnerin der Kernenergie, sie stand diesem Thema eher gleichgültig gegenüber. Nun hat sich ihr Blick auf diese Technologie doch etwas geändert.

Die Initiatoren und Veranstalter der Greentec Awards sind Ingenieure. Genau wie Kirk Sorensen. Nur hat letzterer ein Buch gelesen. Ein dicker Wälzer, mehr als 900 Seiten. Es heißt „Fluid Fuel Reactors“, erschienen 1958 im Verlag Addison –Wesley. Wahrscheinlich haben nur einige Dutzend Exemplare bis heute überlebt. Immerhin kann man es komplett im Internet abrufenoder gar einen teuren Reprint kaufen. Ohne dieses Buch hätte Kirk Sorensen vielleicht nicht die Realisierung dessen, was dort beschrieben wird, zu seiner Lebensaufgabe erklärt. Mit diesem Buch wären die Greentec-Macher vielleicht nicht dem Wahn verfallen, Projekte wie den Dual Fluid Reactor DFR ignorieren und bekämpfen zu müssen.

Zufälle? Sicher. Von selbst wäre meine Bekannte nie auf die Idee gekommen, die Grundlage ihrer Therapie zu hinterfragen. Und für die Greentec-Macher ergab sich weder durch ihr Studium noch durch ihre späteren Projekte jemals ein Impuls, das genannte Buch überhaupt nur zu suchen, geschweige denn zu lesen.

Als Antwort auf die Frage, wie es in der von der Kompetenz ihrer Wissenschaftler und Techniker abhängigen Industrienation Deutschland möglich sein konnte, aus einer Spitzentechnologie wie der Kerntechnik mit breiter öffentlicher Zustimmung und Unterstützung „auszusteigen“, greift der Verweis auf ideologische Fundamentalisten, eine einseitige Berichterstattung und unaufgeklärte Bürger aus meiner Sicht zu kurz. Man sollte vielmehr analysieren, warum selbst Studenten der Reaktortechnik oder Kernphysik in ihrer Ausbildung niemals die friedliche Nutzung der Kernenergie anders als durch Leichtwasserreaktoren kennenlernen. Was natürlich für „ordinäre“ Ingenieure, die später Umweltpreise ins Leben rufen, erst recht gilt. Zufälle wie die oben beschriebenen benötigen einen Rahmen, damit sie auch geschehen können.

Wenn man diejenigen, die hierzulande an Kerntechnik forschen, die kerntechnische Anlagen bauen und betreiben, also beispielsweise die Mitglieder des Deutschen Atomforums, tatsächlich als „Atomlobby“ bezeichnen mag oder kann, bleibt kaum etwas anderes übrig, als das Versagen dieser Lobby zu konstatieren. Denn sie hat es nicht geschafft, einen solchen Rahmen in Deutschland zu schaffen. An der Meinungshoheit seiner Gegner und damit letztendlich auch am Ausstieg ist man selbst schuld.

Schon der Impuls ihres Geburtshelfers, des amerikanischen Manhattan-Projektes, lenkte die Kerntechnik in die falsche Richtung. Die Entwicklung einer als kriegsentscheidend angesehenen Technologie erforderte neben einem immensen finanziellen Aufwand auch den Aufbau einer Struktur, in der Wissenschaft, Verwaltung und das Militär ihre Bestrebungen auf ein gemeinsames Ziel ausrichten konnten. Der Erfolg dieses Konzeptes prägte die weitere Entwicklung auf Jahrzehnte hinaus. Man hatte aus Sicht von Regierung und Öffentlichkeit ein optimales Ergebnis vorzuweisen. Es gab daher keine Motivation, von dem einmal eingeschlagenen Weg abzuweichen.

So erfolgte die Festlegung auf die Spaltstoffe Uran 235 und Plutonium 239 und auf die Verfahren zur Etablierung dieses Brennstoffkreislaufes, von der Isotopentrennung über die Anreicherung bis hin zur Wiederaufarbeitung.

Gleichzeitig etablierte man den Mythos, Kerntechnik könne nur in der oben beschriebenen Konstellation erfolgreich am Markt etabliert werden. Sie galt fortan als “Großtechnik”, die staatlicherseits zu fordern und zu fördern wäre und nur in einem künstlich geschaffenen institutionellen Rahmen gedeihen könne, der Großforschungseinrichtungen, Großindustrie, Verwaltung und gegebenenfalls auch das Militär einschließt.

