HAT DIE GESCHICHTE EINEN SINN? K.R. POPPER UND C.S. LEWIS („OFFENE GESELLSCHAFT“ III)

C.S. Lewis, der wohl wichtigste Apologet des Christentums im 20. Jahrhundert, war ein Anhänger des klassischen Liberalismus. In Vielem vertrat er Gedanken, die denen von Karl Popper oder F.A. Hayek erstaunlich ähnlich waren.

Veröffentlicht:
von

„Demokratie ist das Wort, mit dem du an der Nase herumführen musst“

Konservative und evangelikale Christen beachten meist nicht, dass auch einer der Ihren, der vielgelesene und beliebte C.S. Lewis(1898–1963), der wohl wichtigste Apologet des Christentums im  20. Jahrhundert, ein Anhänger des klassischen Liberalismus war. (Das gilt übrigens auch für seinen Freund J.R.R. Tolkien, s. über dessen politischen Vorstellungen The Hobbit Party von Jonathan Witt und Jay W. Richards.) Gegen den theologischen Liberalismus kämpfte er an, aber in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht vertrat er Gedanken, die denen von Popper und Hayek überraschend ähneln. 1945 bis 1963 lebten die etwa gleich alten Lewis und Popper beide in Südengland; über einen Kontakt oder einen direkten Einfluss ist jedoch nichts bekannt.

Lewis beginnt seinen Essay „Gleichheit“ (Equality, 1943) mit dem nüchternen Satz: „Ich bin Demokrat, weil ich an den Sündenfall glaube“. Mit der Demokratie verbindet er keine Vorstellung von einer perfekten Umsetzung des Volkswillens o.ä. Lewis fordert rechtliche oder politische Gleichheit „zum Schutz gegen Grausamkeit“. Nicht zu viel Macht, da der Mensch, auch der Herrschende, Sünder ist und bleibt – das ist die Grundidee der Demokratie. Auch in „Demokratische Erziehung“ (Democratic Education, 1944) verwirft Lewis das Ideal von allgemeiner Gleichheit. Die sozialistische Gleichmacherei ist ihm ein Gräuel.

Vielsagend ist schon der Titel von Lewis Essay „Gefügige Sklaven des Wohlfahrtsstaates“ (Is Progress Possible? Willing Slaves of the Welfare State, 1958). Dort kritisiert er ganz im Stil der Liberalen: „Der moderne Staat ist nicht mehr zum Schutz unserer Rechte da, sondern um uns Gutes zu tun oder um und gut zu machen, auf alle Fälle, um etwas an uns oder mit uns zu tun.“ Lewis stellt die  sog. negative Freiheit, die Abwesenheit von Zwang, in den Mittelpunkt. Der Staat soll den Bürger nicht zur Tugend erziehen, sondern ihn vor Gewalt schützen. „Ich glaube an Gott, aber ich verabscheue die Theokratie. Denn die Regierenden sind auch nur Menschen, und jede Regierung ist, genau besehen, ein Notbehelf.“ Lewis graut vor einem „Welt-Wohlfahrtsstaat“, der jedoch attraktiv erscheint: „verzweifelte Not: Hunger, Krankheiten und die Angst vor einem Krieg“, und wir haben auch schon eine „Idee, wie ihr abzuhelfen wäre: durch eine für alles zuständige, staatsübergreifende Technokratie. Sind das nicht die idealen Voraussetzungen für eine Versklavung?“

In „Screwtape Proposes a Toast“ (1959), einem späteren Anhang zu den Screwtape Letters (1942, dt. Dienstanweisungen für einen Unterteufel), beklagt Lewis die Verdrehung des Begriffs Freiheit, die Entwertung der persönlichen Freiheit und den Missbrauch der Demokratie. Der Rat des Teufels an Wormwood: „Demokratie ist das Wort, mit dem du an der Nase herumführen musst“. Wie aktuell solch eine Warnung ist, zeigt Christian Felbers Gemeinwohl-Ökonomie, in dem er eine „Weiterentwicklung der Demokratie“ fordert. Der „einzige Zweck der Demokratie“ sei „die Umsetzung seines [des Souveräns, d.h. des Volkes] Willens“, des „Gemeinwillens“, des „Mehrheitswillens des Souveräns“. Die „souveräne Macht“ müsse in den Händen der Bevölkerung liegen – „nicht bei der Regierung oder dem Parlament“, und das gelte auch für die Wirtschaft. Das ist die Rousseausche Demokratieauffassung, die die Rattenfänger der letzten Jahrhunderte schon immer gern benutzten. Popper, Hayek, Lewis und schon de Tocqueville lehnten sie vehement ab.

