Die Geschichte der Vorstellungskraft von C. S. Lewis

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Alan Jacobs. Der Mann aus Narnia – sein Leben und seine Welt. St. Johannis: Lahr, 2007. 492 Seiten. Gebraucht ca. 6 Euro.

Tränen am Schluss, das gibt es selten bei einem Buch. Die Beschreibung von Lewis‘ Denk- und Lebensgeschichte berührte mich sehr. Die Schilderung der Szene, als Jack in seinen letzten Tagen im Krankenhaus keinen Besucher mehr erkannte und die Tochter seiner langjährigen Lebensgefährtin Mrs. Moore, Maureen, ins Zimmer trat, trieb mir die Tränen in die Augen. Nicht nur murmelte der scheidende Literat ihren Namen, sondern er sprach sie korrekt als Erbin eines Barons an. „Wie könnte ich ein Märchen vergessen?“ (451)

Üblicherweise bin ich skeptisch bei Übersetzungen. Das englische Original stand schon einige Jahre bei mir im Gestell. Ich hatte mich durch die ersten zwei Kapitel gekämpft und es dann wieder zurückgestellt, fest entschlossen, eines Tages noch den Rest zu lesen. Diesen Entschluss setzte ich mit der deutschen Übersetzung um. Bei Christian Rendel war ich gut aufgehoben. Rendel hat schon eine Übersetzung der Narnia-Chroniken besorgt. Der Schutzumschlag des Buches und der schöne Satz rundeten den Lesegenuss ab. Spätestens nach diesem Buch (ein anderes zur Geschichte der Erbsünde habe ich schon gelesen, ein weiteres über das „Lesen im Zeitalter der Zerstreuung“ steht auf der Leseliste) stimme ich dem Urteil einiger Kritiker zu: Der kürzlich von Wheaton abgeworbene Literaturwissenschaftler und Englischprofessor Alan Jacobs hat hier eine feine Biografie verfasst.

Jacobs setzte sich in diesem Werk die Hauptaufgabe zum Ziel, „ein geistiges Leben zu beschreiben, die Geschichte einer Vorstellungskraft“ (9). „Der Keim dieses Buches ist eine Frage: Was für ein Mensch schrieb die Chroniken von Narnia?“ (ebd.) So bestand die Aufgabe von mir als Lesendem darin, die Bezüge von Lewis‘ Lebens- und Vorstellungswelt immer wieder mit den Narnia-Chroniken zu verknüpfen. Ich kennzeichnete mir durch das ganze Buch wichtige Bezugnahmen. Es wäre eine Aufgabe für sich, in jedem der zwölf Kapitel die Verknüpfungen herauszusuchen und zu studieren (z. B. 1. Kapitel – 41ff; 2. – 80ff; 4. – 131ff; 5. – 175; 6. – 218; 7. – 229; 8. – 271ff, 282f; 9. – 322f, 326; 11. – 390; 12. – 448).

Ich hatte bislang einige Werke von Lewis gelesen. Doch mir fehlten der Gesamtzusammenhang und die Entstehungsgeschichte der einzelnen Bücher. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Lewis 36 Bücher geschrieben. Jacobs hielt für mich eine unglaublich tröstliche Botschaft bereit: Lewis schrieb stets unter grossem Druck und Eile. Es lasteten nämlich viele Verpflichtungen auf ihm. Er war als Tutor in Oxford jahrzehntelang damit beschäftigt, langweilige Aufsätze seiner Studenten durchzulesen und Vorlesungen zu geben. Gewissenhaft beantwortete er eine zunehmende Zahl von Briefen, man müsste eher von einer Briefflut reden. Zudem lebte er über Jahrzehnte mit einer um 30 Jahre älteren Frau, die ihn als Haushalthilfe einsetzte, und seinem frühpensionierten Bruder zusammen. Das führte dazu, dass Lewis in grosser Eile schreiben musste. In den Narnia-Chroniken konnten so gewisse Stellen und Gegensätze zeitlebens nie ausgebügelt werden – sehr zum Missfallen seines Kollegen J. R. R. Tolkien.

