In guten Händen in einem guten Land

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Victoria lebt im besten Land der Welt, leider ohne ihre Mutter, ohne ihren Vater, überhaupt ohne jede Familie.

Heimlich steht sie am Fenster des Kinderheims im Hohen Norden der Sowjetunion und wünscht sich, dass eines Tages sie jemand abholen käme.

Ihre Freundinnen haben Erinnerungen an ein Haus mit Garten in Georgien oder Cousins und Cousinen.

Victoria erinnert sich nur an Heime. Ihre Mutter lebt, so viel weiß sie. Damit ist sie besser dran, als die meisten anderen Mädchen im Heim.

 

Aber ihre Mutter hat etwas Schlimmes getan, deshalb ist sie im Lager und kann sich nicht um ihre Tochter kümmern.

 

Victoria hat sich angepasst ans Heimleben. Sie gilt nicht als schwierig und hat deshalb keine größeren Probleme mit den Erzieherinnen. Das Heim ist ihr Zuhause. Ein anderes hat sie nicht.

Als sie eines Tages unerwartet Besuch bekommt, ist sie mehr als zurückhaltend. Die fremde Frau sieht komisch aus und kommt mit einer Botschaft. Sie hat Victorias Mutter im Lager versprochen, nach ihrer Entlassung die Tochter zu finden und sich um das Mädchen zu kümmern.

So tritt Nina, die ihr eigenes Kind verloren hat, weil sich nach ihrer Verhaftung niemand um den Säugling kümmerte, in Victorias Leben.

Sie gewinnt erst das Vertrauen, dann die Liebe des Mädchens. Es gelingt ihr, Victoria aus dem Hohen Norden in ein Kinderheim in Charkow zu holen, wo Nina wohnt. Nun können sie an jedem Wochenende zusammen sein. Victoria bekommt sogar eine Oma und einen Onkel. Das Leben ist sehr schön geworden.

 

Dann taucht nach Jahren noch eine Frau auf, die zu alt aussieht, um ihre Mutter sein zu können, wie sie behauptet. Aber sie ist es ist wirklich und damit beginnen Victorias Schwierigkeiten. Wenn die komische Alte mit den bunten Klamotten zu Besuch kommt, versteckt sie sich irgendwo im Heim. Victoria braucht keine zwei Mütter, Nina ist ihr genug.

 

Außerdem wohnt Olessia, die leibliche Mutter, in Kiew, wo sie Arbeit als Nebendarstellerin im Theater, später auch beim Film, gefunden hat.

 

Olessia ist eine Adelstochter aus Petersburg, deren Vater als Diplomat sogar für die Bolschewiki Waffen geschmuggelt hat. Die revanchierten sich nach der Machtübernahme, indem sie ihn nicht nur erschossen, sondern fast seine gesamte Familie ausrotteten.

Auf Vermittlung von Kirow, dem Parteichef von Leningrad, der kurz darauf ermordet wurde, kann Olessia noch Schauspiel studieren, bevor sie im Gulag landet.

Kritisch wird die Situation, als das Kinderheim in Charkow aufgelöst wird und Victoria sich zwischen ihren beiden Müttern entscheiden muss. Sie wählt Nina, ihre Entscheidung bricht aber gleichzeitig ihre Ablehnung von Olessia auf.

Victoria lebt bis zu deren Tod mit zwei Müttern. Aber es gibt kein wirkliches Happy- End, denn sie hat als Erwachsene mit den Spätfolgen ihrer Heimaufenthalte zu kämpfen.

 

Eleonara Hummel, die in Kasachstan geboren wurde und als Kind mit ihren Eltern in die DDR, nach Dresden, kam, wo sie noch heute lebt, hat ein berührendes Buch geschrieben.

Es ist vollkommen frei von vordergründigen Anklagen. Die dramatischen, ja grausamen Geschehnisse schildert sie mit äußerster Zurückhaltung. Gerade das lässt sie unter die Haut gehen.

Es ist immer noch nahezu unbekannt, was sich in der Sowjetunion abgespielt hat. Wer wissen will, wie es während der Krimblockade unter Lenin zuging, als den Bauern das Vieh und das Saatgetreide weggenommen wurde und das Blut von tausenden Erschossenen das Meerwasser an der Küste rot färbte, sollte Hummels Buch lesen.

Vor allem ist es aber eine Huldigung der Frauen, die sich trotz jahrzehntelanger Lagerhaft ihre Menschlichkeit bewahrt haben.

Olessia wurde nach 17 Jahren Gulag noch eine landesweit bekannte Schauspielerin. Nina war eine Mutter, die sich jedes Mädchen nur wünschen kann.

Hummels Roman beruht auf den Lebensgeschichten dreier Frauen, die es wert sind, einem breiten Publikum bekannt zu werden.

 

Eleonora Hummel: In guten Händen in einem guten Land, Steidl 2013

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