Hält sich das Bundesverfassungsgericht noch ans Grundgesetz?

 

Dumme Frage? Schließlich entscheidet das Bundesverfassungsgericht selbst darüber, was dem Grundgesetz entspricht und was nicht. Und seine Entscheidungen sind unanfechtbar. - Aber was passiert, wenn das Gericht, z. B. in verschiedenen Senaten, Entscheidungen trifft, die sich widersprechen? Wer beurteilt dann, was stimmen soll? Schließlich können zwei entgegengesetzte Auffassungen nicht gleichzeitig richtig sein.

Veröffentlicht:
von

 

Mit einer Entscheidung vom 6.6.2011 ist dieser Fall eingetreten. Es handelt sich zwar nicht um ein Urteil, sondern „nur“ um einen „Nichtannahmebeschluss“, der nur von drei Richterinnen/Richtern gefasst wird. Aber er enthält Begründungen, die der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts klar widersprechen, wenn die einfachen Gesetze der Logik zugrunde gelegt werden.

 

Es ging um die Höhe des Elterngeldes eines 2007 geborenen Kindes für eine Mutter, die bereits 1999, 2002 und 2004 Kinder geboren hatte, deshalb im Jahr vor der letzten Geburt nicht erwerbstätig war und aus diesem Grund mit dem Grundbetrag von 300 €/Monat abgespeist wurde. Sie strebte die Zugrundelegung ihres Einkommens vor Geburt des ersten Kindes an.

 

Zur Veranschaulichung der sich widersprechenden Entscheidungen können hier nur Auszüge wiedergegeben werden. Der volle Wortlaut ist jeweils problemlos unter „Entscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts im Internet nachzulesen.

 

Zitat aus dem Urteil vom 10. Nov. 1998 (2 BvR 1057/91 u.a.):

Erster Leitsasatz:

Art. 6 Abs. 1 GG enthält einen besonderen Gleichheitssatz. Er verbietet, Ehe und Familie schlechter zu stellen. Dieses Benachteiligungsverbot steht jeder belastenden Differenzierung entgegen , die an der Existenz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) oder die Wahrnehmung des Elternrechts in ehelicher Erziehungsgemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) anknüpft.“

 

Zitat aus der Entscheidung vom 6.6.2011 (1 BvR 2712/09); unter Rn 8:

... Das Elterngeld hat einkommensersetzende Funktion. Während der Elternzeit erwirtschaftet der betreuende Elternteil kein ersatzfähiges Einkommen Ein Einkommen dieses Ehegatten konnte die Erwerbssituation der Familie nicht prägen, sodass sich nach der Geburt eines weiteren Kindes das Familieneinkommen nicht aufgrund der neuen Betreuungssituation verschlechtern konnte. ...“

 

Dass das von der Mutter wahrgenommene Recht auf Erziehung ihrer bereits vor der Geburt 2007 vorhandenen drei kleinen Kinder gemäß Art. 6 Abs. 2 GG geschützt ist, wird auch vom Gericht bejaht. - Es ist aber unbestreitbar, dass die Mutter wegen der Wahrnehmung ihres Elternrechts ein niedrigeres Elterngeld erhielt, als eine vor der Geburt kinderlose Frau, die wegen des Fehlens von Kindern voll erwerbstätig sein konnte. Diese Ungleichbehandlung wird vom Gericht nicht beachtet, geschweige denn ein rechtfertigender Grund dafür angegeben. Es wird lediglich auf die „einkommensersetzende Funktion“ hingewiesen, die aber nicht wie z. B. beim Krankengeld oder Arbeitslosengeld durch zuvor erbrachte einkommensabhängige Beiträge zu rechtfertigen ist, da das Elterngeld steuerfinanziert ist. Wird das Urteil vom 10. Nov. 1998 zugrunde gelegt, ist die Einkommensbezogenheit des Elterngeldes zwangsläufig eine „belastende Differenzierung“ , die „an die Wahrnehmung des Elternrechts anknüpft“ und daher „verboten“ ist. Das wird in der Entscheidung vom 6.6.2011 glatt übersehen.

