Die Theorie hinter dem Zeitgeist der Beliebigkeit. Eine Buchbesprechung

Alexander Ulfig, Wege aus der Beliebigkeit: Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming. Baden-Baden: Deutscher Wissenschafts-Verlag 2016. Taschenbuch. Euro 24,95.

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Der Philosoph Daniel von Wachter unterschied in einem Vortrag vor drei Jahren zwischen zwei Arten von „Philosophie“: es gebe einmal die „literarische oder existenzielle Philosophie“, die „oft dunkel, geheimnisvoll, kryptisch, quasireligiös“ sei, sich „oft unklar und unscharf ohne Definitionen“, dafür aber „mit langen Sätzen“ ausdrücke. Diese Art von Philosophie stelle „keine klare Frage“, formuliere „keine klare These“, bringe „keine Argumente“ und „keine Untersuchung der alternativen Positionen“. Von Wachter nennt als Beispiele Sartre und Camus, die vor allem Literatur produziert haben, ferner Nietzsche, der kaum Argumente bringe, sowie Heidegger, dessen „Wortbrei“ kein Mensch lesen könne, aber auch Hegel, der kaum klare Thesen nenne und gegen deren Gegenthesen verteidige.

Dieser Art „Philosophie“ steht die „wissenschaftliche Philosophie“ gegenüber, die „Antworten auf bestimmte Fragen“ sucht und dafür „klar, präzise, gründlich, detailliert“ mit „Argumenten und Gründen“ operiert, dabei klare Thesen“ aufstellt und „auch die alternativen Positionen untersucht“. Von Wachter nennt als Beispiele Aristoteles und besonders die christlichen Denker des Mittelalters, namentlich Thomas von Aquin. Das neue Buch des Philosophen und Soziologen Alexander Ulfig mit dem Titel „Wege aus der Beliebigkeit gehört glücklicherweise eindeutig zur wissenschaftlichen Philosophie. Er bietet in ihm, wie der Untertitel präzise sagt, klare „Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming“, also auch und gerade politisch sehr einflussreiche Strömungen der Gegenwart.

Das Werk besteht aus einer Einleitung und zwölf Abhandlungen zu unterschiedlichen Themen. Offenkundig handelt es sich um eine Aufsatzsammlung und keine durchgehende Monographie, doch ist Ulfig dennoch eine Vereinheitlichung gelungen. Beim Lesen findet sich ein roter Faden und der Bezug zu den genannten Hauptthemen. Ulfig formuliert klar und auch für Laien verständlich; beispielhaft sei die erste Abhandlung vom „Mythos von der »sozialen Konstruktion«“ genauer vorgestellt.

Ulfig bringt nach einer Übersicht über seinen Argumentationsgang seine These vor, nämlich dass es keine sozialen Konstrukte gebe, wie das die Postmoderne z. B. beim soziokulturellen Geschlecht, dem Gender, behauptet. Er definiert zunächst den Begriff der „Konstruktion“ und weist nach, dass der Begriff von den Vertretern der Gender Studies, deren zu seiner konträre Positionen Ulfig ausführlich referiert, unklar verwendet wird. Danach geht er begrifflich in die Tiefe und führt aus, dass „Konstruktion“ mit „Produkt“ verwechselt werde, d. h. wir seien zwar entgegen der Behauptung der Genderisten nicht in der Lage, unsere Identität frei zu konstruieren, sondern seien ein Produkt der Sozialisation, was uns aber keineswegs komplett determiniere. Schließlich zeigt Ulfig die Grenzen des sozialen Konstruierens (oder besser von dessen Konzeption) auf, der jeder Bezug auf die empirische Realität fehle, wodurch eine wissenschaftliche Überprüfbarkeit anhand dieser Realität unmöglich werde. Trotzdem behaupten die Vertreter der Gender Studies im Einklang mit der Postmoderne, es handle sich bei ihren Vorstellungen um Wissenschaft, was nur möglich ist, weil auch wissenschaftliche Theorien als „Konstruktionen“ und damit gleichwertig aufgefasst werden, egal ob sie überprüfbar sind oder nicht. Die Politik akzeptierte diesen Nonsens, was zur Einrichtung von Lehrstühlen für Gender Studies an den Universitäten führte. Diese dienen der Durchsetzung des politischen Programms des Gender-Mainstreamings, d. h. nicht der bislang eigentlich angestrebten universellen Gleichberechtigung gesellschaftlicher Gruppen, sondern ganz offiziell einer partikularistischen Lobbypolitik für eine bestimmte Gruppe von Frauen. Zwei weitere Kapitel schließen direkt daran an, um Klientelpolitik durch mehr innerparteiliche Demokratie zu verhindern  und eine an Qualifikation orientierte Stellenvergabe zu fordern.

