Eine Liebeserklärung an Leipziger Lausejungen und ihre Stadt

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Uwe Simon- Netto, einer der renommiertesten Journalisten unseres Landes, bekannt geworden vor allem als Kriegsberichterstatter im Vietnamkrieg, hat ein Buch über seine Kindheit in Leipzig geschrieben.

Es ist eine hinreißende Liebeserklärung an die tausendjährige Stadt und ihre besonderen Bewohner. Vor allem erinnert Simon- Netto an die großartigen bürgerlichen Wurzeln und Werte dieser Metropole, der es gelungen ist, trotz Kriegszerstörungen und Sozialismus wie Phönix aus der Asche aufzuerstehen.

 

Es ist aber auch eine Huldigung der Frauen, die es geschafft haben, im Bombenhagel und Feuersturm ihre Würde zu bewahren.

Simon- Nettos Großmutter zog sich immer ihr bestes Kleid an, bevor sie in den Luftschutzkeller ging, denn es könnte ja sein, dass sie an diesem Tag zu ihrem Schöpfer gerufen würde.

Als sie nach frechen Reden im Keller denunziert wird und die Gestapo an ihrer Tür erscheint, schlägt sie die Schergen in die Flucht mit der Frage, wieso sie im vierten Kriegsjahr immer noch so fett gefressen seien und warum sie nicht an der Ostfront wären, wo Männer dringend gebraucht würden, die Heimat verteidigten.

Überhaupt zeichnet Simon- Netto ein sehr differenziertes Bild von den Deutschen in der Nazidiktatur, die keineswegs alle Parteigänger Hitlers waren und schon gar nicht von Hass und Verachtung getrieben.

 

Die Mutter des Autors versucht, nachdem ihr Haus einen Volltreffer erhielt und in Flammen stand, ein paar Dinge aus der Wohnung im dritten Stock zu retten. Sie wird ohnmächtig und überlebt nur, weil französische Kriegsgefangene, die bei einem Handwerker in der Nachbarschaft arbeiteten, sich durch das Feuer kämpfen, um sie rauszuholen.

Auch auf beengtestem Raum, in der größten Not, werden die Tischsitten streng eingehalten. Ein Lümmel darf Streiche spielen, so viel er will, aber er darf keinen Augenblick seine gute Kinderstube vergessen.

 

Beim Lesen denkt man wehmütig an die wohlstandsverwahrloste Jugend von heute, die nicht mehr zu wissen scheint, was gutes Benehmen ist.

Faszinierend sind auch die Beschreibungen der wilden Spiele, die es damals gab. Die Kinder waren ständig draußen und bewegten sich angstfrei durch die Trümmer, bis sie, wie manche Spielkameraden von Simon- Netto, selbst unter den Trümmern lagen.

Die Lebensfreude inmitten der Gefahr ist für uns Friedenskinder kaum nachvollziehbar.

Es gibt wenige Schilderungen, wie die Zivilbevölkerung im Krieg ihren Alltag gemeistert hat. Wer das wissen will, dem sei Simon- Nettos Buch empfohlen.

 

Interessant ist aber auch sein Blick auf die heutige Stadt und ihre Bewohner.

 

Viel Licht, aber auch Schatten. Dass die Paulinerkirche, die schönste Kirche Leipzigs, die auf Befehl von Walter Ulbricht gesprengt wurde, trotz vorhandener Mittel nicht wieder aufgebaut wurde, weil die Universität sich sperrte, ist ein Wermutstropfen.

Oder dass in der Thomaskirche heute Zeitgeist gepredigt wird, statt „einmal in der Woche zwanzig Minuten lang von Trivialitäten und Zank, von den Widernissen und den Unappetitlichkeiten des Alltags“ abzulenken, schmerzt den Autor.

Aber Simon- Netto wäre nicht er, wenn er nicht überzeugt wäre, dass sein Leipzig, das den Ungeist des Nationalsozialismus und des Realsozialismus überstanden hat, den Zeitgeist erst recht überstehen wird.

Simon- Netto: “Griewatsch! Der Lümmel aus dem Luftschutzkeller“ Fontis 2015

 

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