Hintern-Horizont

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Wie soll man diese Geschichte angesichts der vielen möglichen Blickwinkel erzählen? Die russische Staatlichkeit ist jedenfalls empört. Die deutschen Medien sind dadurch in ihrem pawlowschen Reflex noch viel empörter. Und Konrad Kustos meint, dieser ganze Empörungsmix ist nur der Ausdruck einer empörenden Normalität. Die Fakten: In einer russischen Tanzschule haben Mädchen einen sogenannten Bienentanz aufgeführt, bei dem sie dem Publikum während der Darbietung ihre Ärsche mehr oder weniger derb ins Gesicht geschoben haben. Die Staatsanwaltschaft und der Kinderschutzbeauftragte unterbanden dies wegen „obszöner Gesten“ und der Beteiligung Minderjähriger. Die Deutsche Presseagentur sah das als willkommene Gelegenheit, daraus eine neue Skandalgeschichte aus Putins dunklem Imperium zu schnitzen. Für Konrad Kustos, für den diese Mechanismen mittlerweile leidvoll zum Alltag gehören, ist der eigentliche Skandal die schmerzliche Dauer von geschlagenen sechs Minuten und 34 Sekunden einer peinlichen Nichtigkeit, die es im Internet innerhalb von zwei Tagen zu mehr als vier Millionen Klicks gebracht hat. (Wer den Link jetzt anklickt: Es passiert wirklich bis zum Schluss nichts neues, man kann ohne Verluste spätestens nach einer Minute die Pein wieder abstellen.)

Bis auf ein kurzes Intro besteht die Darbietung der Tanzschule in Orenburg, rund 1200 Kilometer südöstlich von Moskau gelegen, aus einer Gruppe leidlich beweglicher Mädchen, die dem Publikum ihre Ärsche zuwenden und damit wackeln. Bisweilen legen sie sich zur Abwechslung des monotonen Geschaukels bei kakophonischer Musik auch auf den Boden und machen Liegestütze. Natürlich soll das erotisch sein, und ebenso natürlich ist es das nicht. Es ist ordinär (nicht einmal obszön), aber auf jeden Fall so sexy wie ein Elephant beim Milchholen.

Ich kann nur vermuten, dass die russische Obrigkeit einfach eingeschritten ist, um die Mädchen vor sich selbst oder vielmehr ihrer Tanzlehrerin zu schützen. Die Leiterin der Schule, Viktoria Jakowenko, bezeichnete die Vorwürfe in Hinsicht auf Obszönität als absurd. Die Gruppe habe doch nur im Twerking-Stil getanzt. Die Dame hat bei allem Bemühen um Zeitgemäßheit wohl nicht gewusst, dass laut Wikipedia Twerking „im Allgemeinen als sexuell provokativer Tanzstil aufgefasst“ wird, und deshalb in Ländern, in denen Minderjährige noch vor sexueller Ausbeutung geschützt werden, für diese keine so gute Idee ist.

Die DPA sieht das natürlich anders und hisst erneut die Flagge der sexuellen Befreiung Russlands. Wir kennen die Diktion schon, die ohnehin wenigen gut zu Gesicht stünde, schon gar nicht aber einer Nachrichtenagentur: „Die russische Staatsanwaltschaft, die Polizei und der Kinderschutzbeauftragte ermitteln, weil sie ‚obszöne Gesten’ gesehen haben wollen.“ (Also gibt es sie in Wirklichkeit gar nicht)… „Kritiker werfen der Mädchengruppe ‚obszöne Gesten’ vor (Man kennt ja diese direkt von Putin gesteuerten russischen Kritiker. Gegen alle anderen Russen haben wir selbstverständlich nichts, schließlich sind wir Ausländerversteher)… „Den Schöpfer der anzüglichen Aufführung … .“ (So kann man doch nicht mit einem Schöpfer umgehen, selbst wenn er ein Dilettant ist.)… „Sie tragen einen Badeanzug im Bienendesign und wackeln wie Bienen mit ihrem Hinterteil.“ (Nein, sie tragen Möchtegern-Reizwäsche und bewegen sich nicht wie Bienen, sondern wie Hafennutten.)  „Was die Männer von Polizei und Staatsanwaltschaft darin sehen, sagt mehr über sie aus als über den Tanz.“ (Und hier kommt einfach nur noch moralisierende Wertung, nicht etwa in einem schlechten Kommentar, sondern im Bericht DER deutschen Nachrichtenagentur.)

Und in so vermessener wie demagogischer Selbstgerechtigkeit fordert das Medium den Leser auf: „Sehen Sie hier das Video und beurteilen Sie selbst.“ Doch, egal ob Putingegner wie Putinversteher, jeder sieht hier die unbeholfene Sexualitätsabsicht des Arschwackelns - nur die nicht weniger penetranten Ärsche der DPA in ihrer unerbittlichen „Un“parteilichkeit sehen dies eben nicht. Der Bericht, nein, der Kommentar, nein, die Kampfschrift erschien auch im Berliner Tagesspiegel, wo er ja auch hingehört, doch nun kommt tatsächlich noch die versöhnliche Wendung: Die Kommentatoren in der Internetausgabe erwiesen sich mehrheitlich als manipulationsresistente, analytische und witzige Gegenspieler der Indoktrinationsindustrie. Deshalb abschließend kommentarlos einige dieses Beiträge, die uns hoffen lassen, wir könnten vielleicht, statt weiter in Resignation zu verfallen, doch anfangen, über das System zu lachen.

„Alle, die das toll finden, können ja mal überlegen, ob sie ihre Tochter oder Schwester hier in Berlin gern so bei einer Schulaufführung sehen wollten.“

„Twerking bedeutet schlicht, sexuell zu provozieren und den Hintern den Leuten mit geöffneten Beinen hinzustrecken, damit man einen ungehinderten Blick zwischen die Beine junger Mädchen hat. Genau das wird hier demonstriert. Twerking ist im Westen durchaus nicht üblich (wie von der Tanzlehrerin behauptet), sondern kommt von den Hiphoppern und Rappern, die ein Frauenbild haben, das aus dem vorigen Jahrhundert stammt.“

„Hier ausgeführt von Kindern. Tagesspiegel: Löschen Sie den Link.“

„Ich persönlich finde aufgrund des Alters der Mädchen, dass hier bereits die ‚Edathy-Zone’ berührt wird.“

„Wo sind denn die ganzen ‚Edathy-Kopf ab!’-Schreier jetzt, die sich dermaßen empörten über die sexuelle Ausbeutung armer rumänischer Buben für ein paar Euro? Man kann das Video finden, wie man will, aber wer das als harmlose Kinderaufführung verkaufen will, hat nicht alle auf dem Sender oder bestimmte politische Absichten. Es ist halt eine willkommene Gelegenheit, mal wieder Putins Reich des Bösen vorzuführen.“

„Schon klar, jetzt ist der Tanz gut, und die russischen Spießer sind die Bösen. Hätten dagegen Feministinnen diese Tanzaufführung als das gebrandmarkt, was sie ist - nämlich die sexuelle Zurschaustellung minderjähriger Mädchen - dann wäre der Tanz böse und es würde regelrecht gefordert werden, dass die Behörden Strafen erlassen.“

„Für eine handvoll Dollar verkauft diese Schulleiterin ihre Schülerinnen. Pussy Riot, die russische ‚Punk-Band’, die es auch ohne ein einziges Lied in den westlichen Medien zu ‚Weltruhm’ brachte, lässt grüssen. Also mein Mitleid hält sich in Grenzen, ein paar km weiter hätte man diese Schulleiterin umgehend gesteinigt, aber das wäre dann für unsere Medien kein Thema.“

„Da hat die Auslandsabteilung der Aufregungspolizei aber mal wieder einen Skandal von galaktischer Bedeutung aufgedeckt: In Russland, wo, wie immer wieder zu erfahren ist, ohne Putin gar nichts entschieden wird. Die Aufregungspolizei, Abteilung fremde Dienste Ost, hat sich entschlossen, die skandalöse Prüderie der Putinversteher von Orenburg weltweit an den Pranger zu stellen, der Vorbeugung wegen. Denn in Berliner Schulen würden die Mädchen zum körperbetonten Streifenkostüm sicherlich dezent Kopftücher tragen, und somit ein Zeichen gegen Prüderie und Ultranationalismus setzen. Nastrovje.“

Mehr von Konrad Kustos gibt es hier: chaosmitsystem.blogspot.de

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