„Geschichte internationaler Verbrechen und Massenmorde“

Zumindest ab den 40er Jahren bewegte sich Lewis in seinem Denken also in der breiten Tradition des klassischen Liberalismus. Es gibt darüber hinaus noch eine konkrete Parallele zu Popper: die Ablehnung des Historizismus.

Popper hielt noch vor dem Krieg einen Vortrag, in dem er den Historizismus verwarf. Veröffentlicht wurde The Poverty of Historicism in einem Journal 1944/45, als Buch in englischer Sprache 1957 (dt. Das Elend des Historizismus). Die Offene Gesellschaft ist gleichsam ein großer historischer Exkurs zu der dünnen Schrift von gerade gut einhundert Seiten. Popper bezeichnete beide Werke immer als ein großes Projekt.

Unter Historizismus verstand Popper die Einstellung, es sei die Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft (und der Sozialwissenschaften allgemein) Rhythmen oder Gesetze der geschichtlichen Entwicklung festzustellen. Die „Entdeckung des Entwicklungsgesetzes der Gesellschaft“ ist, so Popper im Elend des Historizismus, die „zentrale Doktrin des Historizismus“. Die Suche nach „historischen Entwicklungsgesetzen“ und die Voraussagen, ja die Prophezeiungen auf ihrer Grundlage seien danach Hauptaufgabe der intellektuellen Elite.

Im abschließenden Kapitel der Offenen Gesellschaft bindet Popper im Kapitel „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?“ den Sack gleichsam zu. Er hält noch einmal fest: „Es kann keine Geschichte ‘der Vergangenheit’ geben, ‘wie sie sich tatsächlich ereignet hat’; es kann nur historische Interpretationen geben, und von diesen ist keine endgültig.“ Man muss seinen Standpunkt, von dem man aus interpretiert, kennen und diesem gegenüber kritisch bleiben. Da es zahllose Individuen gibt, die jeweils ihren Standpunkt haben, warnt Popper vor den selbstsicher vorgetragen großen Deutungen der Geschichte. Er gibt zu bedenken: „Es gibt keine Geschichte der Menschheit, es gibt nur eine unbegrenzte Anzahl von Geschichten, die alle möglichen Aspekte des menschlichen Lebens betreffen. Und eine von ihnen ist die Geschichte der politischen Macht.“ Diese ist wiederum, so Popper nüchtern, die „Geschichte internationaler Verbrechen und Massenmorde“.

Der eine, tiefere Sinn sei in der Geschichte nicht zu entdecken. Weder die Natur noch die Geschichte können uns sagen, „was wir tun sollen. Tatsachen… können nicht die Zwecke bestimmen, die wir wählen werden. Wir sind es, die Zweck und Sinn in der Natur und in die Geschichte einführen.“ Daher gilt: „obwohl die Geschichte keinen Sinn hat, können doch wir ihr einen Sinn verleihen“. Popper betont die Verantwortlichkeit des Menschen: Wir sind „Schöpfer unseres Geschicks“. „Es ist wahr – wir brauchen Hoffnung“, doch wo sie herkommen soll, bleibt unklar.

„Eine verhängnisvolle Pseudophilosophie“

Lewis war ein großer Experte der Geschichte, besonders des Altertums und Mittelalters (sein Fachgebiet in der Literatur), und er beklagte nur zu oft die Geschichtsvergessenheit seiner Zeitgenossen (die verächtliche Abwertung alles Alten nannte er „chronologischen Snobismus“). In „Der moderne Mensch und die Kategorien seines Denkens“ (Modern Man and his Categories of Thought, 1946) verteidigt Lewis die Geschichtswissenschaft, wendet sich gegen die Verachtung der Vergangenheit. Doch nicht weniger scharf als Popper geißelt er den Historizismus als „eine verhängnisvolle Pseudophilosophie“ (bei Popper ist es eine „ärmliche“), nämlich den „Glauben, dass uns die lückenhafte und rein zufällige Auswahl der uns bekannten geschichtlichen Tatsachen eine nahezu mystische Offenbarung der Wirklichkeit lieferte und dass es unsere oberste Pflicht sei, den Augenblick beim Schopfe zu ergreifen und ihm zu folgen, wohin er uns treiben mag.“