Damit zeigt sich eine durchgehende Tendenz des Buches, über die wissenschaftliche Philosophie aktuelle politische Probleme zu behandeln, indem deren philosophische Ursachen aufgedeckt werden: Ulfig bietet die Theorie hinter dem Zeitgeist. Ulfig argumentiert überhaupt im ganzen Buch universalistisch (so auch für universelle versus partikular-islamische Menschenrechte) und für das Individuum gegen kollektivistische Vereinnahmungen, wie sie z. B. die überwunden geglaubte Beurteilung nach dem Geschlecht darstelle, was Männern eine Kollektivschuld für die angebliche Misere der Frauen zuweise. Ulfig tritt für die Werte der Aufklärung ein, die von einflussreichen postmodernen Denkern wie Foucault und Lyotard geleugnet werden; er verteidigt die Objektivität (und damit die Möglichkeit von Wahrheit), die dem relativistischen Denken zum Opfer gefallen sei, wie auch die Hierarchie von wissenschaftlichen Paradigmen (und Kulturen), die keineswegs gleichwertig seien, wie das die Postmoderne behaupte.

Am bedrohlichsten dürfte für unsere Zeit der postmoderne Nihilismus und Anti-Humanismus sein. Aus der Leugnung von allgemeinverbindlichen Werten resultiere, so Ulfig, die Rechtfertigung einer parteiischen Politik nur für bestimmte Gruppen, aus der Ablehnung des Humanismus wiederum die Leugnung der menschlichen Freiheit und letztlich Würde. In Verbindung mit der unterentwickelten Ethik des Marxismus, von dem die Postmoderne abstammt, ergebe sich daraus eine Gewaltbereitschaft der Linken bei der Durchsetzung ihrer partikularistischen politischen Ziele, ironischerweise im Sinne von Nietzsches „Wille zur Macht“.

Ulfig gelingt in seinem neuen Buch überzeugend eine nachvollziehbare Diagnose: Unsere Zeit krankt an der Beliebigkeit. Insofern gehört sein Buch im weitesten Sinne zur Kulturkritik. Seine Therapie besteht im Rückgriff auf die Werte der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, des „Zeitalters der Vernunft“, die seiner Untersuchung nach teils missverstanden, teils verlassen worden seien. Ob die Aufklärung wirklich noch als Remedium für unsere Zeit taugt, wird von nicht Wenigen, auch dem Rezensenten, bezweifelt. Michel Houellebecq z. B., sicher kein Philosoph, aber der vielleicht bedeutendste Literat unserer Zeit, hat knapp verkündet, die Aufklärung sei gescheitert. Ulfig würde das möglicherweise mit der Begründung zurückweisen, die Aufklärung sei noch nicht so wie von den Aufklärern beabsichtigt zum Zuge gekommen. Meines Erachtens ist viel wichtiger, dass Ulfig mit nüchternen Argumenten, also mit den Mitteln der uralten wissenschaftlichen Philosophie, zeigt, dass die postmodernen Thesen falsch sind. So lange dieses Ergebnis nicht breiter akzeptiert wird, schwächt die Dekonstruktion von Werten (wie dem Leistungsprinzip und den Menschenrechten) und die Relativierung von Wissen unsere Gesellschaft, die dadurch immer undemokratischer und anfälliger für Angriffe von Ideologien wird. Diese Gefahr hat Ulfig auf einem hohen gedanklichen und argumentativen Niveau erkannt und benannt, weshalb das Buch unbedingt allen politisch interessierten Lesern zu empfehlen ist.

 

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Gernot Radtke

Sehr schöne, völlig uneitle Besprechung eines, wie man aus der Rezension erfahren darf, offensichtlich bedenkenswerten Buches. Nicht der Rezensent stellt sich, seinen Gegenstand als ‚Steinbruch‘ nutzend, vor, sondern er informiert möglichst akzentuiert und seine Grundkategorien benennend (hier: literarisch-orakelnde versus wissenschaftlich-begründende Philosophie), indem er ein politisch besonders relevantes Beispiel herausgreift. So geht, wenn ich Naseweis mir dieses Urteil erlauben darf, Rezension. Ein schlechtes Buch bespricht man erst gar nicht oder – bei der Hybris verfallenen Autoren – mit einem gediegenen Verriß; ein gutes Buch so, daß vor allem seine Stärken herausgestellt werden und ohne Verzug die nächste Buchhandlung aufgesucht wird. – Eine kleine Nörgelei dennoch: Bei der Positionierung der wissenschaftlichen Philosophie (‚Bedingung der Möglichkeit‘ von Theorien welcher Art auch immer) hätten Sie, verehrter Prof. Kovacs, deren Fixstern und ‚schwarzes Loch‘ für allen Relativismus erwähnen dürfen/müssen: Immanuel Kant. Der hat bekanntlich einen Begriff der Aufklärung herausgearbeitet und ‚gelebt‘, einen reflexiv-systematischen, den man mit dem historisch-hermeneutischen nicht in denselben Topf verrühren darf, wie es die marxistischen Dialektiker aller Couleur zu tun pflegen. – Über Dr. Ulfigs Buch, das ich noch nicht besitze, habe ich damit noch nichts gesagt, aber da ich einen Teil seiner Publikationen schon mit Zins und Zugewinn gelesen habe, werde ich hier sehr bald ein vernunftgebotenes und pekuniär zugelassenes Investment tätigen. Danke Ihnen, verehrte Herren, für eine Entreicherung, die neben den wohlbekannten anderen nur eine weitere Bereicherung, diesmal eine echte, sein kann!

Gravatar: Thomas Rießler

Theoretische Philosophie ist Opium für die Intellektuellen, Praktische Philosophie dagegen ein Instrument zur Unterdrückung des Volkes unter dem Banner der Aufhebung von Diskriminierung. Heutzutage mag das Elend der Philosophie noch etwas extremer als in der Antike sein, aber auch schon Paulus hatte im Römerbrief für die von Ihnen geschätzten Philosophen der Antike nicht viel übrig.

Bei Ulfigs Blog zu dem Thema viel mir insbesondere seine Beobachtung auf, dass die Neomarxisten in ihren Schriften ihre grundlegenden Behauptungen nicht beweisen, sondern einfach als gegen voraussetzen, was natürlich nicht nur unwissenschaftlich, sondern aus intellektueller Sicht geradezu töricht ist. Bei diesen Leuten in Marxscher Tradition geht es aber auch gar nicht um Wahrheit, sondern um die Umgestaltung der Gegenwart und genauso verhalten sie sich ja auch. Ich wundere mich eigentlich nur noch darüber, dass die „normal gebliebenen“ Menschen, dies nicht zur Kenntnis nehmen und sich stattdessen auf sachliche Diskussionen mit diesen Leuten einlassen („Who's more foolish, the fool or the fool who follows him?“).

Gravatar: Hebel

Wenn man die hilflose Antwort der norwegischen „Gender-Experten“ auf die Fragen des das Gender-Paradoxon abklärenden Harald EIA betrachtet (vereinfacht): „Wir haben die bessere Theorie, daher kann die Empirie nicht stimmen“ sieht man zwar den Unsinn und die Unwissenschaftlichkeit, aber nicht die Gefahr des Genderismus für Frauen und Kinder. Die Überredungs-Ideologie, dass Gleichberechtigung nur durch Aufhebung der Geschlechtrollenunterschiede möglich sei, kann bei Frauen mit den anderen selbst erlebten motivationalen Grundlagen zu inneren Konflikten und damit zu Depression und anderen ernsthaften psychischen Problemen führen. Siehe auch in den hierzulande weitgehend unbekannten Studien z. B. von Prof. Annica Dahlström, Uni Göteborg: Innerhalb der letzten 15 – 20 Jahre einen Anstieg psychischer Erkrankungen bei schwedischen Mädchen um 1000 Prozent, Depressionen um 500 Prozent; Suizidrate finnischer Mädchen ist die höchste in Europa
Die einseitig theoretisierende Gender Mainstreaming-Ideologie begeht den fundamentalen Irrtum, die als entscheidende menschliche Gegebenheit vorliegenden neurophysiologischen Unterschiede in den Gehirnen von Frau und Mann völlig auszuklammern bzw. fälschlicherweise zu behaupten, diese festgelegten Gegebenheiten um– bzw. dekonstruieren zu können.
[Einzelheiten bezüglich unüberbrückbarer Unterschiede in den Gehirnen von Frau und Mann und über „Kinder – Die Gefährdung ihrer normalen (Gehirn-) Entwicklung durch Gender Mainstreaming“ sind in dem Buch: „Vergewaltigung der menschlichen Identität. Über die Irrtümer der Gender-Ideologie, 6. Auflage, Verlag Logos Editions, Ansbach, 2014: ISBN 978-3-9814303-9-4 nachzulesen]