Eine wesentliche Funktion dieses Buches war zudem die Ernüchterung. Lewis kämpfte sich durch ein beschwerliches Leben. Nicht nur starb seine Mutter, als er noch klein war. Zu seinem Vater unterhielt er bis zu dessen Tod ein sehr spannungsgeladenes Verhältnis. Wie schon angetönt, verbrachte er die Zeit vom 19. bis zum 51. Lebensjahr an der Seite einer Frau, die seine Mutter hätte sein können. Nicht nur blieb diese lebenslang Atheistin; Lewis konnte seine intellektuellen Interessen nie mit ihr teilen. Lewis schwieg sich auch gegenüber seinen Nächsten über diese Beziehung aus. Zumindest wissen wir, dass er anfänglich in sie verliebt gewesen war. Lewis‘ Einsatz an der Front im ersten grossen Krieg (Erster Weltkrieg) hinterliess bleibende Eindrücke, sprich Albträume. Lewis hatte zwei linke Hände. Wir würden ihn wohl in Teilbereichen des Lebens als lebensuntauglich bezeichnen. Seine Eintrittsprüfung in Oxford hat er wegen fehlenden Mathematikkenntnissen nicht bestanden. Noch ein paar Informationen gefällig? Über Jahre erhielt er keine Anstellung in Oxford, so dass er nach einem Abschluss in Philosophie noch Englisch studierte. Erst später erhielt er eine Tutorenstelle. Man verweigerte ihm eine Professorenstelle, bis er Mitte Fünfzig einen Lehrstuhl in Cambridge erhielt. So musste er die grössere Zeit seines Lebens mit einem kärglichen Einkommen auskommen. Die Vielfachbelastung führte zu einem Zusammenbruch, als er rund 50 Jahre alt war. Lewis wusste selbst, dass er zu einem Schlag Menschen gehörte, die schnell altern würden. Lewis wurde knapp 65 Jahre alt. Seine kurze Ehe mit der geschiedenen Joy, gegen das anglikanische Kirchenrecht von einem Priester vollzogen, war vom ständigen Auf und Ab ihrer schweren Krebserkrankung gekennzeichnet. Dass sein Herz zunehmend schwächer wurde und es den Ärzten gegen Ende des Lebens verunmöglichte, die vergrösserte Prostata zu operieren, führte dazu, dass er in Cambridge schon mal mit einem Katheder vorlesen musste.

Diese weniger bekannten Fakten aus dem Leben von Lewis wären unvollständig, wenn ich nicht noch einige sonnige Facetten hinzufügen würde. Was wäre aus Lewis geworden, wenn er nicht in einem Haus voller Bücher und viel freier Zeit aufgewachsen wäre? Was hätte alles gefehlt, wenn er nicht vom äusserst begabten Tutor Kirk über Jahre Privatunterricht erhalten hätte? Dieser hatte ihn nicht nur in Literatur und alten Sprachen, sondern auch in sokratischem Dialog und in Debattierkunst trainiert; Fähigkeiten, die für sein späteres Leben unentbehrlich waren. Was wäre alles an Schriftlichkeit verloren gegangen, wenn sein Bruder Warnie nicht über Jahrzehnte mit ihm im gleichen Haus gelebt hätte und sozusagen als sein Privatsekretär die Schreibmaschine bediente? Warnie hat riesige Teile seiner Korrespondenz verschriftlicht. Wer hätte gedacht, dass Lewis’ bestes fachliches Werk, an dem er 20 Jahre arbeitete, ein Lehrbuch über die englische Literatur des Mittelalters und der Renaissance, auf seiner ungeheuren Lesetätigkeit beruhte? Er hatte alle (!) Bücher zum Thema aus der Oxforder Bibliothek studiert. Wie rührend kümmerte sich Lewis um die vielen Briefeschreiber! Tausende von seelsorgerlichen Briefen wurden verfasst. Unter der Last des ständigen Schreibens brach Lewis fast zusammen. Oder wer wüsste, was ohne den unangenehmen Auftrag, während des Zweiten Weltkriegs für BBC die religiösen Sendungen einzuspielen, entstanden wäre? Das Buch „Mere Christianity“ ist Frucht seiner vier zwischen 1939 und 1944 ausgestrahlten Sendereihen. Lewis musste dafür manche Nächte aufbleiben bzw. im Schlafwagen unterwegs sein. Oder wer kann ermessen, was ohne den Kreis der „Inklings“, des informellen Debattierklubs in Oxford, alles an Ideen verloren gegangen wäre? Es hat mich tief beeindruckt, dass Lewis über weite Strecken sein gesamtes Einkommen als Schriftsteller verschenkte. Seine Grosszügigkeit ging einher mit seiner kindlichen Vorstellungskraft und Treuherzigkeit.