 

Die an die Wahrnehmung des Elternrechts anknüpfende belastende Differenzierung ist auch nicht so geringfügig, dass sie vernachlässigt werden könnte. Aufgrund des Doktertitels der Beschwerdeführerin ist zu vermuten, dass sie vor der Geburt ihres ersten Kindes ein Einkommen bezog, das bei einer Erstgeburt zu einem Elterngeld von 1800 € /Monat geführt hätte. Sie erhielt aber nur 300 €. Damit resultiert im vorliegenden Fall eine „belastende Differenzierung“ aufgrund der „Wahrnehmung des Elternrechts“ im Verhältnis 1:6. - Die eigenartige Logik der Entscheidung „Wer durch Kinder ärmer geworden ist, kann es bei einem weiteren Kind auch bleiben“, dürfte schon für sich genommen mit Art. 6 unvereinbar sein.

 

Befremden muss auf diesem Hintergrund die Formulierung (Rn 4 der Entscheidung):

Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BverfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BverfGG genannten Rechte angezeigt, da die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet ist.“

 

Wenn das Einkommen im Jahr vor einer Geburt zur Grundlage für die Höhe des Elterngeldes gemacht wird, kommt es zu einer systematischen Benachteiligung fast aller Mehr-Kind-Eltern im Vergleich zu Erst-Kind-Eltern, da die erheblichen Unterschiede in den Lebens- und Erwerbsverhältnissen kinderloser Paare, wie sie vor einer ersten Geburt bestehen, und denen von Eltern, wie sie vor Geburt eines zweiten oder weiteren Kindes bestehen, unberücksichtigt bleiben. Die systematische Benachteiligung von Mehr-Kind-Eltern ist aber zweifellos von grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 93a Abs. 2 BverfGG. Selbst wenn das in der Verfassungsbeschwerde nicht erwähnt worden sein sollte, hätte das Gericht diesen einfachen Sachverhalt selbst erkennen müssen. Das ist von Belang für Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 und 2.

 

§ 90 Abs. 1 bezieht sich u. a. auf die Grundrechte der Bürger, schließt also die Art. 3 und 6 GG ein. Wenn die Verfassungsbeschwerde für „unbegründet“ gehalten wird, besteht ein eindeutiger Widerspruch zum Urteil vom 10. Nov. 1998. Wird hier nicht Klarheit geschaffen, setzt sich das Gericht dem Vorwurf der Beliebigkeit aus bzw. dem Vorwurf, sich opportunistisch an die Regierungspolitik anzupassen. Das wäre dann auch ein Abschied von der „Ewigkeitsgarantie“ für die Grundrechte.

 

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Gravatar: Gast

"Alle Macht geht vom Volke aus". Warum kontrolliert das Volk (also wir) nicht das Bundesverfassungsgericht?????

Gravatar: Gilgamesch

Weder die Richter noch die Politiker müssen sich an Gestze halten.
Richter sind der übergeorneten Institution untergeorndet und Weisungsempfenger.
Eine unabhängige Jurespundenz gibt es in BRD nicht. Ist zwar vom GG gefordert aber seit 60 Jahren nicht Realisiert.
Siehe die Seiten drb.de oder bund junger Richter. - Suche nach Selbstverwaltung auf diesen Seiten.
Der Rechtsstaat ist nicht vorhanden.
Deshalb sind auch alle Verfahren gegen die Kanzler nie zu Entscheidung angenommen worden. Selbst bei klarem bruch des GG.

Gravatar: Hans-Gerd Pelzer

So dumm ist die Frage nicht.
Meine Frage lautet: Warum gibt es ein Grundgesetz, wenn sich die Gesetzgebung immer weiter davon entfernt und das Bundesverfassungsgericht es ähnlich macht. Wurden bisher die Entscheidungen (Urteile)zu gunsten der Familien nicht umgesetzt, so werden heute die Urteile zu ungunsten der Familien gefällt. Ich zweifele die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichtet stark an.

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang