Geschlecht und Schuld

Seit Jahrzehnten wird Männern die Schuld an der angeblichen Misere der Frauen gegeben. Männern Schuldgefühle einzureden und sie zwecks „Wiedergutmachung“ einzusetzen, hat sich als eine effiziente Strategie der Frauenpolitik erwiesen. Eigentlich gäbe es ohne die Schuld der Männer keine Frauenpolitik und keine Gender Studies.

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Doch ist es gerechtfertigt, den Männern eine Kollektivschuld für tatsächliche oder angebliche Diskriminierung von Frauen zuzuschreiben? Ist das kompensatorische Argument haltbar, dem zufolge heute lebende Männer für die – meist in der Vergangenheit liegende – Diskriminierung von Frauen Wiedergutmachung leisten und dabei ihre eigene Diskriminierung in Kauf nehmen müssen? Sollten wir das Konzept der Kollektivschuld aufrechterhalten oder Schuld nur Einzelpersonen (Individuen) zuschreiben?

Die Frauenpolitik, die zwecks Täuschung der Öffentlichkeit auch „Gleichstellungspolitik“ genannt wird, zeichnet sich durch offene Bevorzugung von Frauen und offene Diskriminierung von Männern aus. So gibt es unzählige Förderprogramme, die nur Frauen vorbehalten sind. Diejenigen, die an diesen Programmen teilnehmen (Frauen), haben besser Chancen als diejenigen, die von ihnen ausgeschlossen sind (Männer). Die Gleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder stellen de facto Quotenregelungen dar, die Frauen bei der Stellenvergabe gegenüber Männern bevorzugen. Während in den Gleichstellungsgesetzen ein Qualifikationsbezug - wenigstens pro forma - genannt wird, fehlt er völlig in dem am 6.3.2015 vom Bundestag beschlossenen Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst. Frauen werden somit alleine aufgrund ihres Geschlechts gegenüber Männern bevorzugt. Die Gleichstellungsbeauftragten kontrollieren die Umsetzung der Frauen bevorzugenden Gesetze. Sie betreiben eine offene Lobby- und Klientelpolitik für Frauen.

Erstaunlicherweise wenden sich die allermeisten Männer nicht gegen diese Politik. Im Gegenteil: Viele von ihnen unterstützen sie aktiv. Für dieses Verhalten gibt es unterschiedliche Erklärungen. Eine dieser Erklärungen besagt, dass sich die meisten Männer dem Zeitgeist anpassen. Dabei glauben sie unkritisch den Berichten der Leitmedien über die angebliche Diskriminierung von Frauen. Diejenigen, die es nicht tun, akzeptieren wohl aus Angst, sich dem Zeitgeist zu widersetzen, die Direktiven der Gleichstellungspolitik. Viele Männer hoffen, dass sie von den Gleichstellungsmaßnahmen nicht getroffen werden und verharren im Schweigen.

Gemäß einer anderen Erklärung setzen sich Männer für die Gleichstellungspolitik ein, um selbst von ihr zu profitieren; sie erhoffen sich davon eine Sicherung ihrer Position und bessere Aufstiegschancen.

All diese Erklärungen gehen nicht in die Tiefe. Deshalb möchte ich einen anderen Erklärungsansatz verfolgen. Der Historiker Martin van Creveld behauptet, dass sich Männer für Frauen auch dann engagieren, wenn es ihnen persönlich oder ihrem Geschlecht schadet, weil sie damit eine Schuld zurückzahlen. Schließlich wurden sie von Frauen zur Welt gebracht und von ihnen erzogen: Die Stärke der Frauen ist das schlechte Gewissen der Männer.(1)

Man muss nicht so weit gehen und eine quasi angeborene, ins Metaphysische gehende Schuld der Männer zu suggerieren, um die besondere Rolle von Schuldgefühlen für soziales und politisches Handeln zu erkennen.

Was sind Schuldgefühle?

Schuld bezeichnet eine Emotion (Schuldgefühl), die aufgrund eines tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlverhaltens einer Person, das negative Folgen für andere Personen oder Gruppen von Personen hat, entsteht.(2) Aus dem Schuldgefühl heraus folgt meist der Wunsch nach Wiedergutmachung, nach dem Aufkommen für die Folgen des Fehlverhaltens.

Von Kollektivschuld spricht man, wenn Mitglieder eines Kollektivs aufgrund eines tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlverhaltens gegenüber Mitgliedern eines anderen Kollektivs Schuldgefühle empfinden.

Eine Person entwickelt ihre Identität als Individuum und als Mitglied von Gruppen. Kollektivschuld kann nur dann auftreten, wenn die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von einer Person stärker empfunden wird oder wichtiger ist als ihre Individualität, wobei Individualität in unserem Kontext nicht nur als Inbegriff von je eigenen Erfahrungen, Entwicklungen und Leistungen, sondern auch als das Bewusstsein von Freiheit, Autonomie und Eigenverantwortung zu verstehen ist. Ich werde auf dieses Thema unten genauer eingehen.

Ein besonderes Merkmal der Kollektivschuld liegt darin, dass sie von Gruppen-Mitgliedern empfunden werden kann, die mit den von ihrer Gruppe, genauer: von anderen Mitgliedern ihrer Gruppe in der Vergangenheit oder Gegenwart verübten Übeltaten nichts zu tun haben. Menschen, die Kollektivschuld empfinden, müssen keine Verantwortung für die Handlungen anderer Mitglieder ihrer Gruppe tragen.Warum empfinden sie dann überhaupt Schuldgefühle?