Als die zivile Nutzung der Kernenergie in Deutschland im Jahr 1955 wieder möglich wurde, gründete man zunächst das Ministerium für Atomfragen unter Franz Joseph Strauß. Dieser etablierte in Anlehnung an die in den USA aus dem Manhattan-Projekt hervorgegangenen Strukturen die Deutsche Atomkommission. In einem ersten Schritt wurde die weitere Forschung auf die Entwicklung von Leistungsreaktoren zur Stromproduktion eingegrenzt. Zwar beinhaltete das Forschungsprogramm von 1957 (“Eltviller Programm”) noch eine gewisse Vielfalt – man wünschte sich fünf verschiedene Reaktortypen (darunter schwerwassermoderierte und gasgekühlte Natururan-Kraftwerke und Brüter) – aber bald fielen diese Pläne der politisch erzwungenen Hast zum Opfer. Dem Aufbau einer unabhängigen deutschen Entwicklungslinie wurde die erforderliche Zeit nicht gegeben. Stattdessen trieb man auf industriepolitischer Ebene den Transfer amerikanischer Technologie nach Deutschland voran.

Dort hatte sich mittlerweile der Leichtwasserreaktor durchgesetzt. Aufgrund seiner kompakten Bauweise favorisierte ihn das Militär, denn er eignete sich als Energiequelle für Unterseeboote. Nach der erfolgreichen Erprobung der Nautilus entstand in Shippingport in Pennsylvania zwischen 1954 und 1958 der erste zivile Leichtwasserreaktor der USA. Er diente wohl weniger dem Umbau der  Stromproduktion, sondern eher als Test für Antriebssysteme künftiger Flugzeugträger. Das auf angereichertem Uran basierendem Brennstoffkonzept hatte das Potential, den USA eine weltweite Führungsposition in der Nukleartechnik dauerhaft zu sichern. Denn es erforderte den Zugriff auf die Ergebnisse des Manhattan-Projektes. Mit dem “Atoms for Peace“-Programm trieb man daher den Transfer genau dieses Systems in das Ausland voran und stellte interessierten Partnern auch angereichertes Material zur Verfügung. Mit dem Export der kompletten Kette vom Reaktor bis zum Brennstoff sollten nicht nur langfristige Abhängigkeiten, sondern auch Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich der künftigen Verbreitung der Kerntechnik geschaffen werden.

Deutschland erwies sich als dankbarer Partner. Schon unter den Forschungsreaktoren dominierten Leichtwassersysteme nach amerikanischem Vorbild. In den 1960er Jahren wurden zwischen Siemens und AEG auf der einen und General Electric und Westinghouse auf der anderen Seite Lizenzvereinbarungen geschlossen, die die Türen für den Transfer amerikanischer Technologie nach Deutschland weit öffneten. Die einen (AEG) favorisierten dabei Siede-, die anderen (Siemens) Druckwasserreaktoren.

Immerhin, so könnte man meinen, bei zwei konkurrierenden Systemanbietern sollte ein innovationstreibender Wettbewerb immer noch möglich sein. Tatsächlich aber gab es keinen Markt, auf dem sich ein solcher Wettbewerb hätte entfalten können. Die möglichen Kunden für stromproduzierende Leistungsreaktoren waren ausschließlich die Energieversorgungsunternehmen, gering an Zahl und außerdem auch nicht interessiert. Denn eine funktionierende, skalierbare, preiswerte und robuste Stromversorgung war in Deutschland bereits vorhanden, basierend auf fossilen Energieträgern und der Wasserkraft. Große Investitionen in eine neue, weitgehend unerprobte Technologie schienen aus Sicht der Zielgruppe nicht erforderlich. Erneut mußte die öffentliche Hand lenkend eingreifen und die EVU durch umfassende Subventionierung zu Kauf und Betrieb von Leistungsreaktoren tragen. So wurden die ersten deutschen Kernkraftwerke (bspw.  Gundremmingen und Obrigheim) mittels staatlicher Zuschüsse oder günstigen staatlichen Krediten finanziert.

