Doppeltagebuch 1989/2009 - 6. und 7. Dezember

6. Dezember.
Der gestürzte SED-Generalsekretär Egon Krenz tritt auch als Staatsratsvorsitzender zurück. Sein Nachfolger wird der LDPD-Chef Manfred Gerlach, der das Amt bis zur Konstituierung der ersten frei gewählten Volkskammer inne hat. Heute ist der kurzzeitige Hoffnungsträger übrigens Mitglied der überwiegend aus ehemaligen Stasileuten bestehenden „Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde“ und zeigt damit, wes Geistes Kind er immer gewesen ist.

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„Bild“ berichtet: „Die Honecker-Bande handelte mit Kokain“. Mit Waffen übrigens auch, wie wenige Tage zuvor aufgedeckt worden war.
Das „Neue Deutschland“ ist weniger sensationell: „DDR und BRD vereinbaren gemeinsamen Fonds für Reisemittel“ Damit können DDR-Bürger erstmals genug Geld für eine Reise eintauschen und sind nicht mehr auf Almosen von Verwandten, Bekannten Freunden oder Fremden angewiesen.
In Ostberlin treffen sich Bürgerrechtler mit dem Dalia Lama. In einem Pressestatement bekennen sie sich zu der chinesischen Demokratiebewegung und zur Solidarität mit dem tibetischen Volk.
Bei der Staatsicherheit dreht sich das Personal- Karussell. Fast alle Generäle werden durch jüngere Offiziere ausgetauscht. Die buchstäblichen Beförderungen in letzter Sekunde haben vor allem Folgen für die Pensionskasse im vereinten Deutschland.

7. Dezember
Nach den Besetzungen einiger Stasidienststellen hatte der neue Chef der Stasi Schwanitz den Befehl gegeben, die Aktenvernichtung einzustellen. Nun ordnet Ministerpräsident Hans Modrow persönlich an, mit der Aktenvernichtung fortzufahren. Die Bürgerkomitees alarmieren sofort die Bevölkerung . Es kommt wieder zu großen Demonstrationen. In einigen
Bezirksämtern wird die Bürgerkontrolle erneuert oder verstärkt. An manchen Orten kann die Vernichtung gestoppt werden. An anderen Stellen gelingt es der Stasi, die Bürgerkomitees hinzuhalten oder zu täuschen. Bereits versiegelte Räume werden wieder geöffnet, Staatsanwälte und Volkspolizei kolaborieren mit der Stasi. Vor allem die Zentrale in Berlin kann ungestört weiterarbeiten, weil der Besuch von Bürgerrechtsgruppen am 6. und 7. Dezember ohne Ergebnis bleibt.
Im Dietrich-Bonhoeffer- Haus in Ostberlin konstituiert sich der Zentrale Runde Tisch, unter tumulthaften Begleitumständen. Den Regierungsparteien SED, CDU.LDPD,DBD und NDPD mit je drei stimmberechtigten Teilnehmern, sitzen zunächst die neuen oppositionellen Vereinigungen Demokratischer Aufbruch, Demokratie jetzt, Grüne Partei, Initiative für Frieden und Menschenrechte, Vereinigte Linke und SDP mit je zwei Stimmen und Neues Forum mit je drei Stimmen gegenüber. Draußen vor der Tür rebellieren Frauen des vor wenigen Tagen gegründeten „Unabhängigen Frauenverbandes“ gegen ihre Nichtzulassung am Runden Tisch. Sie dürfen schließlich mit zwei Stimmen teilnehmen, die Regierungsseite wird als Ausgleich mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund verstärkt. So sitzen sich auf jeder Seite 17 stimmberechtigte Vertreter gegenüber. Die Bevölkerung indess ist vom Runden Tisch viel weniger angetan, als die Opposition. Vor dem Bonhoeffer-Haus zieht eine große Demonstration auf, die mit Pfeifkonzerten, Stasi Raus- Rufen und Protesten gegen die Wahlfälschung lautstark klar macht, was sie von den Verhandlungen hielt: nichts.
Während sich drinnen die Versammlung der bangen Frage widmet, ob die Demonstranten das Haus stürmen würden und was dann zu tun wäre, geht der Kelch draußen vorüber.
Aufatmend beginnen die Teilnehmer mit den Verhandlungen. Als erstes wird ein „Selbstverständnis“ des Runden Tisches formuliert. „Obwohl der Rundtisch keine parlamentarische oder Regierungsfunktion ausüben kann, will er sich mit Vorschlägen zur Überwindung der Krise an die Öffentlichkeit wenden. Er fordert von der Volkskammer und der Regierung rechtzeitig vor wichtigen rechts-, wirtschafts-, und finanzpolitischen Entscheidungen informiert und einbezogen zu werden. Er versteht sich als Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in unserem Land. Geplant ist, seine Tätigkeit bis zur Durchführung freier, demokratischer und geheimer Wahlen fortzusetzen.“
Mit dieser Erklärung ist die Machtkontrolle der Opposition zum ersten Mal institutionalisiert.
Auf dieser ersten Sitzung wird außerdem beschlossen, dass eine neue Verfassung ausgearbeitet, ein Wahl-, und Parteiengesetz formuliert und die Staatsicherheit unter gesellschaftlicher Kontrolle aufgelöst wird. Als Wahltermin wird der 6. Mai 1990 bestimmt.
Das Selbstverständnis legt die Teilnehmer der Verhandlung auf Kompromisse fest. Den Regierungsparteien wird nicht diktiert, was sie zu machen haben. In der Folge wird sich herausstellen, dass es den alten Machthabern allzu oft gelingt, ihre neuen Kontrahenten mit allen Mitteln über den Tisch zu ziehen.

Der Beitrag erschien zuerst auf Vera-lengsfeld.de

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