Ausführlich widmet sich Lewis dem Thema dann im Essay „Historizismus“ aus dem Jahr 1950 (Historicism, im SammelbandFern-seed and Elephants, dt. Was der Laie blökt, ebenfalls inChristian Reflections). Auch dort kritisiert er den Historizismus scharf und definiert gleich zu Eingang: „Ich nenne ‘Historizismus’ den Glauben, der Mensch könne durch Anwendung seiner natürlichen Fähigkeiten einen inneren Sinn im Ablauf der Geschichte entdecken.“ Es geht ihm also nicht um Erkenntnis des Sinnes aufgrund von übernatürlicher Offenbarung (oder der Behauptung, solche empfangen zu haben). Ein Historizist ist ein solch ein Mensch, der „auf Grund seines Wissens und seines Genies“ zum Glauben an seine Thesen auffordert.

Historiker wie Historizist suchen nach „kausalen Zusammenhänge zwischen historischen Ereignissen“. Ein Historiker „darf die Vergangenheit ‘interpretieren’“ und kann außerdem auch auf zukünftige Ereignisse schließen. „Das Kennzeichen des Historizisten dagegen ist, daß er versucht, aus den historischen Annahmen Schlußfolgerungen zu ziehen, die über das Historische hinausgehen; metaphysische oder theologische oder (um ein Wort zu prägen) atheo-logische.“ Auch ein Historiker kann in gewisser Weise von historischen Notwendigkeiten, einem „Muss“, sprechen. Ein Historizist meint dagegen damit eine „letzte“ Notwendigkeit „am Grund der Dinge“. So war Marx ja überzeugt, dass die Verelendung der Arbeiterschaft, der Zusammenbruch des Kapitalismus und die proletarische Revolution kommen müssen.

Lewis nennt einige Beispiele des Historizismus aus Literatur, Philosophie und Alltag: „Wenn Hegel in der Geschichte die fortschreitende Selbst-Kundgebung des absoluten Geistes sah, war er ein Historizist. Wenn eine Dorfbewohnerin sagt, der Schlaganfall ihres bösen Schwiegervaters sei ‘ein Gottesurteil über ihn’, so ist sie eine Historizistin.“ Auch der Evolutionismus, wenn er als ein „Deutungsprinzip der gesamten historischen Entwicklung“ gesehen wird, ist historizistisch.

Historizismus begegnet uns also „auf vielen Ebenen“. Lewis nennt auch „die Lehre, wenn uns (oder häufiger unsern Nächsten) ein Unglück trifft, sei das ein ‘Gottesgericht’, das heißt eine göttliche Vorsehung oder Strafe.“ Der große Verteidiger des Christentums hielt natürlich an der göttlichen Inspiration der Bibel fest, glaubte an echte Prophetie. „Wenn aber jemand meint, weil es Gott gefallen hat, bestimmten Auserwählten ein gewisses Unglück als ‘Gericht’ zu offenbaren, dürfe er verallgemeinern und alle Unglücksfälle auf dieselbe Weise interpretieren, so ist das nach meiner Ansicht ein ‘non sequitur’ [lat. „es folgt nicht“]. Außer natürlich, der Betreffende erhöbe den Anspruch, selbst ein Prophet zu sein.“ Sicherlich, so Lewis, gibt es göttliche Gerichte, doch an vielen Stellen der Bibel wird die simple Gleichung Unglück=Gericht hinterfragt. Er nennt die ganze Geschichte des jüdischen Volkes, das Buch Hiob, den leidende Gottesknecht (Jes 53), Jesu Aussagen zum Unglück von Siloa (Lk 12,4) und zum Blindgeborenen (Joh 9,13). „Wir müssen uns vor gefühlsbetonten Ausdrücken wie das ‘Gottesgericht der Geschichte’ hüten.“

