Doppeltagebuch 1989/2009- 8.-12. Dezember

8. 12.
Ministerpräsident Hans Modrow verfügt unter dem Druck der anhaltenden Proteste der Bevölkerung die Auflösung der Staatsicherheit. Die weitere Aktenvernichtung

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wird erneut untersagt, geht aber an vielen Stellen heimlich weiter. Der DDR-Generalstaatsanwalt leitet gegen Erich Honecker, Erich Mielke, Willy Stoph und andere Verfahren wegen Amtsmissbrauchs und Korruption ein.
In Litauen wird die Führungsrolle der Kommunistischen Partei abgeschafft. Die SEW, der Ableger der SED in Westberlin, kündigt ihre Auflösung an. Es wird bekannt, dass am Vortag in Bulgarien 16 oppositionelle Gruppen den „Bund demokratischer Kräfte“ gegründet haben.
9.12.
Die Berliner Zentrale der Staatsicherheit registriert, dass von 13 Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit vier nicht mehr, eine kaum noch , fünf eingeschränkt und nur noch drei fast normal arbeitsfähig sind. Hinter diesen nüchternen Angaben steckt die unglaubliche Arbeitsleistung der Besetzter und der Bürgerkomitees, die in diesen Tagen und Wochen bis zur physischen und psychischen Erschöpfung tätig sind. Hunderte konspirativer Objekte werden aufgespürt, konspirative Wohnungen enttarnt, Telefon-, und Abhöranlagen ausgeschaltet, Akten geborgen und vor der Vernichtung bewahrt. Die sensationellste Entdeckung sind die Pläne für die Isolierungslager, die für die Opposition vorbereitet werden sollten. Im Allgemeinen versucht die Staatsicherheit nur mit Tricks und Täuschungsmanövern die Arbeit der Bürgerkomitees zu behindern. Nur die Geraer MfS-Bezirksverwaltung ruft zum Putsch gegen die friedliche Revolution auf. Ergebnislos, denn nicht mal die eigenen Genossen mochten diesem Aufruf folgen.
In Moskau entscheidet das Plenum des ZK der KPdSU über den allmählichen Übergang zur Marktökonomie.
Nach weiteren Demonstrationen und Streikdrohungen tritt der tschechoslowakische Staatspräsident Husak zurück.
Der Sonderparteitag der SED beginnt in Berlin. Die Mehrheit der Delegierten ist mit dem Willen angereist, die Partei aufzulösen. Vor allem der Wirtschaftsflügel macht sich für einen ehrlichen Neuanfang stark. Am ersten Tag distanzierte sich der Parteitag von der stalinistischen Vergangenheit der SED und der gesamten kommunistischen Bewegung. Dabei wird die Partei auch stehenbleiben.
10.12.
Als SED-Parteichef Hans Modrow merkt, dass er die Mehrheit der Parteitagsdelegierten nicht überzeugen kann, von der Auflösung der Partei Abstand zu nehmen, schiebt er einen Mann nach vorn, dessen rhetorisches Talent Rettung bringen soll: Gregor Gysi. Es gelingt. Gysi kann in einer langen Rede die Delegierten überzeugen, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Er gibt zu bedenken, dass bei einer Auflösung das Vermögen der Partei verloren gehen würde. Er erreicht, dass sich der Parteitag in 14 Tagen noch einmal treffen wird, um über den Fortbestand der Partei zu entscheiden.
Die Delegierten verabschieden eine Resolution, in der sich die SED beim Volk der DDR für die von ihr verursachten Krise entschuldigt. Gysi wird zum neuen Parteichef gewählt und macht in seiner Dankesrede klar, daß er gegen die Wiedervereinigung ist.
11.12.
In West-Berlintreffen sich im Gebäude des ehemaligen Alliierten Kontrollrates auf sowjetische Einladung die Botschafter der Vier Mächte, um die Entwicklung in der deutschen Frage zu beraten. Das Treffen findet später keine Fortsetzung.
Gysi gibt dem „Neuen Deutschland“ sein erstes Interview als Parteivorsitzender der SED. „Hart arbeiten für die Rettung des Landes und unserer Partei.“
In Bulgarien wird die führende Rolle der Kommunistischen Partei aus der Verfassung gestrichen.
12.12.
Endlich werden nach einem Amnestiebeschluss der Regierung die meisten politischen Gefangenen entlassen. Da es in der DDR aber angeblich keine politischen Gefangenen gibt, sondern nur Kriminelle, ist es eine allgemeine Amnestie, die auch Dieben und Betrügern zugute kommt. Ausgenommen sind Kapitalverbrechen und andere schwere Delikte. Nicht betroffen von der Amnestie ist ein Mann aus Thüringen, der in der Haftanstalt Brandenburg wegen mehrfachen versuchten Mordes in Zusammenhang mit einem versuchten bewaffneten Grenzdurchbruch sitzt. Er ist der Sohn eines Parteisekretärs und einer Staatsanwältin. Als Kind war er immer wieder von zu hause abgehauen. Seine Eltern ließen ihn in den Jugendwerkhof einweisen. Als er zu alt für den Jugendwerkhof geworden war, wollten, als ihr Sohn wieder wegen versuchter Republikflucht verhaftet worden war, seine Eltern eine dauerhafte Lösung. Eines Nachts wurde der junge Mann überraschend aus seiner Zelle geholt und in den Verhörtrakt gebracht. Hier lag ein fertiges Geständnis über einen geplanten bewaffneten Grenzübertritt bereit. Zuerst weigerte sich der Mann, das zu unterschreiben. Irgendwann wurde er von seinem Vernehmer überraschend mit Benzin übergossen. Dann zündete sich der Offizier eine Zigarette an und fragte: „Unterschreibst Du nun, oder soll ich sie fallen lassen?“ Der Mann unterschrieb. Er hat mir seine Geschichte selbst erzählt. Auf dem Dach der Justizvollzugsanstalt Brandenburg, auf dem sich rebellierende Häftlinge verschanzt hatten, als sie im Frühjahr 1990 die frisch gewählte Regierung der DDR auf ihr Schicksal aufmerksam machen wollten. Ich war von den Häftlingen als Vermittlerin angefordert worden. Der Mann kam übrigens erst 1991 nach längerer Überprüfung frei, weil sein Gnadengesuch an die Volkskammerpräsidentin, die gleichzeitig Staatsoberhaupt war, abgelehnt wurde. Zu den unbekannt gebliebenen Tatsachen gehört, dass etwa 30% der Insassen der Jugendwerkhöfe der DDR von Funktionärskindern bevölkert waren, die mit ihrem Elternhaus nicht zurecht kamen.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 8.12.09 auf der "Achse des Guten"

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