Glaubens- und Gewissensfreiheit: Ein teures Gut

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Os Guinness. The Global Public Square: Religious Freedom and the Making of a World Safe for Diversity. IVP: Nottingham, 2013. 241 Seiten. Euro 7,40 (Kindle-Version).

Guinness‘ Vermächtnis: Ein Weckruf

Shame, then, on the people of Switzerland, who in an open violation of freedom of religion and belief, voted in 2009 to forbid the construction of minarets within their borders. But shame too on the leaders of Saudi Arabia who give millions for the construction of mosques all around the world, yet forbid the building of churches and other religious buildings within. (145)

Danke, Os Guinness, für dieses aufrüttelnde Buch. Kaum habe ich es aus der Hand gelegt, drängt es mich, etwas darüber zu schreiben. Weshalb? Os Guinness hat mir die Dringlichkeit des Anliegens deutlich vor Augen gemalt. Ebenso hat er mir die Last aufgelegt, die in Erinnerung gerufenen Prinzipien der nächsten Generation weiterzugeben. Also mache ich mich daran, meine Gedanken schriftlich zu ordnen.

Guinness war an der „Global Charter of Conscience“ beteiligt, die im Anhang des Buches abgedruckt ist (und hier online eingesehen werden kann). Die Charta ist eine Erneuerung und Aktualisierung von Art. 18 der „Universal Declaration of Human Rights“. Es geht um Glaubens- und Gewissensfreiheit für jeden Menschen. Ähnlich wie bei seinem 2014 veröffentlichten Buch „Renaissance“ dient das Werk als Begleiter einer Erklärung und – wie ich denke – gewissermassen als Teil von Guinness‘ Vermächtnis. Von einem jungen Interviewer an der Universität gefragt, in welcher Generation er am liebsten leben würde, gelangte er zum Schluss: In der des Interviewers. Es stünden so viele weitreichende Entscheide an: Wirtschaftliche, technologische, demografische, soziale, politische, medizinische, umwelttechnische. Guinness hat sich selbst nie in den Elfenbeinturm zurückgezogen. Nicht nur stellte sich Guinness an Universitäten Fragen und Kontroversen. Er bekam während der sechsmonatigen Entwicklungszeit der „Global Charter of Conscience“ immer wieder Todesdrohungen.

Guinness richtet sein Buch an jedermann auf diesem Planeten, der sich nach Friede und Gerechtigkeit sehnt und eine Sicht dafür entwickeln möchte (20). Im Speziellen gehen seine Worte an Politiker und Amtsträger jeglicher Couleur. Guinness legt auch in diesem Buch die Karten offen auf den Tisch: Er schreibt als Nachfolger von Jesus.

Die Freiheit der Seele steht auf dem Spiel

Nun aber der Reihe nach. Was hat mich aufgewühlt? Es geht um die Grundsatzfrage:

Wie können wir künftig mit unseren grundlegenden religiösen und ideologischen Unterschieden leben, gerade wenn diese Unterschiede Teil unseres gemeinsamen öffentlichen Lebens sind?

Es geht darum zu erkennen, ob wir Grund haben, an die Würde jedes einzelnen Menschen zu glauben. Zweitens gilt es einen Weg zu suchen, zusammen trotz und mit den tief greifenden Unterschieden zu leben. Drittens muss es einen gegenseitigen Umgang geben, um Differenzen öffentlich zu diskutieren und mit Argumenten eher als mit Gewalt zu überzeugen.

Um diese drei Bedingungen zu erfüllen, braucht es vor allem eines: Das Zugeständnis „seelischer Freiheit“ (soul freedom, Ausdruck von US-Gründervater Roger Williams, 1603-1683). Freiheit der Seele ist die positive Antwort auf drei der grössten Fragen der kommenden 100 Jahre, nämlich (siehe S. 16)

     

  1. Wird der Islam zu einer friedlichen Modernisierung imstande sein?
  2. Welcher Glaube wird den Marxismus in China ersetzen?
  3. Wird der Westen seine Wurzeln weiter lockern oder wird er sich erholen?
  4.  

Wo Freiheit der Seele besteht, gedeihen Friede, Stabilität, Grosszügigkeit, Unternehmertum – kurz die Wohlfahrt einer Zivilgesellschaft. Leider zeigt der Trend weltweit in eine andere Richtung. Im Westen gefährdet aggressiver Atheismus und die unglückliche Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Leben gerade diese essentielle Freiheit. Errungenschaften der letzten Jahrhunderte stehen damit auf dem Spiel.