Natürlich fehlen die irritierenden Stellen im Buch nicht. Lewis fühlte sich beispielsweise stark vom Okkulten angezogen (so ähnlich wie G. K. Chesterton auch). Er pflegte engen Kontakt zum berühmten Schriftsteller Charles Williams, über den privat nicht viel Gutes zu berichten ist. Sein Umgang mit Alkohol und anderen Genussmitteln ist etwas, worüber man geteilter Ansicht sein kann. Hier neige ich dazu, seiner Betonung der Leiblichkeit und des freudigen Genusses eine positive Seite abzugewinnen. Lewis wollte nie Theologe sein. Viel mehr sind seine apologetischen Werke aus der Not heraus entstanden, dass kaum ein Priester die drängenden Anliegen der Zeit in Beziehung zu den Antworten aus Gottes Wort zu setzen vermochte. Ich kann Lewis‘ Beschreibung der Hölle nicht gänzlich folgen, eben so wenig seiner Definition der menschlichen Willensfreiheit (in Bezug auf das Heil). Mir war es fremd, seiner buchstäblichen Übertragung des Schmerzes der anderen Person auf die eigene zu folgen. (Er bat darum, dass die Schmerzen von Joy auf ihn übergingen.) Es wären noch einige Punkte hinzuzufügen. Auch die Ideen aus der Feder von C. S. Lewis müssen im Licht von Gottes Wort überprüft werden.

Andererseits habe ich sehr viel von Lewis gelernt. Wer hat mit einer vergleichbaren Inbrunst den moralischen Gottesbeweis für die Zeit der Moderne geführt? Wer hat so nachdrücklich wie er darauf hingewiesen, dass die Moderne die Welt entzaubert hatte? Zusammen mit Tolkien und Chesterton verfasste er wunderbare Literatur, die bis heute von Christen und dem Glauben fernstehenden Menschen gleichzeitig gelesen werden. Wem gelang es so gut wie Lewis, komplexe Sachverhalte in ansprechende und einprägsame Bilder zu packen? Wer setzte sich so wie Lewis – seiner Zeit voraus – für die Rehabilitierung des „dunklen Mittelalters“ ein? Lewis inspirierte mich, von der täglichen Hetze nach den neusten Informationen abzusehen und mich vielmehr auf ein regelmässiges Studium der alten Klassiker zu fokussieren. Wer könnte den Seitenwechsel besser nachvollziehen als Lewis vollziehen, wenn er in „Dienstanweisung an einen Unterteufel“ Überlegungen aus der anderen Kommandozentrale verrät? Lebensgewohnheiten wie der tägliche Spaziergang und das Morgengebet, durch das er den gesamten Psalter auswendig lernte, sind bewundernswert. Seine Gebetsliste wurde immer wieder so lange, dass Lewis sie nicht mehr durchbrachte und kürzen musste.

Mir gab das Buch einen „Schub“, mich an weitere Werke von Lewis heranzumachen. Die weniger bekannten Werke (wie z. B. Die böse Macht oder Flucht aus Puritanien) sind von Jacobs gerade so berücksichtigt wie seine bekannten apologetischen Werke und die Narnia-Chroniken. Die Idee setzt sich in mir fest, selber einen Debattierklub zu gründen. Meine Söhne müssen unbedingt diese Kunst erlernen, deren Fehlen in unserem Kulturkreis sich so schmerzlich spürbar macht. Wer vermag einem Argument zu folgen, seine Einwände gründlich darzulegen und zu einem sauberen Schluss zu gelangen? Diese verlorene Kunst uns wieder anzueignen ist ein Gebot der Stunde.

Erschien zuerst unter hanniel.ch.

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