Sie durchlaufen den folgenden Prozess: Zunächst nehmen sie die Übeltaten wahr, die von Mitgliedern ihres Kollektivs verübt werden, Übeltaten, die darin bestehen, Mitgliedern anderer Kollektive zu schaden. Diese Übeltaten können sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart liegen. Im zweiten Schritt – und das ist der entscheidende Schritt – schreiben sie sich selbst die Verantwortung für die Übeltaten zu. Sie fühlen sich mitverantwortlich, weil sie zu demselben Kollektiv wie die Täter gehören. Sie teilen mit ihnen die Gruppen-Identität. Schließlich - „motiviert“ durch die Schuldgefühle – überlegen sie, wie sie das durch die Übeltaten verursachte Leid wiedergutmachen können.(3)

In der Psychoanalyse und anderen psychotherapeutischen Ansätzen Schuldgefühle als etwas Krankhaftes, etwas den Menschen Behinderndes, seine psychische Gesundheit negativ Beeinträchtigendes betrachtet.(4) Ein (psychisch) gesunder Mensch kann nicht aus Schuldgefühlen heraus handeln. In anderen Worten: Rationales, d.h. von irrationalen Gefühlen wie Schuld befreites, durch Ichstärke, Freiheit und Selbstbestimmung geprägtes Handeln kann sich nicht von Schuldgefühlen leiten lassen.

Im Gegensatz dazu haben Schuldgefühle in der Tradition des Sozialkonstruktivismus und der feministisch beeinflussten Sozialwissenschaft eine positive Funktion, aber offensichtlich nur dann, wenn sie Männer oder andere als mächtig eingestufte Gruppen betreffen. Sie sind „a motivating force for changing the state of intergroup relations ...“.(5)

„Indeed, attempting to make reparations for the wrongdoings of one´s group may be an important means of achieving a revitalized moral social identity. In that sense, a little collective guilt may be rather functional.“(6)

US-amerikanische Studien zeigen, dass je stärker das Erleben der Kollektivschuld, umso größer die Akzeptanz für „affirmative action“, also für die in den USA praktizierte Politik der bevorzugten Behandlung von als „geschädigt“ kategorisierten Gruppen.(7)

Schuldgefühle lassen sich demnach nützlich machen, besser: Sie lassen sich instrumentalisieren. Repräsentanten bestimmter Gruppen sind darin sehr geschickt, bei Repräsentanten anderer Gruppen Schuldgefühle zu erzeugen und sie für ihre Ziele zu benutzen. Schuldgefühle werden dazu benutzt, Vorteile zu erzielen und Machtpositionen zu sichern. Konkret dienen sie dazu, Maßnahmen zur bevorzugten Behandlung von als „geschädigt“ oder „benachteiligt“ eingestuften Gruppen zu etablieren. In Deutschland sind es hauptsächlich Gleichstellungsmaßnahmen wie die Frauenquote.

Schuldvorwürfe und Kollektivschuld

Um bevorzugte Behandlung und Privilegien für eine Gruppe zu erlangen, sind Mitglieder dieser Gruppe daran interessiert, Schuldgefühle bei Mitgliedern einer anderen, als „Täter“ auserkorenen Gruppe zu erzeugen. Sie wissen, dass Schuldgefühle eine wichtige motivationale Funktion haben und für ihre Belange instrumentalisiert werden können.

Eine besondere Rolle bei der Erzeugung und Stärkung von Schuldgefühlen spielen Schuldvorwürfe. Werden sie geschickt geäußert und eingesetzt, so führen sie meist zur Entstehung von Schuldgefühlen. Doch das alleinige Äußern von Schuldvorwürfen muss nicht notwendigerweise zur Entstehung von Schuldgefühlen führen. Weitere Faktoren sind hierfür erforderlich.

Zu ihnen gehört erstens die passive Haltung der Beschuldigten, die nicht willens oder nicht in der Lage sind, Schuldvorwürfe abzuwehren, d.h. ihre Berechtigung zu hinterfragen. Ein Paradebeispiel für diese passive Haltung ist das weitverbreitete „Schweigen der Männer“ gegenüber den ihnen von feministischer Seite gemachten Schuldvorwürfen. Allerdings ist hier die Frage berechtigt, ob diese Passivität nicht bereits eine Folge des schuldhaften Bewusstseins ist.

Von entscheidender Bedeutung für die Erzeugung und Stärkung von Schuldgefühlen ist meines Erachtens das wiederholte Äußern von Schuldvorwürfen, insbesondere wenn die Strategie der Wiederholung von mit Autorität, Macht und (angeblicher) Kompetenz ausgestatteten Instanzen verfolgt wird. Eine besonders unrühmliche Rolle spielen dabei die von Lobbygruppen beherrschten Leitmedien: Das gebetsmühlenartige Äußern von Schuldvorwürfen gegenüber Männern in den Leitmedien hat bei vielen von ihnen zur Herausbildung eines starken Schuldbewusstseins geführt.

Der häufigste und zugleich allgemeinste Schuldvorwurf gegenüber Männern lautet: Männer haben Frauen früher diskriminiert. Das „früher“ bezieht sich auf die Geschichte der Menschheit, die von Feministinnen als Geschichte des Patriarchats, also der Männerherrschaft, gedeutet wird. Die Diskriminierung von Frauen hat sich diesem Vorwurf folgend auf alle Bereiche der Gesellschaft erstreckt, vor allem auf die Arbeitswelt: Frauen konnten viele Berufe gar nicht ausüben oder in den von ihnen ausgeübten Berufen nicht aufsteigen.