Sieben Evaluationsschritte

In sieben Schritten evaluiert Guinness die gegenwärtige weltweite Situation der Glaubens- und Gewissensfreiheit.

     

  1. Die gebildeten westlichen Eliten müssen ihre Vorurteile gegenüber Religion überwinden. Denn wo Religion abgewertet wird, wird auch die Religionsfreiheit beschnitten. Man mag Religion als stupide oder reaktionär bezeichnen, doch soll niemand deren Platz in der Geschichte und im Leben von Menschen unterschätzen! Religion berührt die tiefsten Wurzeln von Sinn und Zughörigkeit, welche das Leben lebenswert machen. Wissenschaft kann diesen Sinn niemals gleicherweise adressieren (31). Glaubens- und Gewissensfreiheit gilt für Nicht- und Antireligiöse ebenso wie für Gläubige jeder Richtung. Säkularisierte Menschen müssen jedoch daran erinnert werden, dass auch sie Grundüberzeugungen in sich tragen! Stolz, Verachtung und Vorurteile sind nicht nur in totalitären regierten Ländern, sondern auch unter den westlichen Bildungseliten zu finden. Dies gefährdet die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die jeglicher Machtverteilung und jeglichen Gesetzen vorausgehen sollte.
  2. Wir müssen anerkennen, dass die weltweite religiöse und ideologische Situation von grosser Fragmentierung geprägt ist. Wir müssen lernen, gerade mit diesen grundlegenden Unterschieden unser Zusammenleben zu gestalten.
  3. Die Priorität der Frage nach Gewissens- und Religionsfreiheit muss neu gesetzt werden, und zwar zum Wohl des Menschen und der Menschheit generell. Dieses Recht stellt den Litmustest für alle anderen Rechte und Freiheiten dar.
  4. Die Gewissens- und Glaubensfreiheit wird im Westen auf 1000 verschiedenen Wegen unterwandert und zerstört. Die scheinbar unproblematischen Einzelfälle sorgen in ihrer Gesamtheit dafür, dass das Grundrecht ausgehöhlt wird.
  5. Es gibt zurzeit zwei dominierende Modelle: Auf der einen Seite das Modell der „nackten Öffentlichkeit“, das sämtliche Religion und religiöse Äusserungen aus dem öffentlichen Raum verbannt. Auf der anderen Seite wird in manchen Ländern eine Religion bevorzugt und dafür andere religiöse Überzeugungen massiv benachteiligt und unterdrückt.
  6. Es muss anerkannt werden, dass manche zeitgenössischen Antworten auf die weltweiten Herausforderungen ein Schritt in die falsche Richtung sind. Guinness erwähnt zum Beispiel die Taubheit des wissenschaftlichen Materialismus, sich selbst als ein System mit religiösen Vorannahmen zu erkennen, das einen bestimmten Glauben voraussetzt.
  7. Guinness betätigt sich nicht als Schwarzmaler, obwohl er als Sozialkritiker manche Fehlüberlegungen und –entwicklungen anprangert. Er bleibt nicht in der Analyse stecken, sondern skizziert neue Denkansätze und Handlungsempfehlungen:
  8.  

Wie sieht der öffentliche Raum unter Wahrung der Gewissens- und Religionsfreiheit in Zukunft aus?

     

  • Es gibt keine bevorzugten Glaubenssysteme. Geschützt sind nicht Glaubensinhalte, sondern die Gewissen der Glaubenden!
  • „Civility“ beschreibt eine klassische Tugend, die ihre Bürger befähigt, öffentlich Differenzen zu diskutieren, zu debattieren und zu verhandeln.
  • Der öffentliche Diskurs muss Abstand von Machtspielen nehmen zurück zur Überzeugungsarbeit finden. Bürger als „…phob“ zu brandmarken, gehört eben zu diesem Repertoire an Machtspielen!
  • Die neue Political Correctness erstickt die Gewissens- und Glaubensfreiheit. Sie sägt letztlich an dem Stamm, auf dem sie selber sitzt.
  • Es ist legitim, für moralische Überzeugungen hinzustehen und sie öffentlich zu diskutieren. Der postmoderne moralische Relativismus hat hier fälschlicherweise eine Gefahr gewittert.
  • Überzeugungsarbeit ist nicht nur unter säkularen Bedingungen zugelassen. Die Säkularisten gebärden sich als Platzherren, haben aber nicht verstanden, dass sie selbst der Leitreligion ihrer Umgebung angehören.
  • Die Öffentlichkeit muss nicht als Platz für den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ verstanden werden. „Interreligiösen Dialog“ oder „ökumenische Einheit“ anzustreben, reicht nicht aus.
  • Ebenso falsch ist die Annahme, dass alle gleich sein müssten z. B. im ökonomischen Sinn. Diese Gleichmacherei hat in den letzten Jahrzehnten die gewaltigsten Repressionen und Verfolgungen ausgelöst.
  • Das Recht Beliebiges zu glauben bedeutet nicht, dass alles, was jemand glaubt, recht ist. Es ist auch ein Recht zu irren und seine Meinung ändern zu dürfen.
  •  

