Fukushima: Die Menschen leben weiter und die Wahrheit stirbt

Zugegeben, die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization WHO) mag ich nicht besonders. Da laufen schlicht zu viele missionarische Eiferer herum, die in meine persönliche Lebensgestaltung eingreifen möchten.

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Die Etablierung restriktiver Vorschriften in nationalen Gesundheitsgesetzgebungen gelingt der WHO gut. In der Energiepolitik hingegen meldet man sich nicht zu Wort. Obwohl man auch dazu einiges zu sagen hätte. Man denke nur an die Gesundheitsgefährdung durch offene Feuer in Wohnräumen, die viele Menschen in den Entwicklungsländern noch immer in Kauf nehmen müssen. Weil ihnen keine sauberen Energieträger wie Erdgas und auch nicht ausreichend Elektrizität zum Kochen und Heizen zur Verfügung stehen.

Kernkraftwerke könnten für solche Gesellschaften viel Gutes bewirken. Wenn sie denn nicht, wird manch ein Zeitgenosse nun einwenden, wenn sie denn nicht explodieren und zehntausende in den Tod reißen. Wie in Fukushima.

Wie in Fukushima? Die WHO sagt etwas anderes. Sie hat im Jahr 2013 einen Bericht veröffentlicht, der sich mit den gesundheitlichen Folgen des Störfalls im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi auseinandersetzt. Bis heute ist dies die wichtigste und umfassendste wissenschaftliche Referenz zu diesem Thema. Auf die Frage nach der Anzahl der Todesopfer gibt die Untersuchung eine eindeutige Antwort: Null.

No acute effects of radiation exposure such as acute radiation syndrome or skin injuries have been observed among the general population.

(Health risk assessment from the nuclear accident after the 2011 Great East Japan Earth quake and tsunami, WHO 2013, S. 66)

To date, no radiation injuries have been observed among Fukushima Daiichi NPP emergency workers as a result of the accident (i.e. no cases of acute radiation syndrome or skin injuries). None of the seven reported deaths among emergency workers is attributable to radiation exposure.

(Health risk assessment from the nuclear accident after the 2011 Great East Japan Earth quake and tsunami, WHO 2013, S. 67)

Keine Strahlenopfer sind zu vermelden. Nicht in der allgemeinen Bevölkerung und auch nicht unter den Arbeitern auf dem Gelände des Kraftwerkes selbst. Und es werden auch in Zukunft keine hinzukommen.

Der größte Teil der WHO-Untersuchung beschäftigt sich nicht mit dem, was war, sondern mit dem, was noch geschehen könnte. Hierzu hat man berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Menschen in der Präfektur Fukushima aufgrund der Strahlenexposition im Verlauf ihres Lebens an Krebs erkranken könnten. Unterschieden wurde dabei zwischen Männern und Frauen und zwischen unterschiedlich stark betroffenen Regionen. Berücksichtigt hat man in den Szenarien nur Einwohner, die zum Zeitpunkt des Störfalls jünger als 20 Jahre waren. Denn das Risiko für ältere Bevölkerungsgruppen ist schlicht zu gering, als daß es sich verläßlich quantifizieren ließe. Diesen Personen verbleibt, so zynisch das vielleicht klingen mag, einfach zu wenig Lebenszeit, um noch Spätfolgen der Strahlung zu erleiden.

Betrachtet wurden alle organspezifischen, in der Fachsprache auch “solide” genannten Krebsarten und Leukämie. Von ersteren hat man Brustkrebs und Schilddrüsenkrebs zusätzlich auch einzeln untersucht. Die wesentlichen Ergebnisse findet man in einer Tabelle auf den Seiten 56 und 57 der Veröffentlichung, die ich hier wiedergeben möchte.

Fukushima_WHO

Das erste wesentliche Ergebnis lautet: Außerhalb der unmittelbar an das Kernkraftwerk angrenzenden Gebiete und natürlich auch darüber hinaus in Japan und dem Rest der Welt gibt es kein erhöhtes Krebsrisiko. Für die betroffene Region ist die Übersicht gemäß des folgenden Beispiels zu lesen:

Für eine zwanzigjährige  Frau liegt die Wahrscheinlichkeit in Japan im Verlauf ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken bei 5,55%. Lebte diese Frau zum Zeitpunkt des Störfalls in der am stärksten beeinträchtigten Zone, erhöht sich dieses Risiko um 0,129 auf 5,679%.

