Elterngeld: Grundgesetz auf dem Abstellgleis

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gilt als Hüter der Verfassung und der darin verankerten Grundrechte. Dabei genießt es bis heute ein hohes Ansehen. Namentlich für die Grundrechte der Eltern hat es mehrere Urteile gesprochen, die die Familienpolitik der jeweiligen Regierungen hart kritisiert und Korrekturen angemahnt haben. Meist reagierte die Politik darauf nur zögerlich, halbherzig oder gar nicht. Das BVerfG verfügt nicht über eine „Polizei“, um seine Vorgaben durchzusetzen.

Jüngere Beschlüsse einer „Kammer“ des BVerfG (drei Richter/innen) zum Elterngeldgesetz lassen aber jetzt aufhorchen. Es sieht ganz so aus, als orientiere sich diese Kammer nur noch an der Regierungspolitik und lasse die bisherige Auslegung des Grundgesetzes außer Acht. Wenn aber allein eine Kammer Urteile des BVerfG, die für alle anderen Gerichte „bindend“ sind, einfach beiseite schieben kann, dann ist der Rechtsstaat in höchster Gefahr.

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Das BVerfG besteht aus zwei „Senaten“ mit jeweils acht Richtern. Beide fällen Urteile, die dann für alle deutschen Gerichte „bindend“ sind. Daneben gibt es „Kammern“, die jeweils mit drei Personen besetzt sind. Diese haben darüber zu befinden, ob Verfassungsbeschwerden überhaupt „zur Entscheidung angenommen werden“. Das ist ein Filter, um bei der Flut der Beschwerden die Spreu vom Weizen zu trennen. Abzulehnen sind Beschwerden, die keine „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“ haben (§ 93a BVerfGG). Solche „Nichtannahmebeschlüsse“ sind für das jeweilige Verfahren „unanfechtbar“, aber nicht „bindend“ für andere Verfahren.

Die 2. Kammer des 1. Senats hat mit jeweils gleicher Besetzung mehrere Beschwerden gegen das seit 2007 geltende Elterngeldgesetz „nicht zur Entscheidung angenommen“. Konkret beziehe ich mich auf den Beschluss vom 9.11. 2011 (Aktenzeichen 2 BvR 1853/11). Beschwerdeführerin war eine Mutter mit viertem Kind, die wegen Betreuung der bereits vorhandenen drei Kinder, darunter ein zwei-jähriges, im Jahr vor der Geburt nicht erwerbstätig war und deshalb wegen der Einkommensbezogenheit des Elterngeldes nur den Mindestbetrag von 300 €/Monat erhielt, während Mütter mit erstem Kind bis zu 1800 € /Monat erhalten. Sie machte eine Verletzung von Art. 3 des Grundgesetzes (Gleichberechtigung) und Art. 6 GG (Schutz der Familie) geltend.

Es ist schwer nachvollziehbar, warum eine steuerfinanzierte Sozialleistung bei Eltern, die vor der Geburt eines ersten Kind gut verdienen konnten, höher sein soll als bei Eltern mehrerer Kinder, die wegen der Erziehung ihrer Kinder weniger oder nicht erwerbstätig waren, wie im Fall dieser kinderreichen Mutter. Unwillkürlich denkt man hier an den Spruch vom Teufel und dem „Haufen“. Aber warum betätigt sich ausgerechnet der angebliche Sozialstaat als „Teufel“. Auf die Rechtfertigung der Kammer konnte man gespannt sein.

Tatsächlich verteidigt die Kammer die Berechnung des Elterngeldes mit der „Gleichberechtigung der Geschlechter“. Aber wie ist die Diskriminierung einer kinderreichen Mutter mit der „Gleichberechtigung der Geschlechter“ zu rechtfertigen?

Dazu ein Zitat aus dem obigen Kammerbeschluss (Randnummer 18):

Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Gleichberechtigung der Geschlechter in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchzusetzen und überkommene Rollenverteilungen zu überwinden“.