Mit der Diskriminierung von Frauen in der Vergangenheit haben Männer Schuld auf sich geladen. Doch ist dieser Schuldvorwurf gerechtfertigt? Gründet er in einer wahrheitsgemäßen Erfassung der sozio-ökonomischen Verhältnisse vergangener Epochen? War die zwischen Männern und Frauen bestehende bzw. ausgehandelte Arbeitsteilung eine Folge absichtlicher Frauendiskriminierung? Lässt sich in der ganzen Geschichte der Menschheit oder in den einzelnen Epochen die Kollektivabsicht der Männer, Frauen zu diskriminieren, erkennen?

Martin van Creveld hat überzeugend belegt, dass Frauen in den vergangenen Epochen und in den uns bekannten Gesellschaften weniger und leichtere Arbeit als Männer geleistet haben. Darüber hinaus herrschte über Jahrtausende das Rollenbild, nach dem Männer Frauen zu beschützen und sie zu versorgen haben. Die schweren und gefährlichen Arbeiten wurden immer und überall für Männer reserviert:

„Schon im alten Ägypten wurden jährlich 100 000 Männer zwangsweise verpflichtet, die Pyramiden zu bauen, und kräftig ausgepeitscht, wenn sie sich nicht genug abrackerten. Männer, ob Kriegsgefangene oder durch Werber Eingezogene, bauten überall im alten Mittleren Osten Straßen, hoben Kanäle aus, errichteten Forts und bauten Tempel. Männer, nicht Frauen, bauten Chinas Mauer und starben dabei zu Tausenden. Unzählige Sklaven, aber nur wenige Sklavinnen, arbeiteten in den Silberminen von Laurion, denen das klassische Athen einen großen Teil seines Reichtums verdankte. Männer, nicht Frauen, mussten manchmal in den Mühlen, in denen das Korn gemahlen wurde, die Arbeit von Lasttieren tun.“(8)

Im Zuge der Industrialisierung, im sog. „bürgerlichen Zeitalter“, wurden Frauen aus dem Bürgertum, also aus der Mittelschicht, besonders stark privilegiert. Sie mussten weder im öffentlichen Bereich noch im Haushalt arbeiten. Für den häuslichen Bereich standen ihnen zahlreiche Haushaltshilfen zur Verfügung. Die Privilegierung von Frauen aus der Mittelschicht im bürgerlichen Zeitalter – eine der größten Privilegierungen einer gesellschaftlichen Gruppe in der Geschichte der Menschheit – wird heute von feministischer Seite paradoxerweise als Diskriminierung interpretiert, und zwar aus dem Grund, der die Privilegierung ausmacht: daraus, dass diese Frauen weitgehend nicht erwerbstätig waren.

Aber auch Frauen aus der Arbeiterklasse wurden in der Zeit der Industrialisierung gegenüber den männlichen Repräsentanten dieser sozialen Klasse privilegiert. Sie wurden von schwerer Arbeit, z.B. im Bergbau unter Tage, befreit. Die wenigen Frauen, die im Bergbau arbeiteten, waren keine richtigen Bergarbeiterinnen, sondern halfen über Tage, die Kohle zu sortieren und für den Abtransport vorzubereiten.(9) Ein Unternehmer schrieb damals:

„ ... die Freiheit, nicht arbeiten zu müssen, sei ´Gottes größtes Geschenk an die Frauen und ihr natürliches Geburtsrecht`, was, wie er hoffte, eines Tages gänzlich durchgesetzt würde.“(10)

Das gesellschaftliche Ziel war demnach, Frauen von der Last der Arbeit gänzlich zu befreien. Gleichwohl arbeiteten Frauen aus der Arbeiterklasse in der Regel im Haushalt. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Arbeit wesentlich leichter war als die der Industriearbeiter.

Auch heute noch verrichten fast ausschließlich Männer die schweren und gefährlichen Arbeiten. Im Bergbau, Bau- und Transportwesen sind Frauen – wenn überhaupt – sehr schwer zu finden. Außerdem arbeiten Frauen in allen Industrieländern wesentlich weniger als Männer.(11) Die Teilzeitarbeit ist eine Frauendomäne und wird nicht nur von Müttern, sondern auch von kinderlosen Frauen bevorzugt gewählt.

Die Versorgermentalität, nach der Männer nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Frauen und Familien in finanzieller und sozialer Hinsicht aufkommen müssen, hat sich trotz der Öffnung des Arbeitsmarktes für Frauen, der Propagierung von neuen Rollenbildern und des Karrierismus bis heute weitgehend durchgehalten.

Sie nimmt heute andere Formen an. Als wichtiger Versorger tritt dabei der zum größten Teil von Männern finanzierte Vater Staat auf.(12) Mit seinen Hilfs- und Fördermaßnahmen sowie Frauen bevorzugenden Gesetzen schafft er die Grundlage für umfassende und systematische Versorgung von Frauen.

Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden: Frauen wurden im Bezug auf das Arbeitsleben gegenüber Männern privilegiert. Sie hatten zwar keinen Zugang zu vielen Berufen, was jedoch kein Ausdruck von Diskriminierung war. Vielmehr sollten Frauen vor den Härten der Arbeitswelt geschützt werden. Es lässt sich daher bei Männern die Kollektivabsicht, Frauen zu diskriminieren, nicht finden. Was sich aber erkennen lässt, ist die Kollektivabsicht, Frauen besser zu behandeln, sie zu beschützen und für sie zu sorgen. Deshalb ist der Schuldvorwurf, Männer haben Frauen immer schon diskriminiert, unberechtigt.