Über alle Kohorten hinweg wird ein Japaner jünger als zwanzig Jahre mit einer Wahrscheinlichkeit von  34,875% im Laufe seines Lebens an einem soliden Tumor erkranken. Für die Betroffenen des Reaktorunfalls erhöht sich dieser Wert um 0,319 auf 35,194%.

Rund zwei Millionen Menschen waren laut WHO durch Fukushima-Daiichi einer erhöhten Strahlenexposition ausgesetzt. Gemäß der japanischen Bevölkerungsstatistik ist die Zahl der unter Zwanzigjährigen auf 400.000 schätzbar. Zu erwarten sind in dieser Gruppe um die 140.000 Krebsfälle. Durch den Störfall könnten etwa 1.300 hinzukommen.  Aussagekräftig sind solche Zahlenspielereien nicht:

     

  • Erstens verwenden die WHO-Experten die sogenannte Linear-No-Threshhold- oder auch kurz LNT-Hypothese. Nach dieser gibt es keinen Grenzwert für ein zusätzliches Erkrankungsrisiko durch ionisierende Strahlung. Selbst kleinste Dosen erhöhen grundsätzlich die Gefährdung. Man räumt in der Studie die Umstrittenheit dieses Ansatzes ein, folgt ihm aber trotzdem, um sich nicht dem Verdacht der Schönfärberei auszusetzen.
  • Zweitens setzt man für die untersuchten Bevölkerungsgruppen ein mittleres Lebensalter von 89 Jahren an. Wer den Störfall als Kind erlebt hat, wird möglicherweise seinen Urenkeln im Jahr 2100 noch davon erzählen können. Die Einflüsse, denen man im Verlauf seines Lebens noch ausgesetzt sein wird und das eigene Verhalten sind weit wichtiger hinsichtlich der Abschätzung von Krebsrisiken, als die Havarie des Kraftwerks.
  • Drittens bedenke man die Entwicklung in der Medizin. Viele Krebserkrankungen sind schon heute heilbar. Die Vorstellung, in den kommenden Jahrzehnten würden in dieser Hinsicht keine weiteren Fortschritte erfolgen, ist absurd. Zumal gerade die von Fukushima betroffenen Menschen zu den in dieser Hinsicht am besten untersuchten und überwachten gehören werden. Auf diesem Weg könnte der Störfall sogar zu weniger Krebstoten unter den Einwohnern von Fukushima als im Rest der Bevölkerung führen.
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Eine direkte Verbindung zwischen einem erhöhten Erkrankungsrisiko und einer erhöhten Mortalitätsrate darf also keinesfalls gezogen werden. Im Verhältnis zum Erwartungswert und dessen Variabilität ist das zusätzliche Risiko außerdem in jedem Fall zu klein, um jemals statistisch zweifelsfrei nachweisbar zu sein. Die WHO drückt dies so aus:

The present results suggest that the increases in the incidence of human disease attributable to the additional radiation exposure from the Fukushima Daiichi NPP accident are likely to remain below detectable levels.

(Health risk assessment from the nuclear accident after the 2011 Great East Japan Earth quake and tsunami, WHO 2013, S. 92)

Es gibt keine Strahlentoten in Fukushima und es wird auch keine geben. Die gegenteilige Aussage ist nicht wissenschaftlich belegbar und kann daher nicht Grundlage einer an Fakten orientierten Energiepolitik sein.

In vielen Medien wird immer noch etwas anderes suggeriert. Ein schönes Beispiel liefern die Ausführungen der Moderatorin Gabi Bauer im Nachtmagazin der ARD vom 12.03.2015:

Als erstes explodiert Reaktorblock Eins des Atomkraftwerks Fukushima, in drei Blöcken kommt es später zur Kernschmelze. Mehr als 18.000 Menschen werden bei dem Unglück getötet.

Manch ein Politiker kann der Versuchung nicht widerstehen, auf diesen Zug aufzuspringen. Die Ausführungen des Oberbürgermeisters von Hannover, Stefan Schostok, die er am 11.03.2015 bei RTL Nord tätigte, verdeutlichen dies in besonderer Weise:

Das Unglück des Atomkraftwerkes hat 20.000 Opfer gefordert.

