Haben UND Sein

Vor 30 Jahren starb der Psychologe Erich Fromm.

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Erich Fromm wurde am 23.3.1900 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Psychologie, Soziologie und Philosophie in Frankfurt, München und Heidelberg. Von 1925 bis 1929 machte er in München, von 1929 bis 1932 in Berlin eine Ausbildung als Psychoanalytiker. Seit 1930 arbeitete er in dem Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ (auch „Frankfurter Schule“ genannt) als Spezialist für Psychoanalyse. 1933 emigrierte er als Jude in die USA. 1938 brach Fromm seine Kontakte mit dem „Institut für Sozialforschung“ ab. 1951 erhielt er eine Professur für Psychoanalyse an der Universität von Mexiko City. 1968 siedelte Fromm in die Schweiz nach Muralto über, wo er am 18.3.1980 starb.

 

Fromm gehört zu den einflussreichsten Psychoanalytikern und Sozialpsychologen des 20. Jahrhunderts. Die Psychoanalyse ist für ihn nicht nur eine Methode zur Behebung von psychischen Krankheiten, sondern auch ein Weg zur Befreiung und Selbstverwirklichung des Menschen. Mit ihrer Hilfe soll sich der Mensch von allem, was ihn behindert, befreien. Sie hat ferner die Aufgabe, Vitalität, optimales Wachstum, Stärke und Produktivität des Menschen zu fördern.

 

Ein produktiver Mensch ist in der Lage, die Welt zu erfassen, und zwar „im Bereich des Gefühls durch seine Liebe, im Bereich des Denkens durch seine kritische und phantasiereiche Vernunft und im Bereich des Handelns durch seine schöpferische Arbeit und durch Kunst“.

 

Fromm bezieht sich in seinen Schriften auf einige Gedanken von Karl Marx, lehnt jedoch den orthodoxen Marxismus, der in den kommunistischen Ländern zur Staatsideologie wurde, strikt ab. Er erweitert den Marxschen Begriff der Entfremdung. Während Marx von der Entfremdung des Menschen zur Arbeit spricht, sieht Fromm die gesamte Gesellschaft als einen Entfremdungszusammenhang an. Die Entfremdung ist auch weit verbreitet im Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen, zu staatlichen Institutionen und zu Politik. Der Mensch betrachtet sogar sein eigenes Denken und seine eigenen Gefühle als ihm fremde Mächte. Die Aufgabe der Psychoanalyse ist es, diese Selbstentfremdung des Menschen aufzuheben.

 

Fromm beschäftigte sich zeitlebens mit Fragen der Religion. Religiosität spielt für ihn eine entscheidende Rolle im Prozess der Selbstbefreiung und Selbstverwirklichung des Menschen. Er hat gesehen, dass sich viele Menschen in unserer Gesellschaft von den großen Religionen, besser: religiösen Systemen, entfernt haben. Gleichwohl haben diese Menschen ein starkes Bedürfnis nach Religiosität. Fromm lehnt zwar den Monotheismus ab, hält aber an der Möglichkeit der Religiosität fest. Er spricht von nicht-theistischer bzw. atheistischer Religiosität, zu der folgende Erfahrungen gehören: die Freiheit von Angst und Gier, die Loslösung vom Ich, das Über-sich-selbst-Hinausgehen (Transzendenz); die Offenheit für die Welt, die Einheit des Menschen mit der Natur/Welt und die Liebe. Als Vorbilder dienen ihm einige Strömungen des Judentums und des Christentums (insbesondere die Mystik Meister Eckharts) sowie der Buddhismus.

 

In dem Buch „Haben oder Sein“ unterscheidet Fromm zwischen zwei Lebensorientierungen: dem Haben und dem Sein. Die erste Orientierung drückt sich im Streben des Menschen nach materiellen, aber auch immateriellen Gütern wie Wissen und Macht aus. Gier und Anhäufung von Gütern sind seine Merkmale. Die zweite Orientierung äußert sich im Streben nach Selbstverwirklichung, d.h. im Streben danach, die dem Menschen innewohnende Potenziale zu verwirklichen und seine Kräfte voll zu entfalten, wobei Formen der Selbstbeschäftigung wie Psychoanalyse und Meditation sowie ein liebevolles Verhältnis zu Mitmenschen eine wichtige Rolle spielen.

 

Für Fromm stehen die beiden Lebensorientierungen in einem Gegensatz zueinander. Doch hier muss an die Adresse von Fromm kritisch gefragt werden, ob Haben und Sein wirklich miteinander unvereinbar sind. Viele Menschen in unserer Gesellschaft können meines Erachtens die beiden Orientierungen sehr gut miteinander vereinbaren. Sie streben nach ihrer Selbstverwirklichung und haben dabei ein positives Verhältnis zu materiellen Gütern beziehungsweise zur Anhäufung von Eigentum. Sie beschäftigen sich auf produktive Weise mit sich selbst oder engagieren sich für andere Menschen, ohne auf das Streben nach Bereicherung zu verzichten. Der materielle Wohlstand, der die Orientierung am Haben voraussetzt, erscheint sogar als eine Bedingung für die Seins-Orientierung.

 

Literatur:

 

Fromm, E., Die Kunst des Liebens, 1956;

 

Fromm, E., Ihr werdet sein wie Gott, 1966;

 

Fromm, E., Haben oder Sein, 1976.

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Constanze Kikels

Dem kann ich nicht vollständig zustimmen.

Meines Erachtens erfüllt mich eine tiefgreifende Wohltätigkeit erst dann, wenn ich beim Geben entbehrt habe. Wenn ich aber Wohlstand habe, dann kann ich geben ohne mir darüber große Gedanken zu machen, ob ich mir das überhaupt leisten kann, also ich gebe ohne zu entbehren – ich kaufe mir sozusagen einen Heiligenschein und lassen mich feiern. Sicherlich gibt es Ausnahmen, die ihr Haben verantwortlich einteilen und damit der Gesellschaft dienen.

Auch sollte jeder einmal darüber nachdenken, dass Geben seeliger ist als Nehmen. Also wird den armen Menschen das Geben erschwert und es wird ihnen somit das wunderbare Gefühl des Gebens genommen.

Daher bin ich nach wie vor der Meinung, dass eine annähernd gleichmäßige Verteilung aller Güter auf dieser Erde erst zur Selbstverwirklichung der Menschen führt. Solange sich einzelne das Privileg herausnehmen, wird es Kriege und Zerstörung augrund der Ungerechtigkeit geben.

Eigentlich sollte uns allen klar sein, dass wir auf einer Erde wohnen, sich niemand aus dem Boot stehlen kann, dass wir mit leeren Taschen auf die Welt gekommen sind und diese auch mit leeren Taschen verlassen werden.

Ich empfinde das Leben auf der Erde als Schule, um den Umgang mit Natur und Mensch zu lernen bzw. zu vertiefen.
Davon sind aber noch sehr viele Menschen weit entfernt – der Ausgleich zwischen Geben und Nehmen.

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