Es gibt kein bürgerliches Lager

Die ÖVP hat in den letzten zehn Jahren im Zuge eines (auch von den Medien ausgehenden) zeitgeistigen Modernitäts-Drangs alle mehrheitsfähigen konservativen Haltungen vergessen, ganz oder teilweise aufgegeben. Sie hat sie vielmehr der FPÖ überlassen.

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Der erstmalige Absturz der ÖVP auf einen einstelligen Prozentsatz war eines der historisch wichtigsten Ergebnisse der Wiener Gemeinderatswahl. Er geht Hand in Hand mit der – wenn auch nicht ganz so heftigen – Entwicklung der ÖVP auf Bundesebene und in anderen Bundesländern. Viele Kommentatoren fragen sich seither: Wohin ist das bürgerliche Lager entschwunden?

Die Antwort mag manche verblüffen: Es gibt gar kein bürgerliches „Lager“. In Begriffen wie „Lager“ zu denken ist im heutigen Österreich ein grober Anachronismus. Politische Lager von Relevanz hat es in der Zwischenkriegszeit gegeben. Damals haben sich das christliche, das sozialistische und das deutschnationale Lager wild gegenseitig bekämpft. Justizpalastbrand, Bürgerkriege, wöchentliche Prügeleien an der Wiener Universität, hunderte Bombenanschläge, Ausschaltung des Parlaments waren die schlimmsten Höhepunkte jener Auseinandersetzungen. Fast jeder Österreicher gehörte einem Lager an, das nicht nur sein Wahlverhalten, sondern auch seine Vereins-Mitgliedschaften und Freundeskreise geprägt hat.

Heute gibt es höchstens noch in ein paar Mini-Restbeständen ein sozialistisches Lager, wo Menschen noch immer wie selbstverständlich die SPÖ wählen, und zugleich bei Kinderfreunden, Arbeiter-Samaritern, Arbö und vielen anderen, eng mit der Partei verbundenen Vereinen dabei sind. Aber auch das sind vor allem Pensionisten. Das verbandskatholische Lager rund um den CV und das deutschnationale um schlagende Studentenverbindungen sind noch unbedeutender.

Der große Rest der Bevölkerung denkt hingegen nicht im Schlaf daran, sich einem „Lager“ zugehörig zu fühlen. Diesen Menschen ist die individuelle Freiheit viel zu wichtig, als dass sie einem Lager zugehören wollten. Auch wenn nicht alle automatisch Wechselwähler sind, so wollen sie doch jedenfalls das Gefühl haben, ständig selbst über all ihre Bindungen und Verhaltensweisen zu entscheiden.

Kein Gegensatz zu Bauern und Adel mehr

Was heißt aber dann überhaupt noch „bürgerlich“? Nicht sehr viel. Das Wort hat im 18. und 19. Jahrhundert einen bewussten Gegensatz zu feudalen und aristokratischen Klassen bedeutet. „Bürgerlich“ stellt sprachlich und historisch auch einen Gegensatz zum Bauerntum dar. Also ausgerechnet zu zwei Gruppen, die heute noch überdurchschnittlich stark ÖVP wählen.

Dieser Gegensatz ist längst verschwunden. Es fällt beispielsweise gar niemandem auf, dass es eigentlich ein Widerspruch in sich sein müsste, wenn ein seit einigen Jahren in Wien aufgeblühter „Bürgersalon“ ganz klar von Angehörigen einst wichtiger aristokratischer Familien geprägt ist, also von Familien, deren Vorfahren einst alles, nur nicht „bürgerlich“ waren.

Wenn dieses Wort noch irgendetwas heißt, dann ist es ein bestimmter städtischer Lebensstil.

  • Man vermeidet weitgehend den Dialekt;
  • man legt Wert auf Höflichkeit;
  • man besitzt viele Bücher;
  • man geht (auch aus Pflichtbewusstsein) in Theater und (immer mehr) in Konzerte;
  • man strebt Bildung und intellektuelle Berufe an;
  • man respektiert Lebenserfahrung;
  • man fühlt sich als etwas Besseres, ohne auf Privilegien zu pochen;
  • man will vor allem nicht zu einem Lager gehören.

Aber längst hat eine totale Vermischung des bürgerlichen Lebensstils mit dem jener Welt stattgefunden, die einst als proletarisch angesehen worden ist. Von Fußballbegeisterung bis zum Würstelstand gehört alles auch irgendwie zum bürgerlichen Lebensstil. Selbst die Kleidung ist kein Unterschied mehr, seit die – soziologisch ja eigentlich eindeutig bürgerliche – 68er Bewegung, also die der heutigen Großväter, auch hier für massive Veränderung gesorgt hat.

Ein solches Bürgertum kann politisch nicht mehr nur zu einer Partei gehören. Schwarz, Grün, Pink werden bunt durcheinander gewählt. Und wenn es bei anderen Parteien einen charismatischen Chef gegeben hat, waren für einen Teil der Bürgerlichen auch diese modisch, das war in Bruno Kreiskys Zeiten Rot und unter Jörg Haider Blau.

Vollständiger Beitrag erschien auf andreas-unterberger.at

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Gravatar: Gernot Radtke

In Österreich und Deutschland leben wir in einem postheroischen Zeitalter, wo sogar ein Püppchen zur Verteidigungsministerin einer kraftstrotzenden Armee mit Kindertagesstätten gemacht wird. In diesem Zeitalter dreht sich alles um etwas ziemlich Degeneriertes: den Couchpotatoe und dessen Schweinekobenglück. Den zu fördern und noch zu verfetten, ist sogar den Bürgerlichen mittlerweile jeden Aufwand wert. In ständischen Gesellschaften alten Stils, die in ihren besseren Rängen noch etwas auf sich hielten, wäre dies undenkbar gewesen. Heute ist die Rundumversorgung, das ‚All inclusive‘, zur herrschende Glaubenslehre geworden; die Selbstverpöbelung das sittliche Prinzip. O tempora, o mores.

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