Im Zweifel für das Leben

Besser ein Kind ohne Namen als ein totes Kind. Warum Babyklappen und Anonyme Geburt richtig sind.

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Es ist ein menschlicher Ausnahmezustand, über den wir hier diskutieren. Frauen, die heimlich Kinder austragen, die glauben, vor ihrem direkten Umfeld verbergen zu müssen, dass sie ein Kind erwarten, sind nicht in dem Zustand, den man früher noch als „freudige Erwartung“ bezeichnete. Sie denken und handeln nicht rational. Sie sind in der Regel in Panik. Haben Angst vor den Folgen, wenn jemand von diesem Kind weiß. Nach vier eigenen Geburtenkann und will ich mir gar nicht vorstellen, wie es sein mag, alleine und ohne jegliche Unterstützung zu entbinden. Kein Arzt, kein Krankenhaus, kein Mann, keine Freundin, keine Hebamme. Einfach keiner. Und dann die Frage: Wohin mit diesem Bündel Leben, das niemand will?

Atempause

Ich bin froh, dass es Babyklappen gibt. Ich bin froh um jedes Kind, das dort abgegeben wird, anstatt ausgesetzt, im Müll oder in der Kühltruhe entsorgt zu werden. Weil es zumindest eine Chance bekommt. Eine Chance auf ein Leben. Weil es nicht grausam verhungert oder erfriert, sondern liebevoll umsorgt wird. Weil ich es in dieser Situation zweitrangig finde, ob ein Kind später weiß, wer seine Mutter oder gar seine Eltern sind, ob es Erbansprüche oder Unterhaltsansprüche hat. Wenn es nämlich alternativ stirbt, hat es gar nichts. Kein Leben, keinen Namen und vielleicht nicht einmal ein einsames Grab.

Es muss eine letzte Ausfahrt vor dem Tod geben für diese Kinder. Auch weil es dann nicht in Panik und unreflektiert von der eigenen Mutter getötet wird. Etwas, was die Menschheitsgeschichte seit Jahrtausenden kennt. Unser Strafrecht hatte bis 1998 sogar einen eigenen, strafmildernden Paragrafen dafür, wenn eine Mutter während oder unmittelbar nach der Geburt ihr eigenes uneheliches Kind tötete. Weil man wusste, dass Mütter in der Geburt im Ausnahmezustand sind und dies noch eine ungebremste Potenzierung erfährt, wenn die Umstände nicht die sind, die man sich gemeinhin als werdende Mutter wünscht. Wenn der Vater das Kind nicht will, die Familie nichts weiß oder es gar vom „falschen“ Vater ist. Doch selbst versorgt im Krankenhaus, mit Unterstützung, der neuesten Medizin und allem Pipapo, können Sie als werdende Mutter an den Rand der Verzweiflung kommen. An den Punkt, an dem sie einfach nur noch nach Hause wollen, sich fragen, wer noch mal diese irrsinnige Idee hatte, Kinder zu kriegen. An dem Sie wütend werden können selbst auf dieses unschuldige Kind, das Ihnen gerade so viel Schmerzen bereitet, einfach nur, weil es sich seinen Weg in unsere Welt bahnt.

Nach 1998 gab es diesen strafmildernden Paragrafen nicht mehr, mit den Babyklappen wurde also einst dieser letzte Ausweg geschaffen für diese Mütter und diese Kinder. Eine Atempause für das Leben, um andere Kurzschlussreaktionen zu verhindern. Manche Krankenhäuser erweiterten dies Angebot um die sogenannte Anonyme Geburt. Weil sie nicht wollten, dass diese Mütter in ihrer Verzweiflung alleine und ohne medizinische Versorgung sind. Sprich, die Mutter muss ihren Namen und ihre Herkunft nicht preisgeben und kann trotzdem im Krankenhaus mit Hilfe ihr Kind zur Welt bringen. Sie kann es anschließend wieder verlassen, das Kind zur Adoption freigeben, ohne dass ihr Umfeld jemals davon erfahren wird. Rechtlich ist das nicht erlaubt, faktisch wird es aber geduldet.

In der Grauzone

Sowohl Babyklappen als auch die Anonyme Geburt haben einen schalen Beigeschmack. Rechtlich und menschlich. Insofern ist es zunächst richtig, wenn sich das Familienministerium derzeit um eine Neuregelung bemüht. Man bewegt sich in einer Grauzone. Das ist für die Mütter aber auch für die Ärzte und Krankenhäuser kein schöner Zustand. Hinzu kommt, dass in einer Studie
aus dem Frühjahr 2012 festgestellt wurde, dass von den rund 1000 Kindern, die seit Einführung der Babyklappen und der Anonymen Geburt abgegeben wurden, etwa 200 Kinder weg sind. Jedenfalls kann niemand genau sagen, wo sie sind. Auch nicht die Träger der Babyklappen, nicht das Jugendamt, niemand. Das muss nicht heißen, dass diesen Kindern etwas zugestoßen ist, vielleicht ist alles gut? Aber man kann ihren Lebensweg amtlich nicht mehr nachvollziehen, weil es keine einheitliche Regelung gab und gibt, die diese Kinder erfasst und begleitet. Viele verschiedene Vereine und Träger sind beteiligt, manche arbeiten mit dem Jugendamt zusammen, manche nicht. Manche kümmern sich, wenn sie von einer unbekannten Mutter ein Kind übergeben bekommen haben, selbst um die weitere Unterbringung der Kinder. Sicher mit bestem Wissen und Gewissen, aber abseits von Kontrolle oder rechtlicher Handhabung.

Dieser Zustand ist nicht haltbar und muss verändert werden, dabei muss man aber sagen: Das hätte man schon längst machen können. Wieso ist es nicht gleich bei Einführung der ersten Babyklappe geschehen, das liegt jetzt schon 13 Jahre zurück? Es ist nicht die Schuld der Betreiber von Babyklappen, dass der Staat sich nicht um die Abläufe gekümmert hat und jetzt beklagt, es gäbe sehr große Qualitätsunterschiede innerhalb der Trägerlandschaft. Im Jahr 2010 veröffentlichte schließlich der Deutsche Ethikrat seine Empfehlung, alle Babyklappen zu schließen, weil das Ziel verfehlt worden sei, dass dadurch die Zahl der Kindstötungen zurückgeht. Ein zynisches Argument. Denn es wirft die Frage auf, wie viele Kinder mehr wir wohl stattdessen tot aufgefunden hätten, wenn es die Klappen nicht gegeben hätte. Außerdem können wir nur die Zahl der Kinder bestimmen, die auch tatsächlich gefunden wurden. Die Dunkelziffer kennt niemand. Diese Statistik wird immer dann erweitert, wenn wieder ein grausamer Fund gemacht wird. Der Ethikrat sprach in seiner Stellungnahme von 300 bis 500 Kindern, die seit 1999 abgegeben worden seien. 300 bis 500 – sie hatten nicht einmal genaue Zahlen, es war eine Schätzung, eine Kapitulation angesichts der eigenen Unwissenheit. Mehr hatte man nicht in der Hand, glaubte aber, eine Empfehlung abgeben zu können.

Damals habe ich mich einmal auf Spurensuche begeben nach Statistiken im Land NRW, dort steht ein Viertel aller deutschen Babyklappen. Auffällig war gleich: Es sind vor allem die christlichen Krankenhäuser, die solche Einrichtungen anbieten. Offenbar ist bei christlich motivierten Menschen der Wille, kein Kind – auch kein einzelnes – durch das gesellschaftliche Raster fallen zu lassen, deutlich ausgeprägter. Im Zweifel für das Leben. Die Hälfte des Landesgebietes wird in NRW vom Landschaftsverband Rheinland erfasst. Dieser fordert von den Betreibern, dass sie jedes Kind melden. Die andere Hälfte des Landes wird einfach nicht erfasst. Der andere Landschaftsverband Westfalen-Lippe fragte eben nicht nach. So kommen dann diese Schätzungen und Hochrechnungen zustande und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass offenbar niemand die Zahlen wirklich wissen wollte. Da wundert es auch nicht mehr, wenn der Verbleib mancher Kinder amtlich nicht festgestellt werden kann. Wer wäre zuständig gewesen? Das Jugendamt, die Familienministerien, die Staatsanwaltschaft? Offenbar fühlte sich niemand in der Verantwortung.