Dieser Satz widerspricht in eindeutiger Weise der seit Jahrzehnten ständigen Rechtsprechung des BVerfG. Bereits 1957 (BVerfGE 6, 55, 1. Leitsatz) wurde die Entscheidungsfreiheit der Eltern über die Aufgabenverteilung innerhalb der Familie zur „Leitidee unserer Verfassung“ erklärt, „die staatlicher Einflussnahme entzogen ist“ (1). In vielen seitherigen Urteilen des BVerfG wurde diese Auffassung immer wieder bestätigt. Eine Unterscheidung zwischen „überkommenen“ und anderen Rollenverteilungen darf daher für den Staat gar nicht relevant sein. Entscheidend ist der Wille der Eltern.

Da Kammerbeschlüsse nicht für andere Verfahren bindend sind, könnten sich Sozial- und Landessozialgerichte, die für alle Kläger/innen den verbindlich vorgegebenen Instanzenweg darstellen, mit Vorlagebeschlüssen direkt an das BVerfG wenden, um eine Klarstellung anzustreben. Leider zeigt aber die Praxis, dass diese Gerichte die Kammerbeschlüsse wie (bindende) Urteile des BVerfG behandeln und ihnen wie die Lemminge folgen.

 

Derzeit wird also ein Urteil des BVerfG zur Frage, ob das Elterngeldgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, durch diese eine Kammer verhindert. Alle anderen Gerichte fügen sich, ohne sich eigene Gedanken zu machen. Dadurch entsteht eine rechtsstaatlich bedenkliche Situation: Das Grundgesetz wird „auf kaltem Wege“ außer Kraft gesetzt, weil die sogar für jeden Laien ersichtlichen Widersprüche zwischen bisheriger Auslegung des Grundgesetzes und den Aussagen der Kammer unaufgelöst bleiben.

Die  Die angebliche Pflicht des Gesetzgebers “überkommene Rollenverteilungen zu überwinden” bedeutet eine Bevormundung der Eltern ohne Berücksichtigung dessen, was sie selbst wollen. Das widerspricht klar der "Leitidee unserer Verfassung" (1), wie sie seit Jahrzehnten vom BVerfG vertreten wurde. Der Widerspruch in den Zitaten ist eindeutig. Es bleibt kein Spielraum für Interpretation. Bei unvoreingenommener Betrachtung wird niemand zu einem anderen Schluss kommen können.

 

 

Hat sich die Kammer von der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG gelöst?

Die Sachlage ist klar: Die Kammer plädiert dafür, ein bisher als verfassungsrechtlich garantiert geltendes Grundrecht der Eltern durch staatliche Bevormundung abzulösen. Das entspricht zwar der gegenwärtigen, Bundespolitik, steht aber in krassem Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung des BVerfG. - Hat sich also diese Kammer der Bundespolitik untergeordnet oder unterordnen lassen? Hat sie sich vom Grundgesetz, wie es bisher „bindend“ ausgelegt wurde, gelöst? Das sind Fragen, die den Kern des Rechtsstaats betreffen.

 

      Der Hintergrund, auf dem die Kammer zur Behauptung kommt, der Staat habe darauf hinzuwirken "überkommene Rollenverteilungen zu überwinden”, bleibt im erwähnten Beschluss im Dunkeln. Er wird aber klarer, wenn ein früherer Beschluss der gleichen Kammer vom 19. 8. 2011 (1 BvL 15/11) herangezogen wird. In diesem Beschluss (bes. unter den Randnummern 22 und 23) wird deutlich, dass die Kammer die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ gleichsetzt mit einer „gleichen Teilhabe am Erwerbsleben“. Das wird dann noch durch Bezugnahme auf einen Literaturbeitrag gerechtfertigt, der ebenfalls diese Gleichsetzung vollzieht (Brosius-Gersdorff VSSR 5/2008, S. 299 ff). Erst durch die Umdeutung von „Gleichberechtigung“ zu „Gleichstellung im Erwerbsleben“ wird eine Konkurrenz zwischen Art 3 Abs. 2 (Gleichberechtigung der Geschlechter) und Art. 6 (Schutz von Ehe und Familie) konstruiert.