Was muss ich korrigieren?

Zuerst, so merkte ich, brauchte es bei mir ein Erwachen. Ich sitze gemütlich in meiner Wohnung und gehe unreflektiert davon aus, dass Glaubens- und Gewissensfreiheit ein selbstverständlich vorausgesetztes Gut wäre. Doch dem ist nicht so. Nicht nur wird es in China oder im Mittleren Osten mit den Füssen getreten. Auch bei uns wird es durch Hunderte scheinbar unbedeutender Massnahmen untergraben!

Zweitens sollte mir bewusst bleiben, dass in den säkularen Regimes der letzten 100 Jahre mehr Menschen getötet wurden als in allen religiösen Unterdrückungen zuvor. Wir brauchen uns nichts vorzumachen: Ignoranz, Stolz und Vorurteile der westlichen Bildungseliten gegenüber Religion gefährden die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Viele hochgebildete Menschen sind Experten in der Verurteilung von Religionen, aber Novizen in der Fragen, wie mit ihnen umzugehen ist (43).

Drittens muss ich anerkennen, dass für Religions- und Gewissensfreiheit gerungen worden ist. Es geht um hart erkämpfte Vereinbarungen, also kaum um Lösungen, die in luftigen Visionen im Sessel skizziert worden sind. Wir werden also auch in Zukunft hart um Lösungen ringen müssen.

Bei der Gewissens- und Religionsfreiheit gibt es keine favorisierten Überzeugungen oder geschützte Glaubenssysteme. Nicht der Inhalt eines Glaubens, sondern das Gewissen des Glaubenden ist geschützt. Das bedeutet: Wenn ich jemandem, der über völlig andere Überzeugungen verfügt, dieses Recht zugestehe, schütze ich damit ein mir teures Gut.

Fazit

Wie in anderen Büchern verwendet Guinness das Stilmittel der Wiederholung. Sie durchzieht auch dieses Werk wie eine Art Echo. Guinness fragt am Ende jedes Kapitels: Was sagt uns die Tatsache, dass die Universelle Erklärung der Menschenrechte heute nicht mehr wie 1948 unterzeichnet werden könnte? Was bedeutet es, dass die Ideen-, Gewissens- und Religionsfreiheit sogar in den USA mit ihrer einzigartigen Geschichte der Freiheit massiv beschnitten wird? Konkret:

Are all doctors who disagree morally with abortion or assisted suicide going to be required to obey the law or give up medicine? Will teachers who object to homosexual practice be required to affirm and celebrate it as a matter of justice in their classrooms or retire from teaching? Will universities refuse recognition to religious groups who refuse to abandon religious criteria in their selection of their own leaders? Will laws be passed requiring employers to provide free abortions for their employees? Will Western governments refuse to provide grants to international religious NGOs that refuse to favor the agenda of the new sexual orthodoxy in the developing world? Will parents lose their rights to shape their children’s values over against the state’s values, as Richard Dawkins and others have proposed? (175)

Wir brauchen dringend mutige Schritte, um das Erbe zu retten!

It is time for the West to look in the mirror and face up to its own hypocrisies first, and then to turn back to be true to its heritage and to stand firmly for its view of rights. (166)

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Kommentare zum Artikel

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Bauten für religiöse Zwecke sollten keine Privilegien haben bezüglich Standort, Höhe etc..
Meist gibt es keine Höhenbegrenzung. Versuchen Sie mal einen Wohnturm zu bauen. Gleichzeitig versuchen Sie, einen Turm für eine Kirche oder Moschee zu bauen in gleicher Höhe. Sie werden staunen, wie ungleich sie behandelt werden.

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