Goldener Mittelweg

Familienministerin Kristina Schröder will nun ein neues Gesetz erlassen, das eine sogenannte „Vertrauliche Geburt“ in Krankenhäusern ermöglichen soll. Damit ist gemeint, dass Mütter halbwegs anonym sein werden. Sie müssen ihre Personalien preisgeben, diese werden versiegelt und sollen dem Kind nach einigen Jahren ausgehändigt werden, damit es eine Chance bekommt, zu wissen, wer seine Mutter ist. Es soll der goldene Mittelweg sein zwischen dem Anliegen der Mütter und den Rechten der Kinder. Nun sind aber gut gemeint und gut gemacht bekanntlich nicht immer das Gleiche, so wie hier leider auch. Geht doch die geplante Neuregelung an der Realität der Praxis völlig vorbei.
Nicht umsonst kritisieren sowohl Politiker als auch Ärzte, Krankenhäuser, Hilfsorganisationen und kirchliche Einrichtungen die neuen Pläne. Sie haben Erfahrung mit diesen Müttern, sie wissen, wie es tatsächlich abläuft und was nötig ist, damit eine Frau überhaupt ins Krankenhaus kommt. Ist sie erst einmal da und fasst sie Vertrauen, lässt sich fast immer eine gute Lösung finden. Sie kommt nicht, wenn sie ihren Namen gleich sagen muss. Das ist Fakt. Sie geht auch nicht vorher zu Beratungsstellen, obwohl es ratsam wäre. Sie spricht oft mit niemandem. Das ist ja das Problem.

Die Babyklappen will Frau Schröder zumindest vorerst nicht abschaffen, aber auch nicht fördern. Die aktuell gut 100 Einrichtungen sollen bestehen bleiben, sie sollen noch für ein paar Jahre einen Bestandsschutz bekommen, es sollen aber keine neuen eingerichtet werden. Man wünscht sich, dass sie irgendwann überflüssig werden, auslaufen. Ja, wer wünscht sich das nicht? Dazu nur ein kleiner Exkurs nach Berlin. Dort existieren Babyklappen, man darf aber nicht auf sie aufmerksam machen, berichtet mir eine Mitarbeiterin eines ehrenamtlichen Vereins. Als im November 2011 eine Mutter ihr Kind nach der Geburt aus dem Fenster warf, stand die Nation empört Kopf – und eine Babyklappe nicht weit entfernt, auf deren Existenz aber nicht durch Flyer oder Ähnliches hingewiesen werden durfte. Vielleicht wäre es anders ausgegangen, hätte die Mutter davon gewusst.