Von Anfang an hatte man dabei mit Vorbehalten in der Bevölkerung zu kämpfen. Politik und Verwaltung reagierten auf diese Stimmungslage und erschwerten den Bau von Kernreaktoren durch immer neue Auflagen und immer komplexere und langwierigere Genehmigungsverfahren. Was Energieversorger und Industrie dazu zwang, an immer weniger verfügbaren Standorten immer leistungsstärkere Einheiten zu bauen. Über drei Reaktorgenerationen wurde innerhalb von nur fünf Jahren die Leistung jeweils verdoppelt: von Obrigheim (Betriebsbeginn 1969) mit 340 MW, über Stade (1972) mit 640 MW bis hin zu Biblis (1974) mit 1.200 MW. Statt wie ursprünglich geplant mittels kleiner, verteilter Kraftwerke eine zum bestehenden Netz alternative dezentrale Energieversorgung zu etablieren, hatte man nun nur mehr eine Ergänzung zu fossil betriebenen Großanlagen. Was wiederum den Betreibern dabei half, Siemens und AEG auf eine Art und Weise gegeneinander auszuspielen, die den Kostendruck enorm steigerte. Folgerichtig verloren die beiden Konzerne den Spaß am Wettbewerb und führten ihre jeweiligen kerntechnischen Branchen 1973 in einer gemeinsamen Tochterfirma zusammen (der Kraftwerk Union KWU). Es gab fortan in Deutschland nur noch einen Anbieter, der sich auch noch auf das Prinzip Druckwasserreaktor konzentrierte und an technischen Lösungen vor allem Kraftwerkboliden in der Leistungsklasse oberhalb von 1200 MW im Angebot hatte. Aus Vielfalt entstand Einfalt.

Zumindest in der Forschung betrachtete man weiterhin die Alternativen. Doch die Möglichkeit, Konzepte wie den Schnellen Brüter oder den Thorium Hochtemperaturreaktor ähnlich behutsam und sorgfältig wie Leichtwasserreaktoren zur Reife zu bringen, bestand bereits nicht mehr. Die Stimmungslage in der Bevölkerung wechselte zunehmend von Befürwortung zu Ablehnung und die Politik brachte die erforderliche Geduld nicht mehr auf. Beide Konzepte sollten daher den Sprung vom Labor in den Markt ohne Zwischenschritte nehmen, was nicht gelang.

Am Ende zerfiel das “deutsche Manhattan-Netzwerk”, die künstlich geschaffene Allianz aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Übrig blieben eine Handvoll Forschungseinrichtungen, ein Anbieter und vier Kernkraftwerksbetreiber, alle ausgerichtet auf nur eine Technologie, leistungsstarke Druckwasserreaktoren, für nur einen einzigen Einsatzzweck, die Stromproduktion. Innovationen, durch die sich die Kerntechnik an veränderte Rahmenbedingungen hätte anpassen können, durch die neue Märkte hätten erschlossen werden können, waren nicht mehr möglich.

Freeman Dyson hat einmal sinngemäß ausgeführt: Die Gentechnologie wird erst dann in der Bevölkerung ausreichend akzeptiert sein, wenn Kinder Experimentierkästen zum Thema unter dem Weihnachtsbaum finden können. Es gab eben nie Plastikbausätze von Kernkraftwerken oder auch Waggons und Lastwagen mit Castor-Behältern für die Modellbahn. Die deutsche Atomlobby ist nie auf die Idee gekommen, mit Spielzeug-Herstellern zu sprechen oder zu kooperieren. Es gab auch nie den Experimentierkasten, um „Weihnachten bei Hoppenstedts“ selbst erleben zu können. Natürlich mit Loriot als Werbeträger. Denn welche Waffe eignet sich besser gegen Angst und Furcht, als der Humor, den man beweist, wenn man auch über sich selbst lachen kann? Es muß ja nicht „Puff“ machen, ein Geigerzähler zum selber bauen und Hinweise zur Erkundung der natürlichen Radioaktivität in der Umgebung hätten vielleicht schon gereicht. Das hätte es den Wortführern der Kernkraftgegner zumindest erschwert, den Menschen eine irrationale Angst vor ionisierenden Strahlen einzureden. Denn auf der Furcht vor dem Krebstod durch radioaktive Stoffe in der Umwelt beruht die letztendlich Ablehnung der Kernenergie.