Man sollte ihn nach Belegen fragen.

Die offensichtliche Unwahrheit dieser Aussagen ist weniger entscheidend. Wichtig scheint mir eher die Motivation: Man will keine rationale Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Energiepolitik möglich machen und entsprechende Ansätze im Keim ersticken. Über das Warum vermag ich nicht zu spekulieren, denn ich bin nicht diese Art von Doktor. Was am Ende wirklich nervt, ist die Gleichgültigkeit der Bevölkerung, mit der hier gearbeitet wird. Denn Behauptungen dieser Art werden uns weiter begleiten, so lange Medien und Politik sicher sein können, damit durchzukommen.  Dabei leisten sich nicht einmal die Weltverbesserer von der WHO die Perfidie, menschliches Leid (der Evakuierten) und vor allem Tote, die es niemals gab, aus ideologischen Gründen zu instrumentalisieren. Es sind nicht Menschen durch die Havarie des Reaktors gestorben, sondern die Wahrheit.

Beitrag erschien auch auf: science-skeptical.de

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Kommentare zum Artikel

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Auch ein schönes Beispiel, wie sich Klimakeptiker mit dem Thema Risikomanagement schwer tun. Zum Beispiel sind Grenzwerte von radioaktiver Strahlung und der Umgang mit radioaktiv belasteten Böden mit einer Güterabwägung verbunden. Es müssen Risiken eingeschätzt werden. Der interessanteste Abschnitt aus dem Artikel ist aus meiner Sicht folgender:

“Der größte Teil der WHO-Untersuchung beschäftigt sich nicht mit dem, was war, sondern mit dem, was noch geschehen könnte. Hierzu hat man berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Menschen in der Präfektur Fukushima aufgrund der Strahlenexposition im Verlauf ihres Lebens an Krebs erkranken könnten.”

Nunja, es ist nunmal Aufgabe des WHO sich mit Gesundheitsrisiken und -folgen zu beschäftigen. Von daher ist es schon wichtig zu erfahren, welches zusätzliche Risiko die Menschen in der Nähe von Fukushima ausgesetzt waren. Aus Sicht vieler Kernkraftanhänger wird immer wieder betont, dass es bisher keine Todesopfer durch Strahlung gab. Welche gesundheitlichen Risiken die Menschen mit sich tragen, die im hohen Maße der Radioaktivität ausgesetzt waren, wird ausgeblendet. Was in dem Text auch nicht beachtet wird, nur durch die rechtzeitige Evakuierung aus den entsprechenden Regionen konnten die gesundheitlichen Risiken relativ klein gehalten werden.

Weiter heißt es: “Eine direkte Verbindung zwischen einem erhöhten Erkrankungsrisiko und einer erhöhten Mortalitätsrate darf also keinesfalls gezogen werden.”

Das kann man wohl als falsch bezeichnen, natürlich führt ein erhöhtes Krebsrisiko zu einer erhöhten Mortalitätsrate, auch bei der besten Medizin. Der Autor schreibt sich weiter in eine Art Rausch, der ihn zu der Aussage hinreißen lässt:

“Es gibt keine Strahlentoten in Fukushima und es wird auch keine geben.”

Sowas würde ich Realitätsverweigerung als bezeichnen. Natürlich steigt mit den Ereignissen von Fukushima das Krebsrisiko an, womit in Zukunft real mehr Tote verbunden sein werden. Womit sich viele immer rausreden können ist, dass es praktisch unmöglich ist, eine 1:1-Zuordnung einer Krebsentstehung mit einer(!) Ursache herzustellen. Aber man kann statistisch abschätzen, zu was ein bestimmtes Risiko in der mittleren Erwartung führt. Außerdem sollte man beachten, dass die erfreulich(!) geringe Gefahrenerhöhung an Krebs zu erkranken, nur dadurch zustande kam, dass man (im Gegensatz zu Tschernobyl) relativ schnell gehandelt hat. Wie würden die Zahlen denn aussehen, wenn die Menschen bis heute in dieser Gegend wohnen würden? Was die Zahlen auch nicht erfassen ist natürlich der Schmerz, seine Heimat und Häuser auf Zeit oder für Dauer zu verlassen.

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