Gravatar: karlheinz gampe

Die Lobby des Genderwahn trifft bei einer Lobby-Kanzlerin Merkel genauso auf offene Ohren wie die Asyllobby oder weiland die kriminellen Bankster und die Autolobby, welche unsere Luft verseucht. Merkel steht für Brunnen- und Luftvergiftung ! Trinkwasser verseucht die Agralobby !

Gravatar: Adorján Kovács

@Wolf Köbele
Von Wachter nennt mehrere mögliche Eigenschaften von Texten "literarischer Philosophen". Nicht alle müssen auf jeden dieser Autoren zutreffen. Richtig ist sicher, dass z. B. Camus keine klare These aufstellt, für die er argumentiert. Richtig ist sicher auch, dass Heidegger Kunstworte verwendet, die es nicht gibt, und Hegel keineswegs sorgfältig seine Positionen mit konträren Positionen vergleicht, wie es wissenschaftlich richtig wäre. Kant, da haben Sie recht, wird in der angelsächsischen Fachwelt, die von Wachter im Gegensatz zu deutschen Philosophen gut überblickt, als jemand gesehen, dessen Thesen zu einem Großteil überholt sind. - - - Ulfig, das wollte ich sagen, stellt klare Thesen auf, argumentiert wissenschaftlich, ist verständlich. Dafür sollte man dankbar sein. Sie sollten Ulfig nicht deshalb nicht lesen, weil sie vor Größen erstarren, die keineswegs sakrosankt sind.

Gravatar: Luismanblog

Ja,ja, Herr Köbele, wir kennen diese Argumentationslinie schon. Jeder, der mit den Postmodernisten, mit Marx oder der Frankfurter Schule nicht übereinstimmt hat sie angeblich entweder nicht gelesen oder ist zu dumm sie zu verstehen. Der Begriff 'Wortbrei' ist schon ganz recht, wenn man sich diese Schwafel-Philosophen zu Gemüte führt. Die Einschätzung bzgl. Nietzsche teile ich nicht, vor allem auch weil er bis heute empirisch recht behielt.

DER Humanismus und DIE Aufklärung sind aber auch keine klar definierten und abgrenzbaren Philosophien. Jeder betreibt hier sein eigenes cherrypicking, auch Ulfig. Dennoch ist Ulfigs Weg sehr viel vielversprechender, da mit Realität, Argumenten und Empirie gearbeitet wird. Im Gegensatz zu den Schwafel-Philosophen, die sich illusorischen Idealen hingeben und sich der menschlichen Natur und Psychologie verweigern.

Gravatar: nLeser

Interessantes und wichtiges Buch!
(Ulfig hat übrigens auch über Kant, Nitzsche u.a. geschrieben.)

Gravatar: Elmar Oberdörffer

Vielen Dank, Herr Kovács, für die Vorstellung und Besprechung dieses interessanten Buches. Ich werde es kaufen und lesen.

Gravatar: Wolf Köbele

Nach dem ersten Absatz brauche ich gar nicht weiterzulesen. "Lange Sätze", Unverständlichkeit bei Sartre und Camus? Er hat sie nicht gelesen. Unklarheit in Hegels Thesen? Er hat ihn nicht gelesen. "Wortbrei" bei Heidegger? Er hat ihn nicht zu verstehen versucht. Größen, Vorbilder abzulehnen, weil man sich keiner Mühe unterziehen will - das scheint für "wissenschaftliche Philosophen" charakteristisch. Interessant wäre zu lesen, was Wachter über Kant zu mosern weiß. Vermutlich kennt er den Namen nicht.

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