 

Würde dieser Umdeutung gefolgt, könnte eine Mutter oder ein Vater, die/der die eigenen Kinder selbst erziehen möchte, niemals „gleichberechtigt“ sein. Wenn „Gleichberechtigung“ von einer vorgegebenen „Rollenverteilung“ abhängig gemacht wird, kann von echter Gleichberechtigung nicht mehr die Rede sein. Im Übrigen setzt die Auffassung der Kammer voraus, dass die Erziehung eigener Kinder als eine „minderwertige“ Arbeit betrachtet wird, die eine Gleichberechtigung ausschließe. Im Gegensatz dazu hat das BVerfG der Erziehungsaufgabe immer einen der Erwerbsarbeit gleichwertigen Eigenwert zuerkannt.

 Aber selbst dann, wenn eine gleiche Verteilung der Erwerbs- und Erziehungsarbeit auf beide Eltern erreicht würde, könnten die Eltern bei der Prämisse der Kammer zusammen gegenüber anderen, die keine Kinder haben, niemals gleichberechtigt sein. An ihnen bleibt ja doch der Hauptanteil der Erziehungsarbeit hängen, und zwar zunehmend, je mehr Kinder vorhanden sind. Gleichberechtigung kann also niemals durch bloße Gleichverteilung der Arbeit, sondern nur durch Gleichbewertung der Erziehungsarbeit erreicht werden.

Die ideologiegebundene Denkweise der Richterin und der zwei Richter der Kammer wird auch darin deutlich, dass sie dem in der Umgangssprache positiv besetzten Begriff „partnerschaftlich“ eine andere Bedeutung unterschieben, um ihre Argumentation in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Unter einer „partnerschaftlichen Rollenverteilung“ wird üblicherweise verstanden, dass sich zwei Partner einvernehmlich auf die für beide beste Lösung einigen. Die Kammer gebraucht den Begriff aber ohne nähere Begründung im Sinne einer „gleichen Rollenverteilung“ (1 BvL 15/11, Randnummer 23), unabhängig vom Willen der Partner. Dem Begriff „partnerschaftlich“ wird damit eine die Partner bevormundende, also völlig andere Bedeutung untergeschoben. Ziel ist offensichtlich, den Inhalt von Art. 3 Abs. 2 Satz 2, auf den sich die Kammer beruft, umzudeuten. Bevormundung wird schönfärberisch zur „Gleichberechtigung der Geschlechter“ erklärt.

 Der genannte Nichtannahmebeschluss der Kammer steht auch im Widerspruch zu einem Urteil des BVerfG aus dem Jahr 1998 (2). Danach besteht ein „Benachteiligungsverbot“, das „jeder belastenden Differenzierung“ entgegensteht, die an der „Wahrnehmung des Elternrechts“ anknüpft. Die betroffene Mutter erhielt nur deshalb den Minimalbetrag an Elterngeld, weil sie im Jahr vor der Geburt wegen Betreuung ihrer älteren Kinder nicht erwerbstätig war. Damit wurde die Wahrnehmung ihres Elternrechts einer belastenden Differenzierung unterworfen, die nach diesem Urteil verboten ist.

 

Ge   Gelegentlich ist der Einwand zu hören, die zitierten Urteile (1,2) seien veraltet. Auch das BVerfG könne seine Rechtsprechung ändern. Dieser Einwand ist hier nicht stichhaltig. Urteile des BVerfG sind bindend, so lange das Gericht nicht selbst eine andere Auslegung vornimmt. Das kann aber niemals durch drei Richter/innen einer Kammer geschehen, sondern nur durch die Entscheidung eines Senats (mit acht Richter/innen). Eine “kalte Korrektur” früherer Urteile durch Nichtannahme von Beschwerden, die sich auf diese Urteile berufen, kommt einer Missachtung des Grundgesetzes gleich. Wenn diese Verfahrensweise in einem Punkt (hier dem Elterngeldgesetz) toleriert wird, sind die Tore offen für die Außerkraftsetzung auch anderer Grundrechte. Ein “Grundgesetz auf dem Abstellgleis” ist wertlos.