Warum das kompensatorische Argumente unhaltbar ist

Mit Schuldvorwürfen ist aufs engste das sog. kompensatorische Argument verbunden. Es lautet: Da Männer Frauen in der Vergangenheit unterdrückt und benachteiligt haben, sollen sie das dadurch verursachte Unrecht wiedergutmachen, kompensieren.(13) Die Kompensation soll in der Regel mit Hilfe von Gesetzen und Maßnahmen erfolgen, die Frauen gegenüber Männer bevorzugen. Oft wird noch hinzugefügt, dass die bevorzugte Behandlung von Frauen so lange andauern soll, bis das an ihnen begangene Unrecht wiedergutgemacht wurde.

Beim kompensatorischen Argument wird demnach die Schuld für ein Unrecht auf ein ganzes Kollektiv, auf die Männer, übertragen und die Forderung nach einer Kompensation des Unrechts ebenfalls an das ganze Kollektiv gestellt. Das bedeutet, dass für ein Unrecht auch Männer Kompensation leisten müssen, die selbst das Unrecht nicht verschuldet haben.

Auf der Seite der Frauen bedeutet es, dass die einzelne Frau, die durch Kompensationsleistungen bevorzugt wird, nicht nachweisen muss, dass sie in ihrem Leben diskriminiert wurde. Allein die Tatsache, dass sie zu einem Kollektiv gehört, das tatsächlich oder vermeintlich diskriminiert wurde, reicht aus, um bevorzugt behandelt zu werden.

Aus diesem Sachverhalt erwächst der wichtigste Einwand gegen das kompensatorische Argument. Wir gehen in unserem moralischen und rechtlichen System davon aus, dass für eine Tat diejenige Person verantwortlich ist, die diese Tat vollbracht hat. Ihr gegenüber können auch Schuldvorwürfe gemacht und von ihr kann Kompensation verlangt werden.

Der einzelne heute lebende Mann kann für die vergangene Diskriminierung von Frauen nicht verantwortlich gemacht werden, weil er an dieser Diskriminierung gar nicht beteiligt war. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, ihm Schuldvorwürfe zu machen und Kompensationsleistungen aufzuerlegen. Es ist darüber hinaus nicht gerechtfertigt, ihn für Taten anderer Mitglieder seines Kollektivs – wenn er sich überhaupt diesem Kollektiv stark angehörig fühlt – zu diskriminieren, denn Kompensationsmaßnahmen führen zu Bevorzugung des Kollektivs, das in den Genuss der Kompensation kommt, und zu Benachteiligung des Kollektivs, das die Kompensation leistet. Beides, Bevorzugung und Benachteiligung von Personen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit, ist durch das Recht, genauer: das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verboten. In anderen Worten: Menschen sollten als Individuen betrachtet werden, d.h. unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Ethnie, Hautfarbe, sexueller Orientierung, Religions- sowie Parteizugehörigkeit.

Befürworter der kollektiven Kompensation in Form bevorzugter Behandlung von Frauen verstricken sich ferner in den folgenden Widerspruch: Die Kompensation soll für das ganze Kollektiv, für alle Frauen erbracht werden. In Wirklichkeit kommt in ihren Genuss nur eine relativ kleine Gruppe von Frauen. Es handelt sich um bereits privilegierte Frauen aus der oberen Mittelschicht. Ein Beispiel dafür ist die von politischen Gremien beschlossene Frauenquote für Aufsichtsräte von börsennotierten und mitbestimmungspflichtigen Unternehmen, eine Quote, von der ca. 300 Frauen profitieren werden. Demnach wird nur nach Kompensation auf relevanten, prestigeträchtigen und gut bezahlten Berufsfeldern verlangt.

Ein weiterer Einwand gegen das kompensatorische Argument besagt, dass einzelne Mitglieder eines tatsächlich oder angeblich bevorzugten Kollektivs selbst ungerechtfertigterweise und gegebenenfalls in einem viel größerem Maße als Mitglieder des tatsächlich oder angeblich benachteiligten Kollektivs diskriminiert worden sind.(14)

Einzelne Männer wurden mehr diskriminiert als viele Frauen, wobei diese Diskriminierung nicht nur geschlechtsspezifischer, sondern auch sozialisatorischer, schichtenspezifischer oder anderer Art sein kann.

In dem Artikel „Diskriminierung – individuell oder kollektiv?“ habe ich deshalb vorgeschlagen, Diskriminierung vorwiegend individuell zu sehen.(15) Möchte man an der Praxis der Kompensation für begangene Diskriminierung festhalten, dann wäre es viel sinnvoller und gerechter, auf Benachteiligungen von Individuen zu achten und sie als Grundlage für Kompensationsleistungen zu machen.

Die Befürworter von Kompensation für Frauen sollten darüber hinaus die folgende Frage beantworten: Warum sollten in erster Linie Frauen in den Genuss der Kompensation kommen? Es gibt auch andere Gruppen, die die diskriminiert werden. Sie müssten dasselbe Recht auf Kompensation haben. Wie steht es beispielsweise mit Rothaarigen,(16) Fettleibigen, Türken oder Repräsentanten anderer Nationen, Repräsentanten religiöser Minderheiten, Menschen aus der Unterschicht usw.?

