Guthaben - Zur gewünschten Kultur der Trennung von Mutter und Kind

Michael Ende zeigt in „Momo“ eine Gesellschaft unter der Herrschaft von Zeitsparern. Eine Gesellschaft auch, in der es die Kinder schlecht haben: „Sie hatten niemand, der ihnen so zuhören konnte, dass sie davon gescheit, versöhnlich oder gar froh geworden wären. Niemand schien zu merken, dass er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen bekamen es die Kinder, denn für sie hatte niemand mehr Zeit. Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.“

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In einem Vortrag gab Katharina Spieß, Professorin für Familien- und Bildungsökonomie, den folgenden Ratschlag zum Verbleib der Kinder gut ausgebildeter Mütter:  

„Es würde zu mehr Ungleichheit kommen, wenn die gut ausgebildeten Mütter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen.“  

Diese implizite Empfehlung einer Trennung von Müttern und Kindern beschäftigte mich zunächst deshalb, weil sie mir ein Déjà-vu bescherte. Plötzlich war er wieder da, der kalte Schauer, der mich damals überkam, als ich las, wie die grauen Herren Momo ihre Freunde, die Kinder, wegnahmen. Doch zunächst beleuchte ich hier das Zitat von zwei Blickpunkten aus: Der Sicht der steuerzahlenden Familie und darüber hinaus noch aus der Perspektive der Menschlichkeit. 

Die Trennungsempfehlung aus Sicht der Steuer zahlenden Familie

Die Familie, die von einem Einkommen lebt, zahlt dem Staat Monat für Monat Steuern zur Finanzierung des Gemeinwesens. Dazu zählt auch die öffentliche und insbesondere ganztätige Betreuung von Kindern aus Familien mit zwei Erwerbseinkommen. Natürlich verknüpfen die Geldgeber ihre Zahlungen mit der Erwartung eines optimalen Einsatzes der Mittel. Es ist deshalb grundsätzlich zu begrüßen, dass es Forschungseinrichtungen für die Ermittlung und Abwägung des optimalen Ressourceneinsatzes für die Betreuung und Bildung von Kindern gibt.

Das Ziel von bildungsökonomischen Anstrengungen ist nach dem Aufsatz Friedhelm Pfeiffers,  „Entwicklung und Ungleichheit von Fähigkeiten: Anmerkungen aus ökonomischer Sicht“ , eine Optimierung der Rendite von Bildungsausgaben. 

Die Frage, die sich nun stellt ist, ob Frau Spieß eine solche Optimierung überhaupt anstrebt. Laut dem Bericht „Mangelware Kind“ vom 13.09.2010 in der FAZ, dem Stefan Fuchs das Zitat entnahm, ist das der Fall. Dort liest man: „Sie (Anm.: Spieß) befürwortet den breiten Ausbau frühkindlicher Betreuung in Krippen, weil damit Bildungschancen erhöht und gleicher würden.“ Das Wort „erhöht“ und auch die Berufsbezeichnung Bildungsökonomin suggerieren ein optimierendes Ansinnen. Denkt man nun darüber nach, wie es sein kann, dass sich hier eine ökonomische Entscheidung zur Optimierung von etwas Gutem, nämlich dem Einfluss gut ausgebildeter Mütter, abkehren möchte, so stößt man auf ein ganz anderes Novum. Bizarrer Weise aber handelt es sich zunächst einmal keineswegs um eine volkswirtschaftliche Absurdität sondern um ein von mir schon lange erwartetes Zugeständnis wenigstens einer einzigen Vertreterin des Gender Mainstreaming. Frau Spieß gibt an dieser Stelle zumindest indirekt die segensreiche Wirkung von Zeit, die Mütter ihren Kindern schenken, zu. Sie erkennt es und deutet es an, das „Guthaben“ von Familien mit ausgebildeten Müttern, die ihrem Nachwuchs viel Zeit schenken.

Doch nun zurück zur Ökonomie: Ich erkenne keine Optimierung der Bildungschancen aller Kinder, wenn einer bestimmten Gruppe, gute Bedingungen bewusst entzogen und vorenthalten werden sollen. Dies gilt insbesondere, wenn es um die Reduzierung eines Bildungsangebots geht, das keinesfalls vom Staat sondern von den Familien privat mit dem entgangenen Erwerbseinkommen eines Elternteils finanziert wird. Ein Ansinnen, aber, welches „Guthaben“ vernichten möchte, kann grundsätzlich nur als unökonomisch bezeichnet werden. Verschärfend kommt hier noch hinzu, dass die verworfene elterliche Erziehungsinvestition dem Gemeinwesen nicht nur abhanden käme. Ihr künstlich konstruierter Ersatz würde der Öffentlichkeit auch noch Kosten verursachen (ca. 1.200 € pro Kleinkind und Monat).

