Glatze heißt nicht gut frisiert

Sexuelle Praktiken des Niedergangs. Im mexikanischen Bundesstaat Senora darf jetzt niemand mehr den Vornamen Unterhose bekommen, meldete die Presse.

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Auch Hodensack oder Beschneidung wurden föderal auf die Rote Liste gesetzt. Im Umkehrschluss heißt das wohl, dass dies im Rest von Mexiko sehr wohl möglich ist - und im Rest der Welt wohl auch. Die grenzenlose Freiheit des Individuums, Schaden anzurichten, solange es sich nicht gegen das politisch-ideologische System richtet, erschließt sich immer wieder neue Wirkungsgebiete. Eine solche so eigenwillige wie zeitgemäße Interpretation des Begriffs Freiheit ist eine „Errungenschaft“ der Aufklärung - und wer will heutzutage nicht aufgeklärt sein. Vielleicht der kleine Hodensack Müller, der zeitlebens eine kollektive Lachnummer sein wird. Freiheit ohne die dazugehörige Verantwortung richtet Schaden an - manchmal sogar bei dem mit seiner Freiheit überforderten Individuum selbst. Selbst und gerade wenn es um die intimsten Bereiche geht.

Pusteln, Pickel und Rasurbrand sind die geringsten Folgen der besonders in den USA und Deutschland grassierenden Mode der Intimrasur. Was heißt Mode? Das Entfernen der Körperbehaarung auch und gerade im Intimbereich ist für junge Menschen inzwischen schon Normalität. Was waren das für Zeiten, als der kleine Konrad Kustos in Tränen ausbrach, wenn er zum Friseur musste. Heute beweist der Mensch scheinbar seinen zivilisatorischen Fortschritt, indem er sich von animalischen Attributen befreit. Im Sinne einer natürlichen Ästhetik ist das allerdings so schön, wie es praktisch ist, nämlich gar nicht.

Trendbewusste interessiert das natürlich nicht, sondern höchstens die Frage, ob es der Brasilian-Hollywood-Cut (intime Vollglatze) oder der Brasilian Landing Strip (Intim-Irokese) sein soll. Eine schon einige Jahre zurückliegende Studie der Universität Leipzig unter Studenten ergab, dass 88% der befragten Frauen und 67% der Männer ihren Intimbereich modifizierten. In einer zweiten Erhebung gab es sehr ähnliche Ergebnisse: 67,7 und 69,7%. Als Motiv gaben die Befragten Schönheit, Hygiene und besseren Sex an.

Die unmittelbaren Ursachen liegen natürlich weder in der Entanimalisierung durch Haarentfernung noch in der Animalisierung durch besseren Sex begründet. Als wahrscheinlichste (Ver-)Ursache sehen die Experten den wachsenden Konsum von Pornofilmen. Dort wurde es vorgemacht, weil die Haare tieferen Kameraeinblicken im Weg waren. Und weil die Menschen des Niedergangs mangels eigener Erfahrung sich virtuellen Leitbildern so gerne beugen, fanden die männlichen Pornokonsumenten das schick und verlangten es von ihren Partnerinnen - was ganz sicher auch mit dem urmännlichen Bedürfnis nach sexueller Unterwerfung der Frau zu tun hat. Die Damen wiederum hatten anscheinend nichts Eiligeres zu tun, als diesem chauvinistischen Verlangen nicht nur nachzugeben, sondern es als eigenes ästhetisches Ausdrucksmittel für sich zu reklamieren.

Die Intimrasur entspricht also weder einer Notwendigkeit noch einem tatsächlichen Bedürfnis. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal bezeichnet das Schönheitsideal des enthaarten Intimbereichs als „imaginäre Norm". Ihre Untersuchungen hätten gezeigt, dass dies inzwischen viel mehr Menschen für normal halten als es selber zu praktizieren. Dazu passt, dass ein Teil der Statistiken über den Rasierungsgrad der Gesellschaft von Rasierklingenherstellern beauftragt sein sollen. Weil aber normalerweise alle irgendwie normal sein wollen, machen sie dann mit und stabilisieren den Trend. Gelebte Virtualität.

In einer Art gesellschaftlichen Dominospiels führte das dazu, dass sich bereits im Jahr 2009 laut Bravo 65% der Mädchen und 42% der Jungen zwischen elf und 17 Jahren die Schamhaare rasierten. Die häufigste Begründung: „Schamhaare sind eklig." Diese Einstellung kann aber auch nach hinten losgehen, dann liegt entblößt, was vielleicht gar nicht so attraktiv ist. Beispielsweise wenn die inneren über die äußeren Schamlippen ragen, was bei mindestens der Hälfte der Frauen der Fall ist. Doch für die Langlippenträgerinnen kein Problem: Intimschönheitschirurgen wissen sicher Rat.

Dass es auch andersherum gehen kann, zeigte sich, als die New York Times von der Rückkehr des unrasierten Intimbereichs schrieb. Prompt waren in den New Yorker Geschäften Schaufensterpuppen mit Schamhaar zu sehen. Dass der Trend kippen könnte, zeigt auch Madonna, die ein Foto von sich mit Axelhaaren veröffentlichte. Und schließlich legte Kate Winslet für den Film „Der Vorleser“ sogar ein Schamhaartoupet an.

Noch leben wir aber unter der Guillotine des Rasiermessers. Die Angst, ausgeschlossen zu werden, wenn man sich der scheinbaren Norm nicht beugt, ist nur ein weiterer Aspekt unserer fremdbestimmten Nicht-Leistungsgesellschaft: perfektes Aussehen, perfektes Auftreten, perfekte Intimfrisur. Auch hier spiegelt sich die wachsende Entfremdung vom eigenen Körper und der eigenen Individualität - paradoxerweise unter der Illusion, sich individuelle Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen.

Haare sind menschlich, und Enthaarung ist unmenschlich, so einfach ist das. Wie souverän die durch den Niedergang und die Übersexualisierung verunsicherten Menschen wirklich mit ihrer Sexualität und ihrem Körper umgehen, zeigt die extreme Prüderie gerade der jungen Generation beim Duschen im Schwimmbad und beim Sonnenbaden auf der Wiese. Vorbei die Zeiten der Nackten im Park, stattdessen behalten selbst Jungs beim Baden das T-Shirt an. Denn dort könnte ja jeder sehen, dass man es nicht mit Hugh Jackman aufnehmen kann. Der und seinesgleichen setzen schließlich die Norm in der virtuellen Gesellschaft. Ein Fan von Justin Bieber hat beispielsweise 100.000 Dollar dafür ausgegeben, wie der Popstar auszusehen. Die Operationen erstreckten sich über fünf Jahre.

Die Gesellschaft des Niedergangs ist eine narzisstische. Das Informationsangebot des Menschen ist so gewaltig, dass es dessen direkte Erfahrungen überschreibt. Die reale Welt verblasst, und der suchende Verstand des Menschen orientiert sich notgedrungen an einem virtuellen Schema. Je primitiver dabei sein Denken und Fühlen ist, desto mehr glaubt er, der Welt beweisen zu müssen, dass er vernunftbegabt ist und jede Primitivität überwunden hat. Was läge da näher, als sich seiner evolutionär gewachsenen Haare zu entledigen?

Diese Gesellschaft weckt Sehnsüchte, die nicht nur nicht erfüllbar, sondern auch nicht funktional sind. Die Bild-Zeitung berichtete von einer Gangsterbande, die ihre Einnahmen aus 29 Einbrüchen, zusammen 157.000 Euro, direkt zum Schönheitschirurgen transferierte.  Esra (21) ließ ihre Nase richten, Erkan (27) sich Botox spritzen, Dilan (23) vergrößerte ihren Busen, glättete die Augenlider und spritze sich die Lippen auf. Mit Schönheit hatte das ganze am Ende wenig zu tun, denn Esra hat jetzt eine Plattnase, Erkan sieht aus wie die türkische Version eines Weicheis und Dilan, als hätte das Lippenspritzen gleich noch für die Pausbacken mitgereicht. Doch der Wille zählt.

Zu den körperlichen und den ästhetischen Schäden kommen also noch die psychischen und sozialen Schäden hinzu. Dabei handelt es sich nicht nur um eine allgemeine Verunsicherung, sondern hat tiefe Auswirkungen auf den Lebensalltag. Ein besonders befriedigendes Beispiel dafür liefert „NoFap“, ein boomendes Forum für Computerfreaks, die beschlossen haben, nicht mehr mithilfe der 40 Millionen Porno-Pages im Internet zu masturbieren. Am Anfang schauten dort 20.000 Besucher pro Monat vorbei, 2013 waren es schon 400.000, nun ist die Bewegung gegen rhythmische Bewegung auch in Deutschland aktiv.

Sie berichten Beeindruckendes. Von der Intensität einer zärtlichen Berührung, von der Fähigkeit am Arbeitsplatz wieder mit den Kollegen zu kommunizieren, von befriedigenden sexuellen Begegnungen und von dem Moment, an dem jemand bewusst einfach wieder habe die Vögel singen hören. Die primitive und kurzfristige Reizüberflutung auf einfachstem Niveau verstellt anscheinend so viel mehr an komplexerer Lebensqualität. Von der der potentiellen Partnerinnen ganz zu schweigen.