Müsste man die Kompensationsansprüche dieser und vieler anderer Gruppen, deren Mitglieder Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, berücksichtigen, dann würde sich der Arbeitsmarkt in ein „Gerangel und Geschiebe“ zwischen diesen Gruppen auflösen.(17)

Weitere kritische Fragen ergeben sich bezüglich der Dauer und Art der Kompensation:

„Wie können wir wissen, wann diese Zeit abgelaufen ist? Wie viel Privilegien sind hinreichend? Wann wird die Schuld getilgt, der Preis bezahlt und das Gleichgewicht wiederhergestellt worden sein? Was für eine Entschädigung ist für ein Ausgeschlossensein, das Jahrhunderte währte, angemessen? Welches Kriterium sagt uns, wann wir die Entschädigung zurückgezahlt haben?“(18)

Die Philosophin Lisa Newton betont, dass Kompensationsansprüche nur innerhalb des geltenden Rechts gestellt werden können. Das geltende Recht - wenigstens in den hochentwickelten, westlichen Staaten – kennt jedoch keine Kollektivrechte. Es ist individualrechtlich ausgerichtet.(19) Beispielsweise gibt es das Recht jedes Einzelnen, vor dem Gesetz nicht schlechter oder besser als andere behandelt zu werden (Gleichheit vor dem Gesetz).

Nur Individuen können Rechtsträger sein. Nur sie können für ihre Taten verantwortlich gemacht und nur ihnen gegenüber kann Schadensersatz oder Kompensation eingefordert werden. Würde man Kollektive als Rechtsträger betrachten, könnte sich im Prinzip jedes Kollektiv als benachteiligt definieren und Kompensationsforderungen stellen.

Welches Verhalten rufen Schuldgefühle hervor?

Den Männern Schuldgefühle einzureden und das so entstandene Schuldbewusstsein zu benutzen, hat sich als eine sehr effektive Strategie der Frauenpolitik erwiesen. Doch diese Strategie konnte nur in einem dafür eigens geschaffenen gesellschaftlichen Klima gedeihen. Zunächst wurde von feministischer Seite die Menschheit in zwei sich sich entgegenstehende Kollektive aufgeteilt: die Männer und die Frauen. Dass Männer – ähnlich wie Frauen – kein homogenes Kollektiv bilden, dass sie sich voneinander nicht nur als Individuen, sondern auch über die Zugehörigkeit zu anderen gesellschaftlichen Gruppen (zu sozialer Schicht, Ethnie, Nationalität, Partei, Religion usw.) unterscheiden, wurde dabei unter den Teppich gekehrt.

Im zweiten Schritt wurden alle Frauen zu Opfern der Männer und alle Männer zu Tätern, zu Unterdrückern der Frauen stilisiert. Dabei hat man verschwiegen, dass auch Männer Produkte der Sozialisation sind, gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt sind und vielfältige Diskriminierungen erfahren haben.

Männer wurde eingeredet, dass sie Frauen immer schon diskriminiert haben. Man hat sie für alle Probleme und alles Leid der Frauen verantwortlich gemacht. Anders formuliert: Sie wurden als die Schuldigen stigmatisiert.

Leider verinnerlichten viele Männer – und auch viele Frauen – dieses, von einigen Feministinnen propagierte Weltbild. Sie lehnten die ihnen gemachten Schuldvorwürfe nicht ab und entwickelten daraufhin starke Schuldgefühle. Doch welche Folgen haben diese Schuldgefühle? Welches bewusste oder unbewusste Verhalten rufen sie bei den Schuldbeladenen, den Männern, hervor?

Ein Verhalten, dem Schuldgefühle zugrunde liegen, ist das weit verbreitete Schweigen der Männer. Männer, denen ständig Gewalt, Verbrechen, Untaten, Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung vorgeworfen werden, reagieren darauf meist mit Schweigen. Sie äußern weder bejahend noch ablehnend zu den Schuldvorwürfen. Der Geschlechterforscher Gerhard Amendt schreibt dazu:

„Beschuldigungen machen sprachlos, weil sie, der Angst vergleichbar, die Kehle zuschnüren.“(20)

Eine wichtige Rolle spielen dabei auch Schamgefühle. Aufgrund von Schuldgefühlen schämen sich viele Männer, Männer zu sein. Sie würden am liebsten ihre Identität als Mann aufgeben. Sie möchten nicht zu den „Tätern“ gehören. Die Verleugnung der eigenen männlichen Identität geht oft mit Selbsthass einher.

Eine Gruppe von Männern übernimmt aufgrund von Schuldgefühlen vorbehaltlos die feministische Weltsicht. Es handelt sich um die profeministischen Männer. Sie akzeptieren nicht nur die den Männern gemachten Schuldvorwürfe, sondern alle, auch die sinnlosesten feministischen Forderungen. Sie glauben, durch ihr Verhalten von weiteren Schuldvorwürfen verschont zu bleiben und letztlich von der Schuld der Männer freigesprochen zu werden. Sie hoffen, nicht zu den Tätern, sondern zu den „Guten“ gezählt zu werden. Nicht zuletzt glauben sie daran, durch ihr profeministisches Verhalten von Frauen besser akzeptiert zu werden.

Profeministische Männer greifen mit besonderer Vehemenz Feminismus-Kritiker an. Sie werfen ihnen Frauenfeindlichkeit, Befolgen von traditionellen Rollenbildern und Streben nach Macht vor. In Wirklichkeit dient ihnen die Diffamierung von Feminismus-Kritikern dazu, von Schuld freigesprochen zu werden. Sie möchten mit ihren Angriffen auf Feminismus-Kritiker zum Ausdruck bringen: Die Anderen sind die Schuldigen, wir nicht.