Pfeiffer hingegen untersucht in seinem o.g. Aufsatz Bildungsinvestitionsströme in Deutschland auf der Basis einer Lebenszyklusbetrachtung. Er zieht Folgerungen für die optimale Entwicklung der kindlichen Fähigkeiten, um begrenzte Bildungsressourcen genau da einzusetzen, wo sie am wirksamsten sind. Die Fähigkeiten, die ein Kind im Laufe seiner Entwicklung erwirbt, heißen Humankapital. Dieses resultiert aus dem Mittel- und Kräfteeinsatz zunächst zweier und später dann dreier Investoren.

Empfängnis bis 6 Jahre: Kind, Eltern

Ab Einschulung: Kind, Eltern, Bildungsträger

Aus entwicklungspsychologischen Forschungsergebnissen schließt die Bildungsökonomie, dass die Rendite einer Investition mit dem Alter des Kindes abnimmt.  Oder umgekehrt ausgedrückt: Je früher im Leben des Kindes die Investition getätigt wird, desto nachhaltiger wirkt sie sich auf eine Mehrung seines Humankapitals aus. Den augenscheinlichen Machtbestrebungen von Frau Spieß über die Rahmenbedingungen der Kindererziehung in Deutschland käme folglich eine Vorverlegung des Einflusses der „Bildungsträger“ auf die Biografie jedes einzelnen Heranwachsenden entgegen. Dafür muss sie den Investor „Eltern“ in seine Schranken weisen. Das Wort „Machtbestrebung“ verwende ich in diesem Zusammenhang bewusst und aus gutem Grund, denn wie oben gezeigt, lässt sich die Trennung von Kindern und gut ausgebildeten Müttern keinesfalls ökonomisch erklären oder rechtfertigen.  

Die klassische Bindungsforschung nach John Bowlby hat natürliche eine ganz andere Terminologie, als die Bildungsökonomie oder auch die Entwicklungspsychologie. Allen gemeinsam aber ist das Bemühen um die Beschreibung dessen, was für die gemeine Hausfrau und Mutter und ihr männliches Pendent schlicht und einfach die Berufsausübung darstellt. Ich selber habe diesem Thema ein ganzes Buch mit dem Titel „nur – essay zum beruf“  gewidmet. Bei J. Bowlby ist die Rede von der primären Bindung; in der Bildungsökonomie ist  von einer der Investitionen in Humankapital die Rede. „Kompetenter Andere“ heißt der Erwachsene Investor bei dem Münsteraner Entwicklungspsychologen Manfred Holodynski.

Hier nenne ich dieses augenscheinlich schwer einzugrenzende Phänomen einmal „Guthaben“. Dieses wird beim wohlwollenden Zusammentreffen vom Kind und dessen Eltern generiert, wenn einer von beiden dem Kind zuverlässig und auf Dauer genau so viel Zeit, Einfühlsamkeit und tatkräftige Zuwendung schenkt, wie es braucht. Wichtig ist, dass dieses Guthaben im Miteinander generiert wird und somit keinesfalls auf das Kind beschränkt bleibt. Zunächst wächst und entfaltet es sich in der Familie, kommt dort allen Mitgliedern zu Gute. Wenn das Kind dann erwachsen ist, strömt die Rendite des „Guthabens“ seiner Ursprungsfamilie in die Öffentlichkeit. Der junge Erwachsene wird es mit der Aufnahme seiner diversen beruflichen und gesellschaftlichen Ämter manifestieren.