Anders als Popper hält Lewis durchaus daran fest, dass alles „durch den Willen Gottes oder wenigstens durch göttliche Zulassung“ geschieht. Insofern ist die Geschichte „eine vom Finger Gottes geschriebene Erzählung“. Um von dieser Wahrheit zu historizistischen Aussagen gelangen zu können, müssten jedoch drei „Wunder“ geschehen: „das gesamte Geschehen der Zeit [müsste] vor mir ausgebreitet werden“; zweitens müsste man „diese ganze Unendlichkeit im Sinn behalten“; und drittens müsste es Gott gefallen, „dazu seine Erläuterungen abzugeben, so daß ich sie verstehen könnte“ – dann und nur dann wäre es möglich das zu leisten, was die Historizisten vorgeben: „den Sinn herauslesen und die Absicht wahrnehmen“.

„Sind wir im ersten oder fünften Akt?“

Popper fragt: „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?“ Er kommt zu dem Schluss, dass sie einzig den Sinn hat, den wir ihr geben. Hier würde Lewis gewiss widersprechen. Wenn Gott existiert, dann gibt es einen tiefen Sinn von Geschichte und Ereignisse, den er auch offenbaren kann – dies zu denken ist ganz rational und nach christlicher Überzeugung auch so schon so geschehen, nämlich in der Deutung der Bibel von bestimmten Ereignissen: „Zu gewissen großen Ereignissen (jenen, die dem Credo [das Apostolische Glaubensbekenntnis] einverleibt sind) haben wir, wie ich glaube, eine göttliche Auslegung, die uns ihre Bedeutung so weit erklärt, als wir es brauchen und ertragen können.“

Eine andere Frage ist jedoch, was uns als Menschen allgemein versprochen wurde und „was jetzt unter den wirklichen Bedingungen [also ohne die genannten ‘Wunder’] möglich ist.“ Inwieweit sind wir dazu in der Lage, letzten Sinn zu entdecken? „Ich bestreite nicht, daß die Geschichte eine vom Finger Gottes geschriebene Erzählung ist. Aber haben wir den Text?“

Lewis erläutert nun sehr gut die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Geschichte. Geschichte als „der gesamte Inhalt der Zeit“ ist gewiss von Gott geschrieben. „Unglücklicherweise besitzen wir sie nicht.“ Bekannt ist uns die Bibel. Ihr Hauptzweck ist die Offenbarung all dessen, was der Mensch zu seiner Erlösung wissen muss. Aber der Text des gesamten göttlichen Dramas umfasst ja unendlich viel mehr. Dieses Szenarium ist uns weitgehend unbekannt. „Wir haben keine Ahnung, welchen Abschnitt der Reise wir erreicht haben. Sind wir im ersten oder fünften Akt? Gehören unsere gegenwärtigen Krankheiten zur Kindheit oder zum Alter?“ Die Erzählung der „Weltgeschichte haben wir noch nicht zu Ende gelesen“, wir haben die ganze Geschichte noch nicht gehört. Wir können schon „gewisse Feststellungen“ über sie machen, doch „eines dürfen wir nicht sagen, nämlich, was sie bedeutet oder welche Absicht darin zum Ausdruck kommt.“ Und fast schon mit den Worten Poppers: „Es geht nicht darum, daß wir nicht alles wissen können; es geht darum, daß wir (wenigstens was die Quantität betrifft) nahezu nichts wissen.“

Viele Christen sind überzeugt, dass wir nicht nur in der Endzeit leben (das letzte Zeitalter ist ja auch das gesamte der Kirche, d.h. es dauert seit 2000 Jahren an), sondern gewiss auch an dessen Ende, also im „fünften Akt“. Doch man sollte eingestehen, dass Gläubige im Laufe der Jahrhunderte schon oft die biblischen Kennzeichen der baldigen Wiederkunft Christi als erfüllt betrachtet haben. Das Gefühl, dass es „nicht mehr lange dauern kann“, überkommt viele. Dies ist verständlich und in gewissem Sinne unvermeidlich. Doch aus der Naherwartung sollte man nicht voreilig eine Nahgewissheit machen, denn dafür fehlt uns einfach das klare Wissen. (S. dazu sehr gut Franz Graf-Stuhlhofer, Das Ende naht!“ Die Irrtümer der Endzeitspezialisten.)