Oft werden prominente Männer, die tatsächlich oder vermeintlich etwas „Frauenfeindliches“ oder „Sexistisches“ geäußert haben, an den Pranger gestellt. An ihnen wird ein Exempel statuiert. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Umgang mit dem Nobelpreisträger Tim Hunt. Er hat einen Witz über das Verhältnis von Männern und Frauen im Labor gemacht, der von Feministinnen als „sexistisch“ eingestuft wurde. Nach einem Shitstorm im Internet hat der Wissenschaftler seine Stelle am University College London aufgegeben. Bezeichnenderweise haben sich seine Kollegen an der genannten Universität – in der Mehrheit Männer – nicht hinter ihn gestellt, sondern seinen Rücktritt befürwortet.(21)

Mit ihrem Verhalten haben sie sich von dem Wissenschaftler distanziert. Sie wollten damit der Öffentlichkeit mitteilen: Er gehört nicht zu uns. Sie haben dem wegen Sexismus schuldig gesprochenen Mann aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen, um nicht selbst in den Schuldverdacht zu geraten.

Ein sehr häufig anzutreffendes Verhalten, das durch Schuldgefühle hervorgerufen wird, ist das oben bereits erwähnte Bemühen der Männer um Wiedergutmachung des Frauen angeblich angetanen Unrechts. Männer tragen die ihnen implantierten Schuldgefühle ab, indem sie sich für politische, soziale und wirtschaftliche Belange der Frauen, genauer: einer Gruppe von Frauen einsetzen.

Die Schuldgefühle der Männer sind somit ein Motor der Frauenpolitik. Dabei schrecken die Schuldbeladenen nicht davor zurück, im Gegensatz zum Prinzip der Gleichheit und dem der Gerechtigkeit sowie im Gegensatz zum Grundgesetz Frauen zu bevorzugen und Männer zu benachteiligen. Entscheidend ist, dass das kompensatorische Engagement der Männer nicht freiwillig ist, sondern dem inneren Zwang folgt, die auf sich geladene Schuld abzutragen.

Ich möchte an dieser Stelle auf einen wichtigen Aspekt dieses von Schuldgefühlen geleiteten Engagements eingehen: Paradoxerweise führt dieses Engagement nicht zur Überwindung, sondern zur Reproduktion von traditionellen Rollenbildern. In dem Bestreben der schuldbeladenen Männer, Frauen zu privilegieren, kommt das traditionelle Rollenbild zum Ausdruck, nach dem Männer Frauen beschützen, versorgen und beglücken sollten.

Besonders deutlich kann man das an dem Einsatz der Männer für Frauenquoten beobachten. Zunächst glauben diese Männer nicht, dass Frauen in der Lage sind, Eigeninitiative zu entwickeln, eigene Firmen zu gründen und sie zum Erfolg zu führen, Firmen, in denen die Frauen selbst über die Personalpolitik entscheiden würden.(22) Sie denken, dass Frauen es aus eigener Kraft nicht schaffen und dass sie der Hilfe der Männer bedürfen. Diese Männer erleben sich oft als Retter und Beschützer der Frauen, wobei diejenigen, vor denen die Frauen gerettet und beschützt werden müssen, immer die anderen Männer sind. Auch das ist ein Beleg dafür, dass sie die Schuld an der angeblichen Misere der Frauen von sich weisen möchten.

Ferner möchten die schuldbeladenen Männer Frauen mit prestigeträchtigen Stellen, mit den sog. „Führungspositionen“ (im Falle der Anfang 2015 beschlossenen Frauenquote sind es Stellen in Aufsichtsräten) versorgen. Die traditionelle Versorgermentalität, nach der Männer die wirtschaftliche und soziale Existenz der Frauen sichern müssen, kommt im Einsatz für die Frauenquote deutlich zum Ausdruck. Gerhard Amendt zufolge dient die Versorgung von Frauen mit prestigeträchtigen Stellen den Männern nicht nur dazu, die Schuld abzutragen, sondern auch, ein Gefühl der Überlegenheit zu erlangen:

„Es gibt offenbar unter Männern eine Begeisterung dafür, Frauen schwach zu sehen. Sie von Verantwortung freizustellen, erleben sie als einen persönlichen Zuwachs an Verantwortung.“(23)

Und:

„Ohne sich dessen bewusst zu sein, wollen sie Frauen klein halten, weil das die Voraussetzung ihrer Wünsche nach eigener Größe ist.“(24)

Individuelle Schuld oder Kollektivschuld?

Kollektivschuld kann man nur dann empfinden, wenn die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv wichtiger ist als die eigene Individualität. Niemand bezweifelt, dass es Kollektive gibt und dass Menschen ihre Identität auch über die Zugehörigkeit zu Kollektiven entwickeln. Doch in unserer westlichen Gesellschaft hat sich der Individualismus, also die Weltsicht, nach der der einzelne Mensch, das Individuum, einen Vorrang vor der Gruppe hat, durchgesetzt.

Die Errungenschaften des Individualismus stellen einen zivilisatorischen Fortschritt dar. In kollektivistisch geprägten Gesellschaften – sie werden auch als „primitive“, „archaische“ oder „traditionelle“ Gesellschaften bezeichnet – gibt es keinen individuellen Schuldbegriff. Schuld wird nicht dem einzelnen Menschen, sondern seiner Sippe, seiner Familie oder einer anderen Gemeinschaft, der er angehört, zugeschrieben. Demnach kann es in solchen Gesellschaften keine individuelle Schulderfahrung, kein individuelles Schuldbewusstsein geben.