K. Spieß begründet die von ihr gewünschte Kultur der Trennung von Mutter und Kind mit einem zweiten Wert, dem der Gleichheit. Es sieht fast nach einer Angleichung aller an das Niveau des „Schlechthabens“ aus. „Guthaben“ muss „Schlechthaben“ weichen, weil nicht alle es gut haben. Das weist auf ein Menschenbild hin, welches nicht am Wohle des Einzelnen, sondern vielmehr am Realisieren abstrakter Ideen orientiert ist. Verwunderlich ist das deshalb, weil Frau Spieß die CDU berät, die ja auf Grund ihres Namens den Eindruck erweckt, christlich zu sein. Christen wären schon allein wegen des Gebots der Nächstenliebe eher dazu geneigt, sich für das „Guthaben“ aller stark zu machen, indem sie teilen. Und genau das mahnte Christine Haderthauer, die bayerische CSU-Familienministerin, in einem Radiointerview indirekt an: „Wenn wir weiterhin die elterliche Erziehungsleistung sehr stiefmütterlich behandeln, …, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass auch die Qualitätsdebatte, wenn die Erziehung außerhalb der Familie stattfindet, nicht ganz auf dem Laufenden ist.“ 

Wahrscheinlich möchte Frau Spieß auf einen Streich der Ungleichheit und dem von ihr so schwer zu kontrollierenden bürgerlichen Rückzug ins Private beikommen. Diese Win-Win-Situation wird aber nicht zu Stande kommen. Es wird ihr nicht gelingen, gleichzeitig ökonomisch und gerecht zu sein. Sie hat die Wahl zwischen „win-loose“ oder “loose–loose“. Wenn das Kind im Vorschulalter den kompetenten und fast immer verfügbaren Anderen hat, liegt der volkswirtschaftliche Gewinn in einer hohen Rendite der elterlichen Investitionen in seine Entwicklung. Diese Rendite stellt sich mit der o.g. Zeitverzögerung für die gesamte Gesellschaft ein. Der Verlust, -  lässt man das „Guthaben“ durch Mütter, die Zeit verschenken möchten, zu - liegt in der Ungleichheit der Lebensbedingungen von Kindern. Manche verfügen über kein oder wenig familiäres „Guthaben“, manche über viel. Hier gebe ich Frau Spieß aus ganzem Herzen Recht: Es ist tatsächlich eine eklatante Ungleichheit, wenn Kinder ihre primäre Bindungsperson tagtäglich und den längsten Teil ihres Tages missen müssen und andere nicht.  

Hat kein Kind im Vorschulalter alltags seine primäre Bindungsperson, so geht es – nach Spießens Hoffnung – gerecht zu. Die Rendite der Gesamtheit der Bildungsinvestitionen wird jedoch leiden. Aber sogar unter diesen Umständen würde ich vor einer vorschnellen Hoffnung auf Gleichheit warnen. Nehmen wir an, es gelänge den einschlägig bekannten Gesellschaftsingenieuren tatsächlich, die häusliche und alltägliche Erziehung von Kindern durch ihre Mütter zu verbieten und eine Krippen- sowie Kindergartenpflicht einzuführen. In diesem Fall würden sich entsprechend der Höhe des Erwerbseinkommens der schlecht bis gut ausgebildeten Eltern schlechte bis gute Einrichtungen für den Ersatz des kompetenten Anderen ausprägen und die o.G. Ungleichheit vor sich her treiben, statt sie zu beseitigen.

Eine solche Ungleichheit wäre dann noch unerträglicher weil, sich hier zusätzlich die finanzielle Ausstattung der Familie auswirkte. Einer der erfreulichen Befunde von Pfeiffer war nämlich, dass der Geldbeutel der Eltern in der Vorschulzeit keinen Einfluss auf die Qualität der elterlichen Investitionen hat: „Im Kindesalter ist die Qualität der sozio-emotionalen Ressourcen, die elterliche Fürsorge, entscheidend, nicht die Höhe der finanziellen Ressourcen.“

Wenn Uta Meier-Gräwe schreibt: „Die Forschung belegt, dass die „Stärkung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen ein kostengünstiges und wirkungsvolles Angebot zur Prävention von Kindeswohlgefährdung bzw. Vernachlässigung ist (Fegert 2005).“, dann gibt es doch keinen Zweifel mehr an einer optimalen Investitionsstrategie.   

Die Trennungsempfehlung aus der Sicht der Menschlichkeit

Das Interesse einer Gesellschaft beschränkt sich aber nicht allein auf den optimalen und gezielten Einsatz von Bildungsressourcen. Auch die Kultur des „Guthabens“ in der Gesellschaft, die Lebensqualität, die durch den Umgang miteinander entsteht, ist von großer Wichtigkeit.