 (1) Zitat aus dem Beschluss des ersten Senats vom 17. Jan. 1957 (BVerfGE 6, 55 <81>) :

    Wie bereits oben dargelegt, ist Art. 6 Abs. 1 GG im Sinne der klassischen Grundrechte ein Bekenntnis zur Freiheit der spezifischen Privatsphäre für Ehe und Familie; es entspricht damit einer Leitidee unserer Verfassung, nämlich der grundsätzlichen Begrenztheit aller öffentlichen Gewalt in ihrer Einwirkungsmöglichkeit auf das freie Individuum. Aus diesem Gedanken folgt allgemein die Anerkennung einer Sphäre privater Lebensgestaltung, die staatlicher Einwirkung entzogen ist.”

 

(   2) Zitat aus dem Urteil vom 10. 11. 1998 (BVerfGE 99, 216) - 1. Leitsatz:

       „Art. 6 Abs. 1 GG enthält einen besonderen Gleichheitssatz. Er verbietet, Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften schlechter zu stellen. Dieses Benachteiligungsverbot steht jeder belastenden Differenzierung entgegen, die an die Existenz einer Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) oder die Wahrnehmung des Elternrechts in ehelicher Erziehungsgemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) anknüpft.“

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Ulli B.

@Elmar Oberd&ouml;rffer
Es ist, wie Sie sagen. Das wirft die Frage auf, ob den Familien &uuml;berhaupt noch durch Verweise aufs Grundgesetz zu helfen ist. Dieses ist durch die Abh&auml;ngigkeit der Gerichte von der Politik doch das Papier nicht mehr wert, auf dem es steht.

Gravatar: Elmar Oberdörffer

Deutschland ist schon lange kein Rechtsstaat mehr, und das BVG hat ma&szlig;geblich dazu beigetragen. Das ist auch kein Wunder, ist es doch nicht unabh&auml;ngig. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben, wenn die Verfassungsrichter von der Exekutive eingesetzt werden. Urteile, die sich an der Politik der jeweiligen Regierung orientieren statt am Grundgesetz, sind die zwangsl&auml;ufige Folge.

Gravatar: Kitsch

@ Johannes Resch

Sehr geehrter Herr Resch,
Sie sind zwar formal mit Ihren Ausf&uuml;hrungen im Recht, aber Recht gibt es in dieser Republik nicht, schon gar nicht von diesem politischen Gerichtshof, der sich hochtrabend Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nennt. &Uuml;ber diesen politischen Gerichtshof schrieb die NZZ einmal, dass die Bundesb&uuml;rger sich doch nicht einbilden sollten, dass das BVerfG die Rechte der B&uuml;rger sch&uuml;tzt.
Der NZZ kann ich nur zustimmen, grundlegende Rechte der B&uuml;rger werden seit 1951 durch das BVerfG regelm&auml;&szlig;ig mit F&uuml;&szlig;en getreten; es gibt zwar ab und an ein paar Urteile, die anders scheinen und dann auch von den qualit&auml;tsfreien F&uuml;hrungsmedien der deutschen Medienlandschaft aufgebauscht werden &amp;#8211; eben Marketing!
Wenn die Kammer die Beschwerde zugelassen haben w&uuml;rde, dann w&auml;re eben der zust&auml;ndige Senat des BVerfG an der Reihe gewesen das Recht mit der &uuml;blichen Rabulistik, die man von diesem politischen Gerichtshof her gen&uuml;gend kennt, auszuhebeln, wie z. B. im Jahre 2009, als das BVerfG aus einem reinen W&auml;chteramt des Staates in Sachen Schulen (Art. 7, Abs. 1 GG &amp;#8211; Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates) einen Erziehungsauftrag mit Monopolstellung des Staates fabrizierte.

Die BRD war vom Start an ein Staat, der ganz gezielt in Richtung &quot;kr&uuml;ppelhafter Rechtsstaat&quot; konzipiert und organisiert worden war.

Gravatar: Maja

Dass das Grundgesetz schon l&auml;nger auf dem Abstellgleis steht, wie es der Autor ausdr&uuml;ckt, d&uuml;rfte jedem aufmerksamen B&uuml;rger in Deutschland nicht entgangen sein. Nicht nur in diesem Bereich, auch in vielen anderen geschieht dies zunehmend.Erschreckend? Ja. Verwunderlich? Nicht wirklich.

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