„Die Menschen besitzen in primitiven Gesellschaften weder die sehr voraussetzungsreichen kognitiven Weltbilder und Wirklichkeitsannahmen noch die erst mit diesen möglichen sozialen Lebensformen und Institutionen, die zu den konstitutiven Voraussetzungen individueller Schulderfahrung gehören.“(25)

Erst durch sozio-historische Prozesse, die sog. Differenzierungsprozesse, kommt es immer mehr zur Auflösung eines einheitlichen, auf kollektiven Identitäten basierenden Weltbildes, zur Zerstückelung der Welt und zur Herausbildung von Individualität. Diese Prozesse beginnen in unserem Kulturkreis nach der sog. Achsenzeit bei den Griechen und Juden. Die Lebensgeschichten von Sokrates und Hiob zeugen von einem Schuldverständnis, das für vorhergehende Zeiten nicht nachweisbar ist.

Doch die Differenzierungsprozesse, zu denen auch der Individualisierungsprozess (Herausbildung von Individualität) gehört, kommen erst in der Neuzeit in vollen Gang. In dieser Epoche entsteht auch das uns bis heute bestimmende individualistische Schuldverständnis.

In der Renaissance (14.-16. Jhd.) kommt es zur Hinwendung zum Menschen. Der Einzelne sieht sich immer mehr als eine separate Größe. Das Ideal der Renaissance – ein Ideal, das allerdings von einigen Wenigen befolgt wird – ist die Vervollkommnung des Selbst, die aus eigener Kraft vonstatten gehen soll. Das setzt ein Subjekt voraus, das eigenverantwortlich agieren kann.

Die Philosophie der Aufklärung (16.-18. Jhd.) postuliert Freiheit, Selbständigkeit und Selbstbestimmung (Autonomie) des Einzelnen. Nach Immanuel Kant soll der Mensch in der Lage sein, selbständig zu denken, sein Leben selbst zu bestimmen und sich die Maßstäbe des Handelns selbst zu geben. Der Einzelne hat Kant zufolge einen freien Willen. Er ist ein Handlungssubjekt: Von ihm gehen Handlungen aus; ihm können Handlungen eindeutig zugeordnet werden; er ist für seine Handlungen verantwortlich. Das bedeutet, das er auch schuldfähig ist.

Differenzierungsprozesse, allen voran der Individualisierungsprozess, setzen sich in allen Bereichen der Gesellschaft durch. Im politischen System äußern sie sich in der Vielfalt von Interessengruppen, Bürgerinitiativen, Verbänden und Parteien. Der Einzelne hat heute in der Politik eine viel größere Auswahl an Partizipationsmöglichkeiten als früher. Im Wirtschaftssystem wird die Differenzierung durch spezifische Eigentumsverhältnisse, Spezialisierung, Arbeitsteilung, flexible Arbeitsverhältnisse und -zeiten vorangetrieben. In der Wirtschaft herrscht immer noch die Vorstellung von im Wettbewerb konkurrierenden Individuen.

Im Rechtssystem, das für unser Thema von besonderer Bedeutung ist, werden Grundrechte als Individualrechte bestimmt. Sie schützen den Einzelnen vor staatlichen und nicht-staatlichen Eingriffen, garantieren ihm fundamentale Freiheiten und legen seine Pflichten fest. Der Einzelne wird als ein Rechtssubjekt aufgefasst: Er kann für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden; er kann schuldig gesprochen und bestraft werden.

Gegen die These vom „Siegeszug“ des Individualismus und dem Vorrang der individuellen Identität vor der kollektiven kann der Einwand erhoben werden, dass in der neueren Geschichte die kollektive Identität wesentlich wichtiger war als die individuelle. Der Historiker Elazar Barkan behauptet:

„The victims of genocide share a group identity that is more significant than any individual characteristics in terms of shaping their survival or demise. Similarly when a minority ... is subjected to oppression that has everything to do with the group and nothing to do with individual action.“(26)

In der Tat gibt es in der neueren Geschichte viele Beispiele dafür, dass Menschen sich selbst oder andere Menschen hauptsächlich durch das Prisma der kollektiven Identität betrachten. Die Nationalisten betrachten Menschen in erster Linie als Repräsentanten von Nationen und Ethnien. Die Nationalsozialisten haben die Praxis der „Sippenhaft“ eingeführt, die auch einem kollektivistischen Denkmuster folgt: Nicht nur die Regimegegner selbst, sondern auch ihre Verwandten wurden verfolgt. Die Kommunisten beurteilen die Menschen nach ihrer Klassenzugehörigkeit (in der Endphase des sog. real existierenden Sozialismus wurden sie nach ihrer Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei beurteilt). Auch in kommunistischen Staaten – nicht nur im Stalinismus – mussten Familienangehörige von Oppositionellen mit Repressalien rechnen. Die Rassisten betrachten Menschen nach ihrer Hautfarbe, die religiösen Fundamentalisten nach ihrer Religionszugehörigkeit, die Feministinnen nach ihrem Geschlecht.

In all den genannten Fällen handelt es sich um totalitäre Ideologien. Sie folgen dem Kollektivismus und akzeptieren nicht die Rechte des Individuums. Sie stellen somit einen Rückfall hinter die Errungenschaften des Individualismus dar. Die politische Praxis dieser Ideologien zeigt deutlich, welche Folgen die Ablehnung des Individualismus hat.

Die Kollektivschuld ist ein Ergebnis des Kollektivismus; sie kann am besten in einer Gesellschaft gedeihen, in der kollektivistische Denkmuster an Bedeutung und Stärke gewinnen. Sie wird von Mitgliedern eines Kollektivs empfunden, die mit den von anderen Mitgliedern ihres Kollektivs verübten Übeltaten nicht zu tun haben.