Ich habe mit Ärzten geredet, die anonyme Geburten durchgeführt haben, mit Mitarbeitern von Organisationen, die solchen Müttern helfen. Sie berichten alle einhellig, dass die Mütter sich in der Regel erst dann auf Hilfe einlassen, wenn sie absolut sicher sind, dass sie anonym bleiben dürfen. „Nach spätestens zwei Tagen weiß ich immer den Namen der Mutter, und bis auf zwei Ausnahmen konnten wir bislang alle Mütter in den Tagen nach der Geburt überzeugen, ihr Kind doch zu behalten“, erzählt mir eine dieser Frauen, die sich seit Jahren schon engagiert. Die manchmal Neugeborene bei sich zu Hause mit ihrer Familie versorgt, bis die Mutter sich durchringt, ob sie sich zur Mutterschaft bekennt, oder das Kind zur Adoption freigibt. Denn ist das Kind erst einmal auf der Welt, sieht selbige oft gleich ganz anders aus. Die Liebe kann fließen, wenn das Kind erst einmal im Arm der Mutter liegt. Ähnliches berichtet mir der Chefarzt einer Klinik im Ruhrgebiet. Dort können die Frauen anonym entbinden, die Stadtverwaltung hat inoffiziell ihren Segen gegeben, und auch hier ist die Erfahrung gleich. Er berichtet, dass immer wieder Frauen wegen Bauchschmerzen kommen und mit einem Kind gehen. So sehr funktioniert die Verdrängung bei ungewollten oder ungeplanten Schwangerschaften. Passiere so etwas zu Hause, dann sei die erste Reaktion Panik: „Mülltonne, Kühltruhe oder Babyklappe. Wir brauchen die Klappe, damit die Frau diesen Moment überbrückt. Damit sie erst einmal einen Ausweg hat, erst einmal zum Nachdenken kommt und vielleicht nach ein paar Tagen ihre Anonymität aufgibt und zu ihrem Kind zurückkommt.“ Die Hemmschwelle muss so niedrig wie möglich sein und sie ist es nicht, wenn erst einmal der Ausweis gezückt werden soll.

Starres Beharren auf Formalitäten

Es gibt auch unschöne Geschichten, die mir berichtet wurden. Zum Beispiel von der Mutter im Raum Stuttgart, die am Krankenhaus abgewiesen wurde, weil sie sich weigerte, ihren Namen zu sagen. Man hat sie einfach weggeschickt, mitten in den Wehen. Sie steuerte ein zweites Krankenhaus an, auch dort wollte man ihr nicht helfen, auch dort beharrte man auf Formalitäten. Sie hatte immer noch Wehen. Sie hat dann bei einem dieser Vereine angerufen und eine Frau hat sich sofort ins Auto gesetzt und ist quer durch Deutschland gefahren, um ihr während der Geburt und danach beizustehen. Um das mal deutlich auszusprechen: Das war unterlassene Hilfeleistung und menschlich eine Schweinerei, was diese Krankenhäuser gemacht haben, nur weil nicht mit deutscher Gründlichkeit ein Formular mit drei Durchschlägen ausgefüllt werden konnte. Niemand hat diese Krankenhäuser angezeigt. Nicht der Verein, und nicht die Mutter, denn sie will ja kein Rechtsverfahren führen, sondern im Verborgenen bleiben.

Wie viele solcher oder ähnlicher Fälle mag es in den vergangenen Jahren gegeben haben? Was wäre geschehen, hätte sie nicht bei diesem Verein angerufen? Wollen wir das Leben eines Kindes wirklich von einem Stück Papier abhängig machen?

Eine Legalisierung der Anonymen Geburt könnte auch in Deutschland endlich Rechtssicherheit schaffen. In Frankreich ist es möglich, in Österreich auch. Es gibt keinen Königsweg, wenn es im Rechtssystem menschelt und es wird immer eine Grenzsituation bleiben, die man beileibe niemandem wünscht. Nicht der Mutter, die vielleicht für immer diese Last und ein schlechtes Gewissen mit sich trägt. Nicht den Kindern, die vielleicht ein Leben lang mit ihrem Schicksal hadern und nach ihren Eltern suchen wollen. Aber es ist eine Lösung im Leben und nicht im Tod.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf TheEuropean.de

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Esther

Einer Ministerin zu unterstellen, sie habe verantwortungslos entschieden und noch nicht mal zu begründen, was man konkret kritisiert, ist oberflächlich.

Sie ist eine der besten Familienministerinen seit vielen Jahren.

Gravatar: Na sowas auch

Wir brauchen keine Babyklappe, wir brauchen Zuwanderung bis zum geht nicht mehr, und es geht noch für Millionen!

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