In einem links-alternativen Café

Freiheit ist mehr als Ungebundenheit

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Das links-alternative Milieu, das in der Soziologie auch als Selbstverwirklichungsmilieu bezeichnet wird, ist immer noch eins der dynamischsten Milieus in der Bundesrepublik. Es ist im Gefolge der Alternativbewegung der 60er Jahre entstanden. Parteipolitisch kann es am ehesten den „Grünen“ zugeordnet werden. Das in diesem Milieu angestrebte Ziel ist die Befreiung des Individuums von traditionellen Denkmustern, Gewohnheiten und Verhaltensweisen. Sein Lebensideal liegt im Streben nach individueller Selbstverwirklichung.

 

Aufgrund seiner Neigung zur Selbstdarstellung bestimmt das Selbstverwirklichungsmilieu in Großstädten und Universitätsstädten weite Teile der Café- und Kneipenlandschaft. Eines der für dieses Milieu typischen Cafés besuche ich ziemlich regelmäßig. Es bietet für einen Soziologen ein schier unerschöpfliches Beobachtungsmaterial.

 

Was mir dort zunächst auffällt, ist die Atmosphäre der zwanghaften Ungezwungenheit. Bedienung und Publikum möchten sich besonders locker, unbekümmert und nachlässig verhalten. Eine Bedienung singt während des Bedienens, die andere surft hinter der Theke im Internet, die dritte telefoniert ununterbrochen mit dem Handy. Sie möchten sich durch die Arbeit nicht einengen lassen. Die Arbeit soll vielmehr Ausdruck von Freiheit, Individualität und Kreativität sein.

 

Auf der Speisekarte des Cafés findet man u.a. ein Vollkornfrühstück und ein Fitness-Frühstück. Besonderer Wert wird auf die Dekoration des Frühstücks gelegt: Geraspelte Möhren und in Spiralen geschittenes Obst werden beigelegt. Die Zubereitung des Frühstücks soll ebenfalls Ausdruck von Kreativität sein. Croissants und Café au lait werden am häufigsten bestellt – man gibt sich französisch. Doch möchte man andererseits auf das Urdeutsche nicht verzichten: das Vollkornbrot und das Müsli. Die deutsche Ideologie des Vollkornbrots wird nirgendwo so vehement vertreten wie im links-alternativen Milieu. Das Vollkornbrot hat für die Linksalternativen eine beinahe mystische Bedeutung. Ähnliches gilt für das Müsli, das in anderen Ländern als Pferdefraß verwendet wird.

 

Das Publikum besteht aus mehreren Gruppen. Da sind zunächst die altlinken Männer, die noch mit über 60 so aussehen möchten wie Zwanzigjährige. Sie sind unrasiert, tragen längere Haare und bevorzugen legere Kleidung. Die meisten sehen verkatert aus. Sie lesen wie auch die anderen Besucher des Cafés die „tageszeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“. Die Frauen im mittleren und älteren Alter entsprechen im Aussehen und Verhalten dem Stereotyp der Ökofrau. Selbstgestrickte, bunte Pullover, bunte, breite Röcke und unrasierte Achselhöhlen sind wie schon vor 40 Jahren ihre Markenzeichen. Allerdings beobachte ich seit Jahren, dass dieser Frauentyp allmählich ausstirbt.

 

Die jungen Männer machen es den älteren nach. Auch sie sind unrasiert und leger angezogen, essen Croissants und trinken Café au lait. Man merkt ihnen an, dass sie die ganze Nacht gekifft haben. Sie wirken müde und unmotiviert. Da machen die jungen Frauen schon einen ganz anderen Eindruck. Sie wirken dynamisch, motiviert und zielstrebig. Im Gegensatz zu den älteren Frauen sind sie konsumorientiert. Kennzeichnend für ihr Äußeres ist ein Wechsel zwischen abgetragener, lässiger und eleganter, schicker Kleidung. Sie treffen sich regelmäßig und sprechen über ihr Studium und ihre Karrieren. Ich nenne diese Frauen-Fraktion „beste Freundinnen“. Sobald eine der besten Freundinnen das Café betritt und die anderen besten Freundinnen am Tisch sieht, gibt sie einen lauten, spitzen Begrüßungsschrei von sich. Dann folgt jedes Mal ein langes Umarmungs- und Kussritual. Auch diese Rituale haben als Demonstrationen von Freiheit etwas Aufgezwungenes und Künstliches.

 

Eine ganz besondere Frauen-Fraktion bilden die lesbischen Frauen. Sie sind einfach zu erkennen durch: den Knaben- beziehungsweise Igelschnitt, kurze Jacken, breite, kurze Wollhosen und die Farbe rot in unterschiedlichen Variationen. Einige von ihnen tragen Designer-Brillen mit schwarzem Gestell, was offensichtlich einen intellektuellen Eindruck machen soll (auch einige der jungen Männer tragen solche Brillen). Die Begrüßungsrituale der lesbischen Frauen übertreffen an Lautstärke und Intensität die der „besten Freundinnen“. Mit dem intensiven Knutschen – auch nach dem Begrüßungsritual – möchten sie ihre sexuelle Orientierung und ihre Freiheit demonstrieren.