Zwar ist ein Druckwasserreaktor technisch durchaus keine schlechte Sache, sondern eine richtig gute Idee. Aber es lassen sich einfach zu viele Szenarien konstruieren, in denen radioaktives Material durch seinen Betrieb freigesetzt wird. Es beginnt mit der Notwendigkeit, Natururan anzureichern, Brennstäbe herzustellen und zum Kraftwerk zu transportieren. Verbrauchte Brennstäbe wiederum müssen abtransportiert und wiederaufgearbeitet werden. Letzteres ist technisch aufwendig, teuer und kaum möglich, ohne kontaminiertes Wasser, kontaminierte Abluft und nicht mehr nutzbare strahlende Reststoffe zurückzulassen. In Deutschland hat man sich daher schon lange vor dem Ausstieg entschieden, auf die Wiederaufarbeitung zu verzichten und gleich die Endlagerung anzustreben. Was die Proteste nicht verstummen ließ, denn wenn man die langlebigen und toxischen Brutprodukte wie Plutonium nicht wieder zur Energieproduktion einsetzt, sind sie für Jahrzehntausende sicher von der Umwelt abzuschließen. Natürlich weist ein Druckwasserreaktor einen negativen Temperaturkoeffizienten auf. Ein Ausfall des primären Kühlkreislaufes führt zu einem Ende der Kettenreaktion und damit der Produktion von Wärme im Reaktorkern. Eine Anlage der 100- oder 200-MW-Klasse geht automatisch in einen sicheren Betriebszustand über. Bei den wie oben beschrieben eigentlich nicht intendierten, aber erzwungenen Großanlagen ist das nicht mehr der Fall. Denn die Nachzerfallswärme der weit größeren Menge an Spaltprodukten, die in diesen entstehen, kann eben doch eine Kernschmelze auslösen. Ganz gleich aber, ob der Reaktor von innen oder von außen zerstört wird, das Vorhandensein von Wasser und Dampf sichert in jedem Fall die Verbreitung von Radioaktivität über ein großes Gebiet.

Der Einbau von immer mehr Sicherheitssystemen in immer größerer Redundanz war die falsche Taktik. Der Verweis auf ein immer kleineres “Restrisiko” hilft nicht gegen grundsätzliche Befürchtungen. Statt Risiken zu vermindern, hätte man sie besser vollständig ausschließen sollen. Um denen die argumentative Grundlage zu entziehen, die Ängste zu ihrem Vorteil schüren,.

Man hätte ja auch Reaktoren bauen können, bei denen der Brennstoff erst im Reaktorkern gebildet und dort vollständig verbraucht wird – Anreicherung, Wiederaufarbeitung und Transport und alle diesbezüglichen Sorgen wären unnötig. Man hätte auf ein anderes Brennstoffkonzept setzen können, durch das im Reaktor gar keine langlebigen und toxischen Aktinide mehr entstehen – und sich somit das Endlagerproblem nicht mehr stellt. Man hätte kleinere und trotzdem effiziente Systeme entwickeln können, in denen einfach nicht genug Spaltstoffe erzeugt werden, um gefährliche Mengen an Nachzerfallswärme zu produzieren. Man hätte auch auf die Idee kommen können, einen Kernreaktor zu einem völlig anderen Zweck einzusetzen, als nun ausgerechnet zur Herstellung elektrischer Energie.

Die Ökologisten wollen ja vieles verbieten. Autos und Flugzeuge, Computerspiele, Schnitzel und Steaks, Alkohol, Tabak, Softdrinks und Süßigkeiten. Bislang ist ihnen das nicht gelungen. Zu viele Menschen mögen oder benötigen diese Dinge, zu viele Menschen leben von Handel und Produktion. Der Ausstieg aus der Kernenergie konnte vor allem deshalb erfolgen, weil er so einfach war. Es gab am Ende zu wenig Fürsprecher, denn es gab zu wenig Nutzer, zu wenige Profiteure. Es ist der Atomlobby nie wirklich gelungen, den Bürgern individuelle Vorteile von Kernkraftwerken ausreichend zu verdeutlichen. Am Ende verstieg man sich sogar noch dazu, eine millionenschwere Kampagne “Deutschlands ungeliebte Klimaschützer” zu starten, und suchte sich Verbündete ausgerechnet in der Ökobewegung. Es hätte klar sein müssen, daß man solche in diesen Kreisen gerade nicht findet.

Der von mir sehr geschätzte Klaus-Dieter Humpich hat in seinem Blog (nukeklaus) einmal sinngemäß ausgeführt, ein Kernkraftwerk sei doch keine chemische Fabrik. Doch, lieber Herr Humpich, genau eine solche ist es. Es geht darum, freie Neutronen zu produzieren um mit diesen Kernumwandlungen herbeizuführen. Daß der Druckwasserreaktor nur eine von tausenden Möglichkeiten ist, dies technisch zu realisieren, ist in Deutschland weitgehend unbekannt. Und daß diese Kernumwandlungen im Prinzip den alten Traum der Alchimisten erfüllen, aus nutzlosen Stoffen wertvolle zu machen, Blei in Gold zu transmutieren, auch nicht. In einem Kernreaktor entstehen Isotope von Elementen fast des gesamten bekannten Periodensystems. Und alle diese Stoffe könnten nützlich sein. Radioaktive Substanzen für die Nuklearmedizin oder für neuartige bildgebende Verfahren und allerlei Sensorsysteme, stabile, seltene Metalle für Hochleistungselektroniken, Edelgase für Ionenantriebe, Treibstoffe für Radionuklidbatterien – das Spektrum ist bei weitem noch nicht ausgereizt. Es ist nämlich schwierig, solche Spalt- und deren Zerfallsprodukte aus einem herkömmlichen Brennelement zu gewinnen – und daher sind mögliche Anwendungen kaum erdacht und erprobt. Man hätte einen Reaktor konstruieren können, der zu diesem Zweck besser geeignet ist.

Und endlich hätte man auch auf die Idee kommen können, daß ein Kernreaktor zunächst einmal Wärme produziert. Die nicht nur zur Herstellung von Dampf zur Stromerzeugung genutzt werden kann. Prozeßwärme für die Industrie ist ebenfalls ein gefragtes Gut. Wären Kernkraftwerke abgeschaltet worden, die Wasserstoff, Ammoniak, Dimethylether (ein mögliches Dieselsubstitut) oder andere Grundstoffe für die chemische Produktion liefern? Wären solche abgeschaltet worden, die Wärme für die Eisenverhüttung, für die Glas- oder Zementherstellung bereitstellen?

Der von vielen Eingeweihten propagierte Flüssigsalzreaktor könnte all dies leisten. Er könnte statt Strom Prozeßwärme liefern und allerlei nützliche Stoffe obendrein. Sein Funktionsprinzip ermöglicht die Realisierung oben genannter Sicherheitsmerkmale. Nur darf man eben bei seiner Entwicklung die Fehler der alten Atomlobby nicht erneut begehen:

     

  • Niemals verlasse man sich auf die Politik. Sicher mag es Politiker geben, die die Welt verbessern möchten. Aber am Ende haben auch für diese Erhalt und Erringung von Macht Priorität. Daher lassen sich Politiker oft mehr von Stimmungen in der Bevölkerung leiten, denn von Sachargumenten. Befürwortung und Unterstützung verändern sich dann schnell zu Ablehnung und – wie geschehen – Verbot.
  • Niemals überlasse man ein neues Thema der Großindustrie. Konzerne zeichnen sich aufgrund ihrer Strukturen dadurch aus, gerade nicht das bahnbrechend Neue, sondern nur Optimierungen des Bestehenden liefern zu können. Für Volkswagen wird ein Auto niemals Flügel haben und für Airbus wird ein Flugzeug immer eine Zigarre mit Tragflächen darstellen. Siemens hat seine Nuklearsparte zwar an Areva verkauft, aber selbst, wenn es noch wollte, könnte es nie etwas anderes bauen, als einen Druckwasserreaktor.
  • Niemals erwarte man von Beginn an die perfekte Lösung. Der Flüssigsalzreaktor ist aussichtsreich, aber ob er hält, was er verspricht, wird man erst feststellen, wenn er denn mal eingeschaltet wurde. Innovatives Handeln ist das Ergreifen von Möglichkeiten im Unbekannten und kann daher weder umfassender Planung unterworfen werden noch von Beginn an ein perfektes Resultat bereitstellen. Jeder neuen Technologie ist die Zeit zur Reife zu geben.
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Es sind also vor allem kleine und mittlere Unternehmen wie die Institut für Festkörperkernphysik gGmbH, die einen Neustart für die Kerntechnik auch in Deutschland einleiten könnten. Weltweit gibt es derzeit etwa ein Dutzend dieser flexiblen Schnellboote, die sich für den Flüssigsalzreaktor in seinen verschiedenen Varianten engagieren. Hinzu kommen noch eine ganze Reihe anderer Start-Ups und Ausgründungen, die andere fortgeschrittene Reaktortypen präferieren. Es entstehen Netzwerke, in denen diese Firmen sich untereinander und mit der Forschung austauschen (bspw. Thorium Energy Alliance,International Thorium Energy Organisation und die Weinberg Foundation). Es gibt eine wachsende Internetgemeinde, Privatpersonen jenseits der alten Atomlobby, die sich über Foren und Blogs engagieren. Nun könnten B2B-Netzwerke entstehen, in denen sich die jungen “Systemführer” mit spezialisierten Kompetenzträgern, idealerweise ebenfalls kleine Unternehmen, aus anderen Bereichen (Material- und Anlagentechnik) verknüpfen, um die Konzepte zu konkretisieren. All das geschieht Bottom-Up, der alte Fehler des “Top-Down” Manhattan-Projektes wird nicht wiederholt. All das geschieht ohne politische Unterstützung, vor der breiten Öffentlichkeit noch weitgehend verborgen. So sollte es auch sein. So haben erfolgreiche Technologien immer begonnen, von der Dampfmaschine bis zum Computer. Bis dann irgendwann in jeder nuklearmedizinischen Praxis ein Plakat hängt „Wir spalten Kerne für Ihre Gesundheit“. Daraus kann man nicht aussteigen.

Beitrag erschien zuerst auf: science-skeptical.de

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Michael Ziefle

Vielen Dank Herr Heller für diesen Artikel!!!
Diese Sichtweise müsste natürlich unbedingt einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich gemacht werden.
Gerade in Deutschland wurde ja in den 60igern auch am Kugelhaufenreaktor gearbeitet unter Prof. Schulten. Es gab auch zwei Versuchsreaktoren, bei denen man die inhärente Sicherheit zweimal bei simulierten Gaus festgestellt hat. Auch in China wurde dieser Versuch durchgeführt ohne jegliche Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Seit 2011 wird in China an zwei 200 MW Kugelhaufenreaktoren gearbeitet, 2015/16 sollen sie ans Netz.
Aber auch diese Technologie ist durch deutsche Politik und eben durch die Atomlobby ins Abseits gedrängt worden.
Das ist schon richtig mit den Kindern, man hätte sie in den 70iger und 80iger in der von Ihnen genannten Weise gewinnen müssen. Aber Sie wissen auch, dass es die 68er gab, die gegen alles und jeden waren. Die dann später die Meinungshoheit in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens errangen. Auch in einer grünen Partei. Die Kinder bekommen das im Schulunterricht schon gesagt, dass Kernkraft nichts Gutes ist. Indoktrination von hinten bis vorne. Man hat viel von den Herren 1933-45 gelernt, wie man so was durchführt. Auch in dieser Hinsicht war die DDR förderlich, wie man Menschen suggeriert.
Dazu kommt noch, dass man die Endlagerfrage immer als unlösbar darstellt, aber am meisten dazu beiträgt, dass man sie nicht lösen kann. Schlimm wird es natürlich, wenn Projekte marktfähig werden wie eben der Kugelhaufen oder der DFR, wo diese Probleme lösbar werden. Da gibt es jetzt schon sehr viele Nutznießer vom EEG die diesen Technologien feindlich gegen über stehen, auch aus dem gut situierten Bildungsbürgertum. Und was bei denen in den Köpfen drin ist, bekommt man nicht so schnell mehr heraus. Lustig ist es ja gerade, dass es bei den Piraten eine Gruppe gibt, mit Namen "Nuklearia" die dem Mainstream gegensteuert. Leider ist es nur eine Minderheit bei den Piraten, sonst wäre ich noch auf den dummen Gedanken gekommen die Piraten, zu wählen.
Aber Herr Heller betreiben Sie bitte weiter Aufklärungsarbeit zu diesem Thema.

Gravatar: Klaus Hesse

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