Der Psychologe Philip Zimbardo hat zum Themenkreis „Masturbationssucht“ wissenschaftliche Fakten zusammengetragen. Danach führt das individuelle Abarbeiten einer eigentlich partnerbezogenen menschlichen Grundeigenschaft zu Schulversagen, Konzentrationsstörungen und Komplexen. Und der Gehirnanatom Gary Wilson ergänzt, dass Ersetzen von Sex durch Pornographie führe zu Einsamkeit, krankhafter Schüchternheit, Depressionen und Beziehungsunfähigkeit.

Ein japanischer Verband für sexuelle Aufklärung ermittelte dann auch in einer Studie, dass 40% der Studentinnen im Land der aufgehenden Sonne noch Jungfrau seien. 45% der Frauen erklärten, kein Interesse an sexuellen Kontakten zu haben. 35% der jungen Männer zwischen 16 und 19 gaben an, nicht an Sex interessiert zu sein oder ihn sogar ausdrücklich abzulehnen. Das sind doppelt so viele wie 2008. Jeder dritte Japaner unter 30 gab an, noch nie in seinem Leben ein Date gehabt zu haben.

Die Intimrasur können die sich also schon mal sparen. Die Wissenschaftler führen dies darauf zurück, dass Liebesbeziehungen nur noch virtuell in den Netzwerken stattfänden. Ein weiteres Problem sei die Auslastung im Beruf. All das führt dazu, dass Japan eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt hat. Man könnte sagen: Die Natur schlägt zurück.

Mehr von Konrad Kustos gibt es hier: http://chaosmitsystem.blogspot.de/

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Emil Kriemler

Kann Ihre Schelte nicht nachvollziehen.

Es gab historisch verschiedene Sitten und Gebräuche, die nicht eben sinnvoll waren.

Wespentaille, Schnürmieder, bis die Damen kaum mehr atmen konnten.
Füsse einbinden da kleine Füsse für (chinesische) Damen vornehm waren.

Heute Schlankheit bis zum krankwerden, obwohl viele Bilder der Models per Photoshop nachbearbeitet sind (bsp. Beine von Claudia Schiffer per Computerprogramm verlängert).

Nicht mehr ganz so aktuell der metrosexuelle Mann, damit die Kosmetik- und Modeindustrie auch endlich an den Männern verdienen kann.

Dass sich Leute heutzutage vor Haaren ekeln, erscheint mir durchaus eine Fehlentwicklung zu sein. Rasieren als Ersatz für Intimhygiene?

Mit Geschmacklosigkeit hat das nichts zu tun.
Die immer häufiger werdenden Maulkörbe aller Art zwecks politischer Korrektheit sind allerdings mittlerweile unerträglich,

Gravatar: Wolf Köbele

Auch wenn Herr Kustos Bart trägt, ferweist er sich in diesem Falle nicht als Philosoph. Besser hätte er als Bartträger geschwiegen. Wenige Blicke in Kunstgeschichts-Bildbände hätten ihn überzeugt, daß er gegen Windmühlen kämpft, wenn er die Schamrasur als Symptom der dekadenten Gegenwart bezeichnet. Und daß es die Künste sind, die sich damit abbildend befassen, über ästhetisches Bewußtsein verfügen, sollte ihn bescheiden von dem Vorwurf der "vorgeblichen Ästhetik" zurücktreten lassen. Die Kulturgeschichte erwähnt das Faktum für das Ägypten des 2.Jahrtausends v.u.Z. Für orthodoxe Juden sei es, wohl aus hygienischen Erwägungen heraus, vorgeschrieben gewesen (noch heute?), Sowohl in der Antike als auch in der frühen Neuzeit finden sich Beispiele (erinnert sei an den Lutherfreund Cranach d.Ä.), als bestimmend galt die Sitte bei der oberen Mittelschicht (so man diesen Begriff in diesem Zusammenhang abkürzend erlaubt) das ganze 18.Jahrhundert. Erst Courbets "La création du monde" schlug wie eine Bombe in die selbstgewisse Sicherheit ein. Aber das Bild hat gewiß nicht aus ästhetischen Gründen revolutionär gewirkt. - Insgesamt: "ein weites Feld". Freilich zu Weihnachten eine ganz eigene Geschmacklosigkeit, derer ich Herrn Kustos zuvor nicht für fähig gehalten hätte.

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