Lewis lässt den Einwand der Historizisten nicht gelten, dass wir die „wichtigen Tatsachen“ wüssten. Er bezweifelt, dass wir überhaupt feststellen können, welche Ereignisse der Geschichte wirklich wichtig ist: „Warum sollte der Dschingis Chan wichtiger sein als die Geduld oder Verzweiflung irgendeines seiner Opfer?“ (ähnlich Popper ja zur „Geschichte internationaler Verbrechen und Massenmorde“). Und mit einem sehr guten Vergleich gibt er zu bedenken: „Wir haben nur Ausschnitte, und Ausschnitte, die, was das Größenverhältnis anbelangt, sich zum Originaltext verhalten, wie ein Wort zu allen Büchern im British Museum verhalten würde. Man will uns glauben machen, von Ausschnitten dieses Größenmaßes aus könnten Menschen, ohne auf wunderbare Weise inspiriert zu sein, zur Bedeutung oder zum Plan oder Sinn des Originals gelangen.“

(Vertreter der theologischen Schule des Dispensationalismus sind natürlich überzeugt, eine wirklich „wichtige Tatsache“ zu kennen: die Staatsgründung Israels 1948. Damit erfüllen sich nach ihrem Verständnis biblische Prophezeiungen, und nun nimmt, salopp formuliert, der Endzeitfahrplan wieder Fahrt auf. Dies ist ein gutes Argument, und mglw. haben die Dispensationalisten Recht. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass andere theologische Systeme oder Paradigmen dem Volk der Juden im Zeitalter der Kirche nicht diese Rolle wie im Dispensationalismus zuschreiben und deshalb in der Staatsgründung auch nicht ein geradezu ‘göttliches Ereignis’ von dieser Tragweite erkennen können. Die Diskussion dieser Fragen ist wichtig, kann hier aber nicht geführt werden.)

Den „Historizisten spielen“ hält Lewis für „Zeitverschwendung“. Der historizistische Ansatz kann aber auch „geradezu unheilvoll sein. Er ermutigt einen Mussolini zu sagen, ‘die Geschichte habe ihn gepackt’, während er in Wirklichkeit von der Begierlichkeit gepackt wurde. Gefasel von Herrenrassen oder immanenter Dialektik kann helfen, der Faust Schlagkraft zu verleihen und das Gewissen gegen Grausamkeit und Gier abzustumpfen. Und welcher Schwindler oder Verräter versucht heutzutage nicht, Anhänger zu gewinnen oder den Widerstand einzuschüchtern mit der Versicherung, was er plane, sei unvermeidlich, werde ‘sicher kommen’, und zwar in der Richtung, in der die Welt sich schon jetzt bewegt?“

Historiker sollen versuchen die Geschichte zu verstehen, so Lewis. Sie sollen sie sorgfältig untersuchen und nicht einfach in ein liebgewonnenes Schema pressen (was Popper immer den Marxisten vorgeworfen hat). Man soll ihnen ruhig viel glauben, aber nicht gutgläubig die „metahistorische Bedeutung“ übernehmen.

„Gott hat einen Plan für uns…“

Popper und Lewis stimmen in ihrer Ablehnung des Historizismus weitgehend überein. Der Philosoph glaubt nicht, dass es überhaupt einen tieferen Sinn des gesamten Weltverlaufs gibt – einzig der Mensch ist für die Sinnstiftung verantwortlich. Dies ist nur schlüssig, wenn es kein personales Wesen im Jenseits gibt (Popper war ja Agnostiker). Lewis fand Anfang der 30er Jahre zum christlichen Glauben – zu der Überzeugung, dass ein Autor des Dramas der Geschichte tatsächlich existiert. Der Sinn dieser Erzählung ist daher derjenige, den Gott ihr gegeben hat. Nur Gott weiß um die letzte und tiefe Bedeutung allen Geschehens. Zu bestimmten Kernereignissen der Heilsgeschichte hat er uns seine Interpretation in seinem Wort mitgeteilt. Zuallermeist ist uns seine Deutung der Geschichte aber nicht bekannt.