 

Selten sieht man im Café Familien mit Kindern oder Mütter mit Kindern. Kein Wunder, denn im Selbstverwirklichungsmilieu bedeuten Kinder in der Regel Behinderung der Selbstverwirklichung und Verlust der Freiheit. Das Single-Dasein ist dort die bevorzugte Lebensform. Wenn man sich in diesem Milieu für Kinder entscheidet, dann muss diese Entscheidung den individuellen Neigungen und dem Streben nach Selbstverwirklichung entsprechen. Kinder haben und erziehen wird auch als Ausdruck von Individualität und Selbstverwirklichung angesehen. Der Begriff der Verantwortung und der der Pflicht werden dabei als konservativ abgetan, die Praxis der Aufopferung wird abgelehnt.

 

Das Verhalten der wenigen Kinder ist nicht viel anders als das der Erwachsenen. Sie dürfen alles machen, was ihnen Spaß macht, unter anderem mit Farbstiften und anderen Gegenständen auf die Besucher des Cafés werfen. Auch Kinder sollen ihrer Freiheit und Kreativität freien Lauf lassen.

 

Meine Beobachtungen führen zu dem Schluss, dass im Selbstverwirklichungsmilieu ein naives Verständnis von Freiheit und Autonomie herrscht. Freiheit wird dort hauptsächlich als „Freiheit von“ verstanden, und zwar von festen Konventionen und Bindungen. Freiheit bedeutet Ungebundenheit. Der Soziologe Gerhard Schulze betont in seinem Buch „Die Erlebnisgesellschaft“, dass im Selbstverwirklichungsmilieu der Sozialtyp des Studenten eine wichtige Rolle spielt. Noch lange nach Beendigung des Studiums, schon tief im Berufsleben, bleiben viele Repräsentanten des Milieus „studentenähnlich“. Das Student-Sein ist die Existenzform, für die Bindungen, z.B. Bindungen an Institutionen, eine untergeordnete Rolle spielen. Doch zur Freiheit gehört mehr als Ungebundenheit.

 

Literatur:

 

Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 1992;

 

Meinhard Miegel/Stefanie Wahl, Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich selbst, 1993;

 

Alexander Ulfig, Die Überwindung des Individualismus. Versuch einer Lebensorientierung, 2003.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Freigeist

@Benedikt N.
Machen Sie sich darauf gefasst, dass kinderlose Singles künftig einfordern werden, Hochbegabten aus ärmeren Ländern die Migration nach Deutschland zu erlauben.
Noch ist zwar die deutsche Bevölkerung gegen Migration von Hochbegabten.
Ich habe die Vermutung, dass dieses Dagegensein daher kommt, dass sich so manche deutsche Familie Hoffnungen macht, ihre Versager doch noch ins Geschäft bringen zu können. Dies ist eine unglaublich dumme Hoffnung, denn bei Forschung und Entwicklung kann man nur Erstklassiges gebrauchen. Hat man nur Zweitklassiges, unterbleibt Forschung und Entwicklung ganz. Also Fehlanzeige für die deutschen Versager, sie werden nicht genommen werden.

Gravatar: Benedikt N

@Adrian
Wenn das Renten- und Finanzsystem zusammenbricht, wird die alt gewordenene Generation begreifen, wem gegenüber sie verpflichtet gewesen wäre, Kinder zu kriegen.

Gravatar: Freigeist

@Adrain
Ja, wenn man keine Kinder hat, bei dieser massiven Überbevölkerung, dann ist man ein verantwortungsvoller Mensch.

Gravatar: Rembrand

Ist das eine Satire hier? Nein? Ich hab mich vor lachen nicht mehr halten können! Sie sind zu bemitleiden Herr Dr(!)Ulfig.

Gravatar: Adrian

"Kinder haben und erziehen wird auch als Ausdruck von Individualität und Selbstverwirklichung angesehen. Der Begriff der Verantwortung und der der Pflicht werden dabei als konservativ abgetan, die Praxis der Aufopferung wird abgelehnt."

Kurze Fragen:

Wem gegenüber ist man verantwortungslos, wenn man keine Kinder hat?

Wem gegenüber ist man verpflichtet Kinder zu haben?

Gravatar: Renegade70

Würde gern mal wissen, in welcher Stadt das Cafe ist. Also hier in Berlin hab ich so etwas in der Form (leider)noch nicht gefunden. Bin auch immer eher Typ, der beobachtet und analysiert, aber aus Spass.

Gravatar: Freigeist

Solch eine Lokal habe ich noch nie besucht, jedoch scheint es mir interessant, auch solche Beobachtungen machen zu können. Danke für den Hinweis.

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