Diese kann mit den Allegorien des literarischen Kunstwerks wunderbar illustriert werden. Liest man „Momo“, so mag man meinen, Michael Ende lebte noch und hätte den Roman jetzt gerade aus dem Erleben der aufkommenden Herrschaft der entmündigenden Sozialingenieure heraus geschrieben. Das Buch erschien aber bereits 1973, als noch keiner wissen konnte, dass sie tatsächlich zur Tat schreiten würden, die grauen Herren: „Sie (Anm.: die grauen Herren) hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weit gesteckte und sorgfältig vorbereitete Pläne.“ Momo vermochte es, das Beste aus jedem Menschen herauszuholen, indem sie ihm großzügig ihre Zeit schenkt und so lange zuhörte, bis sich die Welt eines jeden in dieser Liebe ordnete. Die grauen Herren gaben in ihrer Stadt vor, in einer Zeitsparkasse die Zeit, die ihre Opfer einsparten, zu verwalten und zu mehren. Tatsächlich waren es aber Diebe, die die Zeit ihrer Opfer stahlen, um selbst davon zu leben. Momo, nachdem sie zunächst miterleben musste, wie sich ihre Freunde den Grauen unterordneten und dabei sich selbst und die eigene Kultur des „Guthabens“ verrieten, gelang es mit von zwei Verbündeten, den Menschen ihre Zeit zurückzuerobern. Am Ende war sie wieder hergestellt, die Welt, in der die Zeit Leben ist und geschenkte Zeit zum „Guthaben“ aller wurde.

Natürlich waren auch unter der Herrschaft der grauen Herren Kinder gefährliche Zeitfresser und Störer der perfekten Kälte des Zeitsparens.

DIE WELT titelte neulich: „Kinder gefährden die Karriere ihrer Mütter!“ In Momo heißt es: „“Kinder“, erklärte der Richter, „sind unsere natürlichen Feinde. Wenn es sie nicht gäbe, so wäre die Menschheit längst ganz in unserer Gewalt. Kinder lassen sich sehr viel schwerer zum Zeitsparen bringen als alle anderen Menschen. Daher lautet eines unserer strengsten Gesetze: Kinder kommen erst zuletzt an die Reihe. …““ (S. 128) In der Welt der Grauen wurden sie kurzerhand gesammelt und in Kinderdepots verbracht, wo man ihnen Nützliches lehrte.

Ich habe den Verdacht, dass die Sehnsucht nach einer Kultur der Trennung von Mutter und Kind, die ehrgeizigen Bemühungen um eine Krippen- und Kita-Pflicht keineswegs ökonomischer Natur ist, sondern mit der nachfolgenden Bestrebung der grauen Herren vergleichbar sein könnte:  

„Dieses Mädchen ist angewiesen auf seine Freunde. Sie liebt es, ihre Zeit anderen zu schenken. Aber überlegen wir einmal, was aus ihr würde, wenn einfach niemand mehr da wäre, um ihre Zeit mit ihr zu teilen. Da das Mädchen freiwillig unsere Pläne nicht unterstützen wird, sollten wir uns einfach an ihre Freunde halten.“

Bitte meine Damen und Herren aus den sozialtechnischen Fakultäten, ziehen Sie sich ihre wärmsten grauen Westen an und wappnen sie sich gegen den Mut und das Durchhaltevermögen der heutigen Momos. Wir werden darum kämpfen, unseren Kindern Zeit zu schenken und uns mit Meister Hora verbünden, dem Herren über die Zeit, die Leben ist. Denn aus Liebe verschenkte Zeit im Diesseits wird sich im Jenseits in Ewigkeit wandeln. Und das, Frau Spieß, ist die einzige wirklich bedeutsame Rendite.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Katholik

Ein sehr spannender Beitrag, gerade auch, weil Sie sich auf die Denke der "Ökonomie" einlassen. In Zeiten, in denen alles nur noch unter Renditegesichtspunkten durchdacht wird, ist es leider sehr notwendig geworden, die wichtigen "traditionellen" Anliegen und ihre (leider oft wenig geschätzten) positiven gesellschaftlichen und makroökonomischen Wirkungen auch in dieser "Sprache" verständlich zu machen. Das ist Ihnen mit Ihrem Beitrag sehr gut gelungen, Frau Selhorst! Danke dafür.

Gravatar: Constanze Kikels

auch ich möchte Ihnen danken, Frau Selhorst.
Ich denke, wir befinden uns gerade alle auf dem globalen Wandlungsprozess. Wir erleben zur Zeit noch das Festhalten an alten längst überholten Strukturen. Aber das Neue läßt sich nicht mehr aufhalten.
Ich glaube nicht mehr, dass die Kinder den Eltern, Müttern, noch grundlegend über Jahre hinaus entzogen werden können.

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