Natürlich geben wir im Alltag unseren Handlungen einen gewissen Sinn. Anders können wir gar nicht leben. Es ist sinnvoll, heute mit dem Bus zu fahren, weil es zu stark regnet; es macht Sinn, im Ausland lebend die Landessprache zu lernen; der gute Sinn einer Rentenversicherung ist das Auskommen im Alter; und aus Leid, Krankheit und Schicksalsschlägen versuchen wir irgendwie Lehren zu ziehen, das Beste daraus zu machen und Sinn zu schöpfen. Christen wissen außerdem, dass ihr Leben einem tieferen Sinn dient. „Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich für immer an ihm zu erfreuen“, wie der Kürzere Westminster-Katechismus von 1647 in der ersten Antwort formuliert.

Ein Christ kann daher kein Nihilist sein, der alles für – in einem absoluten Sinn – sinnlos oder absurd hält. Aber genauso wenig darf er ein christlicher Historizist sein – und diese Versuchung ist wahrlich groß. Darin waren sich Lewis und Popper einig (Letzterer am Ende der Offenen Gesellschaft: „Der Historizismus… widerspricht auch jeder Religion, für die das Gewissen wichtig ist“). Ein wirklich gefährlicher Historizismus an den Leitstellen der politischen Macht à la Mussolini ist zum Glück selten geworden. Hier hat sich meist ein nüchterner Pragmatismus durchgesetzt (man denke an die Kanzlerin; auch wenn sie langweilig erscheint – besser so, als jemand, der am Rad der Geschichte drehen und diese ‘voran bringen’ will). Der Historizismus ist nun meist auf die persönliche Ebene gewandert (die „niedrigste“ bei Lewis), wurde privatisiert und subjektivistisch.

Mark E. Dever schreibt dazu sehr gut in „Reflections on Providence: Can We ‘Read’ Events?“, (Cambridge Papers, vol. 2, no. 2, June 1993) und zeigt dies am Beispiel des berühmten TV-Predigers Oral Roberts (1918–2009). Dieser musste sich im hohen Alter einem schwierigen chirurgischen Eingriff unterziehen. Den Erfolg der Operation und seine Genesung deutete er als klare göttliche Bestätigung für seinen Predigtdienst und konkret für seine Botschaft des Wohlstandevangeliums. Gott habe ihn bewahrt, damit er diese Botschaft weiter ausbreiten kann. Hat Gott das Messer der Chirurgen geführt und ihn geheilt? Dies kann man gewiss behaupten. Aber hatte die erfolgreiche Behandlung auch diese tiefere Bedeutung im Hinblick auf Roberts Dienst? Devers alternative ‘Lesart’: Gott ließ ihn genesen, damit er noch einmal Zeit hat, um Buße zu tun für die Verzerrung des Evangeliums.

Ein noch ernsteres Beispiel aus der Geschichte ist der 20. Juli, das gescheiterte Attentat auf Hitler 1944. Der Diktator und seine Propagandisten schrieben die Bewahrung des „Führers“ sogleich der göttlichen Vorsehung zu. Natürlich glaubten sie nicht an Gott, aber ein Christ im damaligen Deutschland konnte tatsächlich denken: Gott hat offensichtlich noch etwas mit ihm vor. Sonst wäre Hitler ja wohl umgekommen. Also stehe ich auch besser zu ihm. Inzwischen wissen wir ja genau um die Verkettung einer ganzen Reihe von unglücklichen Umständen, die das Attentat scheitern ließ. Damals hätte man den Finger Gottes darin entdeckt. Wollte Gott, dass der Tyrann überlebt? In gewissen Sinne ja. Auch die Vorgänge in der Wolfsschanze damals blieben im Rahmen seiner souveränen Kontrolle. Aber ähnlich wie bei Roberts ist natürlich eine andere Deutung möglich: biblisch gesprochen war das Maß des göttlichen Zornes noch nicht voll; Gott bewahrte Hitler, damit es noch schlimmer kommt – und für viele Nazis kam es dann, Gott sei Dank, ganz dick.

Viel weiter hilft uns aber auch das nicht. Warum musste das letzte Kriegsjahr, das noch einmal viele Millionen Tote bringen sollte, sein? Wieso fand es Eingang ins göttliche Drehbuch? Historiker können nun zu dem Schluss kommen, dass die totale Niederlage Deutschlands den Sinn hatte, ein für alle Mal von Nationalismus, Rassismus und Größenwahn geheilt zu werden. Doch musste diese Lektion so teuer bezahlt werden? Der Holocaust hatte auch den ‘Sinn’ zur Staatsgründung Israels zu führen (ohne die Judenvernichtung wäre es sicher nicht dazu gekommen). Man kann sich also in gewisser Weise einen Reim auf all diese Vorgänge machen und Sinnvolles entdecken. Einblick in das Skript des göttlichen Dramas haben wir aber dennoch nicht.

„Gott hat einen Plan für uns…“ So beginnen heute evangelistische Schriften. Dieser Plan ist dann wahlweise „gut“, „wunderbar“ oder sogar „vollkommen“. „ Gottes Vorstellungen für unser Leben können wir tatsächlich entdecken“, heißt es. Ist damit der moralische Wille Gottes gemeint, seine Aufforderung zu Glaube und Gehorsam, seine Versprechen von Heil und Erlösung, sind keinerlei Einwände zu erheben. Denn dieser Wille ist uns hinreichend bekannt. Doch der Begriff „Plan“ impliziert eben etwas anderes. Dieser Plan, die gesamte Erzählung Gottes, existiert, und jeder Mensch mit seinem gesamten Leben ist natürlich auch in diesen eingeschlossen. Gott hat einen Plan für jeden, und er führt gewiss auch jede Person, ja sogar Nationen (s. z.B. Apg 17,26). Aber wir wissen über diesen Plan herzlich wenig, ja – mit Lewis gesprochen – „nahezu nichts“.

Christliche Historizisten kümmert die große Geschichte meist wenig; sie sind interessiert an den ‘Entwicklungsgesetzen’, an den Notwendigkeiten der eigenen Geschichte, der persönlichenBiographie, sie suchen den Finger Gottes in der eigenen Lebenserzählung. Hier kann es jedoch nur ein Vermuten und Ahnen, hier und da ein Aufblitzen geben. Dies sollte für Gläubige klar sein, befindet sich doch in der Bibel eine eindeutige antihistorizistische Schrift: das Buch Hiob (Lewis nennt es ja auch kurz als Beispiel). Hiob führte ein gehorsames und tugendhaftes Leben im Glauben an Gott – und muss dennoch ungeheures Leid erfahren. Freunde rufen ihn zur Buße und Umkehr auf. Sie suchen in der persönlichen Tragödie Hiobs einen tieferen Sinn. Sie glauben, die Absicht Gottes erkannt zu haben. Aber ausgerechnet ihnen, den Apologeten Gottes, sagt dieser: „Mein Zorn ist entbrannt über dich und über deine beiden Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob“ (Hiob 42,7). Sie haben sich ein Wissen angemaßt, das sie nicht besitzen; sie haben sich mit ihrer Deutung zu weit vorgewagt; sie sind in die historizistische Falle getappt.

Dorothy Sayers sprach von einem „göttlichen Drama“, das gerade aufgeführt wird und in dem auch wir uns befinden. Lewis gebrauchte den Vergleich u.a. in seiner Autobiographie Überrascht von Freude: Wir sind wie Hamlet in einem Stück von Shakespeare, Figuren in der Geschichte des Autors. So auch sein Freund J.R.R. Tolkien. InTwo Towers (Band 2 der Lord of the Rings-Trilogie, Buch IV, Kap. 8, übersetzt aus dem Englischen) befindet sich ein interessanter Dialog zwischen Sam und Frodo. Sam zu seinem Freund: „Ich frage mich, in was für eine Geschichte [engl. tale] wir geraten sind“. Er spürt irgendwie, dass sie Handelnde eines Stücks sind. Frodo bestätigt: „Ich wundere mich auch“. Wir sind ausführende Charaktere, wir spielen eine Rolle in einem großen Drama, dass irgendwie schon aufgeschrieben ist. Doch er fügt hinzu: „Aber ich weiß es nicht. Und so ist es bei allen wahren Geschichten… Man mag vermuten, in was für einer Geschichte man sich befindet – ob nun mit glücklichem oder traurigem Ende. Doch die Menschen in der Geschichte wissen dies nicht.“

Christen wissen, wer der Autor der Geschichte ist, und sie kennen auch das Ende der Geschichte – weil dieser Autor es ihnen mitgeteilt hat. Aber sie wissen nicht, was in ihrem Kapitel ‘auf der nächsten Seite’ ihres Kapitels noch kommen wird. Wie sollten sie auch?

Beitrag erschien auch auf: lahayne.lt

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Keine Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang