Ist dein Kind auch im Förderprogramm?

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Es hat fast 11 Jahre gedauert, bis ich es leibhaftig erleben durfte, wovon ich schon oft gelesen hatte. Ich habe erlebt, was es bedeutet, ein Kind zu „pushen“ (tönt besser als das deutsche „stossen“). Mit meinem Sohn war ich an einem Klaviervorspiel. Es ging darum, in ein Förderprogramm aufgenommen zu werden. Das grosse Aha-Erlebnis war jedoch nicht das Sitzen im Konzertsaal, sondern das Tun und Treiben vor den Türen des Übungszimmers, wo sich die jungen Musiker einspielen konnten.

Erstens weiss ich nun, wie ein Vater beschaffen sein muss, der in die Kategorie „ich will, dass mein Kind musikalische Fortschritte macht“ gehört. Er muss selbstverständlich einige Jahre älter sein als ich. Er trägt eine Gold-Nickel-Brille, einen Dreitagebart, Jeans, Schlüpfschuhe und einen eleganten Veston. Verheiratet ist er mit einer Asiatin. Ich vermute mal, dass er sich sein  Brot nicht mit Plattenlegen verdient (übrigens eine Fähigkeit, die ich sehr bewundere).

Zweitens habe ich nun leibhaftig die Schwingungen, Appelle und Blicke der äusserst besorgten Mütter erlebt. Eine Russin (so tönte zumindest ihr Akzent) schaute ihrer Tochter tief in die Augen: „Sonst erlebe ich dich ganz anderrrrs.“ (Ja, klar, die junge Dame dürfte wohl etwas nervös sein.)

Drittens ist mir bewusst geworden, dass auch um die Lehrkräfte gebuhlt wird. In salbungsvoller Stimme wird die Lehrerin zum anschliessenden Mittagessen in einem „kleinen Lokal in der Nähe“ eingeladen. „Sie haben sich ja so um mein Kind gekümmert.“ Das muss honoriert werden.

Viertens – und jetzt kommt das wichtigste – bleibt mir ein Bild in Erinnerung. Da steht das junge Nachwuchstalent in feinen Kleidern zwischen den beiden Eltern. Beide halten eine Hand von ihm, um sie warm und geschmeidig fürs Spielen zu halten. Dieser Anblick hat für mich Symbolwert: Das Kind ist das zentrale Projekt der Eltern. Es steht zwischen ihren Erwartungen, Hoffnungen und vielleicht Befürchtungen.

Lasst mich eines klarstellen: Ich bin nicht der Typ Vater, mit dem du auf ewig Kumpel bist. Ich kämpfe viel zu wenig mit meinen Jungs. Leider kann ich ihnen auch nicht zahlreiche handwerkliche Fähigkeiten mitgeben. Ich rechne mich auch zur kopflastigen Spezies – so in die Richtung der Typen, die ich erlebt habe. Wenn sie mit etwas gedanklich absorbiert sind, kann es schon mal vorkommen, dass sie durch das Fenster anstatt die Türe gehen wollen.

Ich verweigere mich auch hartnäckig der frommen „Dich-unter-deinen-Fähigkeiten-verkaufen“ oder „wenn-du-etwas-tust-dann-muss-es-Spass-machen“-Mentalität. Nein, Disziplin ist wichtig. Ohne Fleiss kein Preis. Die Asiaten haben uns hierin etwas voraus. Bei ihnen ist nicht die Frage, ob vier Mathestunden die Woche zu viel sind. Zwei Lektionen pro Tag sind das Minimum. Die Zeit, die wir im Kino verbringen, sitzen sie hinter ihrem Instrument oder büffeln Sprachen.

Eines möchte ich jedoch nicht. Ich möchte – in einem Bild gesprochen - nicht auf meinem Kind „sitzen“ und es erdrücken. Ja, ich weiss, dass es viel von mir übernimmt, vor allem das, was ich ihm über Jahre vorlebe. Das, was es tut, soll jedoch seines eigenes werden. Je älter das Kind wird, desto mehr soll es seinen Weg nicht nur gehen, sondern die Verantwortung Stück für Stück übertragen bekommen. Ich will es begleiten im Gebet, mit Präsenz, mit Diskussion, mit Rat und Tat. Doch seine Zukunft korreliert nicht eins zu eins mit meiner Zukunft. Mein Kind lebt vor Gott so wie ich auch. Einem Elfjährigen muss ich nicht mehr den Fahrplan heraussuchen. Er muss in der Lage sein, sich ein Musikstück selbst zu erarbeiten. Und er muss seine Hände selber aufwärmen. Und wenn er „durchfliegt“? Ja, dann? Was soll’s? Ich habe diese Erfahrung auch gemacht, und sie hat mich wichtiges gelehrt.

Also, auf eines freue ich mich: Noch viele solche instruktiven Momente erleben zu dürfen. Wann hat ein Junior von mir die nächste Vorstellung? Sie beginnt in einer Stunde. Theateraufführung. Ein Seufzer. Die armen vielbeschäftigten Kinder.

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