Demgegenüber muss in Anlehnung an die Philosophie der Aufklärung und an die Errungenschaften des Individualismus hervorgehoben werden, dass für eine Handlung nur derjenige verantwortlich ist, der diese Handlung ausführt. Nur ihm – und nicht seiner „Sippe“ oder seinem Kollektiv – kann Schuld zugesprochen werden. Der Philosoph Willi Oelmüller plädiert deshalb

„für eine Begrenzung des Schuldbegriffs auf diejenigen Handlungen in intersubjektiven Beziehungen und auch in sozialen Institutionen, für die sich Handelnde in ihrem Gewissen durch fahrlässige oder bewusst mit Vorsatz und Willen beabsichtigte und durchgeführte Handlungen verantwortlich wissen.“(27)

Diesem Plädoyer ist nicht nur in moralphilosophischer, sondern auch in rechtlicher Hinsicht zuzustimmen. Nur Individuen können Rechtssubjekte sein; nur sie können rechtlich zur Verantwortung gezogen werden und schuldig gesprochen werden; nur ihnen gegenüber können Schuldersatz- und Kompensationsforderungen gestellt werden. Kollektivschuld steht somit in einem Gegensatz zu dem in westlichen Demokratien herrschenden Rechtsverständnis und zu den geltenden Rechtsprinzipien.

Quellen:

(1) Martin van Creveld, Das bevorzugte Geschlecht, München 20013, S. 404f.

(2) Hans-Werner Bischoff/Michael Jürgen Herner, Begriffswörterbuch Sozialpsychologie, Stuttgart 2002, S. 189.

(3) Brian Lickel/Toni Schmader/Marchelle Barquissau, „The Evocation of Moral Emotions in Intergroup Contexts: The Distinction Between Collective Guilt and Collective Shame“, in: Nyla R. Branscombe/Bertjan Doosje (Hrsg.), Collective Guilt. International Perspectives, Cambridge 2004, S. 36.

(4) Vgl. Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, Berlin 1982.

(5) Nyla R. Branscombe/Bertjan Doodsje, „International Perspectives on the Experience of Collective Guilt“, in: Nyla R. Branscombe/Bertjan Doosje (Hrsg.), op. cit. 2004, S. 8.

(6) Nyla R. Branscombe/Ben Slugoski/Diane M. Kappen, „The Measurement of Collective Guilt“, in: Nyla R. Branscombe/Bertjan Doosje, op. cit. 2004, S. 31.

(7) Ebd., S. 26.

(8) Martin van Creveld, op. cit. 2003, S. 119.

(9) Ebd., S. 131f.

(10) Ebd., S. 137.

(11) „Teilzeitquote von Frauen in Deutschland deutlich über EU-Durchschnitt“, Statistisches Bundesamt 07.03.2012:

https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2012/03/PD12_078_132.html

(12) „Männer finanzieren, Frauen profitieren. Eine Analyse der Geldströme in öffentlichen Haushalten mittels Gender Budgeting“, MANNdat Februar 2010:

http://manndat.de/wp-content/uploads/2010/04/Analyse_Gender-Budgeting.pdf

(13) Vgl. Beate Rössler, „Quotierung und Gerechtigkeit: Ein Überblick über die Debatte“, in: Beate Rössler (Hrsg.), Quotierung und Gerechtigkeit. Eine moralphilosophische Kontroverse, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 16f.

(14) Robert Simon, „Bevorzugung auf dem Arbeitsmarkt: Eine Antwort auf Judith Jarvis Thomson“, in: Beate Rössler (Hrsg.), op. cit. 1993, S. 55.

(15) Alexander Ulfig, „Diskriminierung – individuell oder kollektiv?“, in: Cuncti 16.04.2012:

http://www.cuncti.net/gesellschaft/291-diskriminierungen-individuell-oder-kollektiv

(16) Günter Buchholz, „Können rothaarige Männer sexy sein?“, in: Frankfurter Erklärung 04.11.2014:

http://frankfurter-erklaerung.de/2014/09/koennen-rothaarige-maenner-sexy-sein/

(17) Lisa Newton, „Warum umgekehrte Diskriminierung ungerechtfertigt ist“, in: Beate Rössler (Hrsg.), op. cit. 1993, S. 101.

(18) Ebd., S. 101.

(19) Ebd., S. 102.

(20) Gerhard Amendt, Von Höllenhunden und Himmelswesen. Plädoyer für eine neue Geschlechter-Debatte, Frankfurt am Main 2013, S. 30.

(21) Gina Thomas, „Der Professor und die Frauen im Labor“, Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.07.2015:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/biochemiker-tim-hunt-wird-am-university-college-nicht-wieder-eingesetzt-13696412.html

(22) Alexander Ulfig, „Unternehmen gründen statt Frauenquote fordern!“, in: A.T. Kearney 361 Grad 08.10.2013:

http://atkearney361grad.de/debatte/frauenquote/unternehmen-gruenden-statt-frauenquote-fordern/

(23) Gerhard Amendt, op. cit. 2013, S. 40.

(24) Ebd., S. 42.

(25) Willi Oelmüller, „Schwierigkeiten mit dem Schuldbegriff“, in: Hans Michael Baumgartner/Albin Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung. Philosophische und juristische Beiträge zur Zurechenbarkeit menschlichen Handelns, Tübingen 1983, S. 17.

(26) Elazar Barkan, „Individual versus Group Rights in Western Philosophy and the Law“, in: Nyla R. Branscombe/Bertjan Doosje (Hrsg.), op. cit. 2004, S. 309.

(27) Willi Oelmüller, op. cit. 1983, S. 29f.

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