„Lehrbücher werden durch Computer ersetzt. Ich hoffe, dass wir in fünf Jahren keine Lehrbücher mehr haben werden.“ Diesen Satz äußerte vor fünfzehn Jahren der US-amerikanische Politiker und Lobbyist Newt Gingrich anlässlich einer Bildungsmesse in Atlanta. Der Wind, der körperliche Druckwerke fortfegen will, bläst seither auch in Europa. Was wird aus dem Buch? Diese Frage stellte ich vor kurzem einem Insider. Verlage inklusive der Zeitungsverlage stünden derzeit alle unter Druck, sagte er. „2011/12 war ich in den USA, das eBook hat dort schon längst Einzug gehalten. Die Studierenden haben alles auf ihrem iPad. Die Schulbuchverlage sind auch in der Umstellung begriffen.“
Die IT-Branche tarnt Werbung geschickt als pädagogische Fachinformation. „iBooks am iPad – Schulbücher der Zukunft?“ so die Überschrift in einer einschlägigen Website. Die Antwort wird aus praktischen Gründen gleich mitgeliefert. Eine über das Tablet gebeugte Schülerin jubelt: „So sollten alle Bücher gemacht sein!“ Ohne Zweifel gelten Kinder den Erwachsenen an Urteilskraft und Lebensweisheit heute als turmhoch überlegen. Lebenserfahrung und Weitsicht haben ausgedient.
Der Astronom und Lehrer Clifford Stoll hat in seinem Bestseller „LogOut – Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben“ schon vor Jahren vor dieser einseitigen Entwicklung gewarnt. Wo aber Kommerzielles im Spiel ist, kann sich die Vernunft kaum Gehör verschaffen. Geschickte Dauerpropaganda vernebelt die Gehirne, ungestümes Begehren dominiert den Fahrplan. Jenen Personenkreis, der das Buch ganz aus dem Unterricht verbannen will, bezeichnet Clifford unverblümt als „revolutionär“. In distanz- und kritikloser Technologiebegeisterung will man die Menschheit von der Mühsal des Lernens befreien. Bildung fördern durch Abschaffung von Büchern aus Papier? Was ist denn Bildung? Seit wann ist sie nur möglich mittels Bits und Bytes? Bildschirmsimulationen und moderne Erlösungsbotschaften haben eines gemeinsam: es mangelt ihnen an Bezug zur Realität.
Die digitalen Propheten „wollen uns glauben machen, dass Filme, Radio, Fernsehen und Computer unseren Kindern das Lesen beibringen, ohne dass sie je ein Buch in der Hand zu halten brauchen. Sie reden zwar davon, dass Lesen notwendig ist, wollen die Schüler aber zu Dingen bewegen, die nur ein Ersatz für das Lesen sind.“ Ersatz für Lesen ist Simulation. Schreibsimulation wird in der Grundschule bereits seit Jahren betrieben; die Methode heißt „Lesen durch Schreiben“. Mit wirklichem Schreiben hat das Gekritzel nichts gemein, es simuliert dieses bloß. Spätestens dann, wenn Tablets die Grundschulen erobert haben (was nur eine Frage der Zeit ist), wird auch die papierene Anlauttabelle durch eine elektronische ersetzt werden. Beim Schreibenlernen braucht der Schüler bloß den Buchstaben auszusprechen, und – Simsalabim! – erscheint das gewünschte Schriftzeichen auf dem Bildschirm. Endlich Schreibenlernen ohne untere Altersgrenze, ohne soziale oder geistige Einschränkung – also ganz barrierefrei! Zweijährige Krippenkinder können dann bereits ihre „Gedanken“ schriftlich auf dem Bildschirm mitteilen. Schon jetzt sehe ich die begeisterten Kommentare in den Medien.
Künftig wird womöglich jedes Kind und jeder Erwachsene einen elektronischen Schreibsklaven besitzen. Der erledigt alle schriftlichen Arbeiten auf Befehl. Der „Herr“ äußert nur seine Wünsche: Schreib dies, schreib das. Und natürlich liest der Sklave auch vor. Eine abwegige Zukunftsvision? Mit einem elektronischen Lesegerät könne der Besitzer überall und jederzeit seine Bibliothek mit sich führen und lesen, verspricht uns die Werbung für eBooks. Ausgerechnet jene Pädagogen, die sich selbst für besonders systemkritisch halten, treten ungewollt als Werbehelfer für die kommerzielle EDV-Branche auf, indem sie die Einführung elektronischer Geräte im Unterricht befürworten. Mit den Tablets könne man „überall und zu jeder Zeit lernen“ so der Lockruf der EDV-Jünger. Schüler, die dauernd lernen wollen? Gibt es die?
Ohne Frage kann mit Hilfe der Technik auch ernsthaft gelernt werden. Indes, die Begeisterung dürfte weniger dem Lerneifer entspringen als den Verlockungen des Spiels. Die Hervorhebung des Nutzaspekts dient nichts anderem als der Beschwichtigung des schlechten Gewissens. Es gibt niemanden, der nicht irgendwann der elektronischen Verführungskraft von Tablet und Smartphone erläge.
Wie streng ist dagegen doch das Buch! Es lässt sich nicht missbrauchen. Jede Botschaft in einem Buch ist an einen physischen Ort gebunden. Nichts verliert sich im virtuellen Raum. Bücher fordern, Computer verführen. Das ist die ganze Wahrheit. „Die Liebe zum Buch, das Bedürfnis zu lesen, kann aber nicht entstehen, wenn man auf einen Bildschirm starrt. Es wird eine Generation gut funktionierender Legastheniker kommen, für die ein Buch nichts anderes ist als Druckerschwärze auf eingetrocknetem Holzbrei.“ So weit die düstere Vision von Clifford Stoll. Darüber sollte man nachdenken.
Kommentare zum Artikel
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Für mich ist die Vorstellung grauenhaft, dass Bücher in der Zukunft nur noch ein Schattendasein führen.